David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Klassikeralben britischer Populärmusik, Teil 3. Heute: The Rolling Stones – „Aftermath“ (1966)

von David Wonschewski

Okay, ich zeige mich geläutert. Und überzeugt. Es gibt keine linke Cancel Culture. Denn gäbe es eine solche, Himmel, die Rolling Stones im Generellen und das großartige Album „Aftermath“ von 1966 im Besonderen, ach, die schwämmen längst erobererstatuengleich in der Themse. Tun sie aber nicht. Im Gegenteil, junggebliebene Alt-68er klatschen, alt geborene Jung-68er sowieso, sogar die Frauen schmachten – passt also. Warum auch immer. Denn hört man sich das Werk mit den Ohren des Jahres 2023 an, so ist das alles schon sehr aus einer Zeit, in der weiße Bengel sich noch für die Obergeilos hielten und glaubten Frauen ungestraft durch den Kakao ziehen zu dürfen. Gut, das ist noch immer so und funktioniert auch weiterhin, wie uns Rockstargeneration auf Rockstargeneration und Groupiehorde auf Groupiehorde eindrucksvoll beweisen. Aber bis ins hohe und höchste Alter und so, dass auch Kerle entzückt sind, von den Kritikern ganz zu schweigen? Meine Fresse. Dafür muss man musikalisch echt was gerissen haben.

Und das haben sie. Verdammte Axt.

Überlegt man sich das mit ein wenig zeitlichem Abstand, so traten die Stones eigentlich in jedes Fettnäpfchen, in das man als Kerl treten kann, seit Freunde der Wokeness so verdammt fettnapfverteilfreudig sind. Geht schon beim Stil los, den sie sich bekanntlich frech beim Blues abschauten, farbige Genre-Heroen wie Muddy Waters stehen bis heute im richard’schen Pantheon. Nur dass dessen Genialität global gesehen immer ein Geheimtipp blieb, bei der weißen Weltgemeinschaft sowieso. Und dann kamen die Stones, lauschten, moppsten, Gold und Girls en masse folgten. Unsere Elterngeneration ( ich bin Baujahr 77) war wie jede Elterngeneration zwar doof, aber so doof wie wir und unsere Kindergeneration eben doch nicht. Die haben schon noch genau hingeschaut, bevor sie die Sirenen angeknipst, die Anstandsbellos losgeschickt haben. Ich möchte gar behaupten: Der Erfolg der Stones gründet darauf, seit jeher woke gewesen zu sein, nur halt ohne die heutige Verkrampfung, Akademisierung, Opferikonisierung. Ein Ansatz, der bis heute funktioniert: Eine Wokeness, die noch immer nicht im Gewand einer Ersatzkirche daherkommt.

Und ja, natürlich ist kulturelle Aneignung am Beispiel der Stones plump und arg eindimensional dargestellt, doch es geht ja nicht um die nuancenreiche Ausgewogenheit von David Wonschewski. Sondern um das eher zu Plumpheit neigende Vorgehen der Damen und Herren Fettnapfverteiler aus dem Reiche woke. Und ich erwähne es auch nur, da erste Anstalten schon gemacht wurden. Darum hier direkt die Gegenüberlegung: Denn dass die Stones nach frühen Cover- und Kopierjahren mehr und mehr ihren eigenen Stil fanden und gerade damit und eigenen Kompositionen so verdammt erfolgreich wurden, kann schwerlich bestritten werden. Auch ist die Frage, ob die Stones der Blues-Community in Summe nicht womöglich mehr Fans und Plattenverkäufer zugeführt haben als andersherum sehr legitim. Ich zumindest habe meine Sonny Boy Williamson-, Muddy Waters- oder auch Jimmy Reid-Scheiben nur im Schrank, weil mir bei „Aftermath“ seit jeher der Hut wegfliegt. So woke wie die Rolling Stones macht Typen wie mich sonst niemand. Ja, ich habe lauter Blueszeug da, nur dank der Rolling Stones. Weil ich wissen wollte, wo dieses, mit Verlaub, geile Zeug herkommt. Wenn man Mick Jagger heißt, aus Dartford in der Grafschaft Kent stammt und Mitte der 60er Jahre eigentlich kurz davor ist einen coolen Abschluss an der London School of Economics zu machen. Dann aber abbricht, um, tja, unter anderem so eine Scheibe wie „Aftermath“ rauszuhauen. Bei der David Wonschewski 60 Jahre später in Münster-upon-Aasee die Haube wegfliegt. Mir doch egal, wenn das neuerdings unter kultureller Aneignung läuft. Für mich ist es das Wesen der Kunst, dem Erwartbaren auszuweichen, das Unmögliche anzustreben. Nichts ist so authentisch wie das starrköpfig und willentlich aufgesetzte, wie Pulp-Sänger Jarvis Cocker sinngemäß jüngst sagte. Wenn hätten die Stones denn sonst imitieren sollen? Paul Anka?

Ja, nicht nur Futter für weiße Antirassisten des neuen Jahrtausends, auch eine deftige Portion Misogynie findet sich auf dem Album. Und nein, nicht zwischen den Zeilen oder in B-Songs. Sondern in Knallern wie „Under My Thumb“, Klassikern wie „Stupid Girl“. Beides Lieder, die Jagger textete, als er es erstmalig leid war permanent auf Groupies reinzufallen. Schon klar, in Zeiten, in denen ein Rammstein-Sänger wegen seiner Behandlung von Groupies unter zumindest moralischer Anklage steht, klingt diese Formulierung irgendwie falsch herum. Aber sage das mal einem jungen Jagger, der damals keinen Schritt gehen kann, ohne dass ihm junge Frauen an die Wäsche wollen, sich auch nie zu blöde sind bis zum get no (satisfaction, gewissermaßen) zu erniedrigen. Die ansteigende weibliche Bereitschaft männliche Idole anzuhimmeln verhielt sich schon immer antiproportional zur Bereitschaft eben dieser Männer, dem Ganzen mit Respekt begegnen zu können. Ich glaube ja Groupies sind geil, solange man keine hat. Michael Jackson hat aus dieser Erkenntnis dereinst „Billie Jean“ gemacht (nachlesen? HIER), die Musikgeschichte ist voll mit Songs darüber, es passt nur nicht ins Klischee, das jeder will, der nie Rockstar war. Jagger aber vertonte es. Oh, und muss der spätere „Sir“ Mick Jagger die Schnauze voll gehabt haben, als er die beiden genannten Songs betextete. Es ist so einfach, das misszuverstehen. Und doch hat es noch immer seine Berechtigung, dass vor allem „Under my Thumb“ mit seiner seltsamen Percussion – wir hören da die Marimbas des unvergessenen Multiinstrumentalisten Brian Jones – ein Welterfolg wurde, das Stück bis heute so wahnsinnig knallt und selbst für Frauen eine derart mächtige Portion, nun, Unterleib ausstrahlt, dass sie den Feminismus-Hashtag für den Moment gerne mal in der Tasche lassen. Denn was die Stones hier betreiben, das war nie billigstes Treten von oben nach unten. Denn was Jagger hier und letztlich auch in „Stupid Girl“ besingt, ist die lasziv zu Klang geworden Reibung zwischen einer Frau, die es gewohnt war, mittels Reizen den Kerl am Gängelband zu führen – und einem Mann, der sich davon befreien will, genug davon hat, gezieltes Opfer seiner eigenen Unterleibsinstinkte zu werden. Eigentlich ist es Jagger, der den jahrtausendealten Geschlechtervertrag aufkündet. Das aber ist bis heute so revolutionär, dass die „arschiger Sexist“-Interpretation überwiegt.

Ich habe mal die etwas forsche These gelesen, dass das „Under my Thumb“ hervorragend geeignet wäre, Europäern die Gefühlswelten islamischer Männer nahezubringen, zu verstehen, warum man dort patriarchale Widerlichkeiten von Kopftuch bis Vollverschleierung für eine so gute und sogar berechtigte Idee hält. Wie gesagt, etwas sehr steil, aber vollkommen daneben gewiss nicht. Und vielleicht auch ein Grund, warum die meisten Frauen ein solches Stück ebenfalls feiern können. Steckt halt doch mehr gegenseitiger Kampf um Selbstermächtigung drin, als man gemeinhin glauben möchte. Dass Jagger alles, wirklich alles zu hocherotischer Balzerei veredelt, sobald er nur seine unique Klappe aufreißt, tut gewiss sein Übriges. Denn da hasst einer nur an der Oberfläche. Eigentlich umwirbt er.

Und natürlich hatte der Wahnsinn auch Methode, befanden sich die Stones doch seinerzeit längst in einem Haifischbecken angesagter junger Bands, durch das sie zuvorderst ihr Manager Andrew Loog Oldham navigierte. Ein mit allen Werbewassern gewaschener Mann, der als einer der ersten verstand, dass auch diese zu Beginn der 60er Jahre so junge Branche letztlich nicht anders zu kommerzialisieren ist als andere Wirtschaftszweige. Und so simpel es als Rezept heute auch anmutet, er verordnete seinen Schützlingen, das war revolutionär, Authentizität, in dem er Keith Richards und Mick Jagger regelrecht einkasernierte, sie zwang dem Covern alter Bluesmeister abzuschwören, sich das Schreiben guter Lieder selbst beizubringen, egal wie lange es dauere. Und sie erst wieder herauszulassen, sobald was Hörbares dabei herumkommt. Mit auch für Oldham überraschend eindrücklichem Ergebnis, dem Vernehmen brachten die ersten zarten Schreibversuche auf unsicheren kompositorischen Beinen gleich mal das später dann von Marianne Faithful zu Weltehren getragene „As Tears Go By“ zuwege.


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Das zweite Standbein erkannte ihr Manager als er sich der Konkurrenzbeobachtung der anderen begabten Bands jener Tage hingab: Gegen die Genialität der Beatles, sah er, war kein Kraut gewachsen, die Intellektualität der Kinks ebenfalls nicht zu erreichen. The Who wiederum bespielten eine seltsam gut funktionierende Mischung aus Kunst & Krach, an der sich die Stones auch nur verheben hätten können. Es blieb: das Dreckige, das Obszöne. Das Unanständige, das Teenager reizt und deren Eltern erschreckt. Letztlich also die Ursuppe von Rock. USP nennt man es heute, Unique Selling Point. Am Reißbrett entstanden ist es nie, der Blues steckte den Knaben in den Genen und die unanständigen Gedanken kamen auch ganz von selbst. Es war jedoch Oldham, der sie ermunterte, die Sau herauszulassen. Je oller, desto doller. Und gerade auf diese Weise die Entstehung einiger der kunstvollsten Rüpelsongs forcierte, die die Musikwelt bis heute gehört hat. „Mother’s Little Helper“ beispielsweise, der Eröffnungstrack von „Aftermath“, den sich das US-Label auf der amerikanischen Version im Übrigen nicht herauszubringen traute und lieber als Begleitsingle zur fünften US-Tour der Stones im Juli 1966 veröffentlichte.

Ein Folkrocksong mit scheinbar fernöstlichen Einflüssen ist das, in dessen Mittelpunkt eine Hausfrau mit Hang zu Medikamentenmissbrauch steht. Ein Stück, das, wie Jagger später bekannte, ernster und konfrontativer genommen wurde als es gemeint war, hatte er es doch mit einer Prise britischem Humor getextet, den bei einem solchen skandalösen Song jedoch kaum wer herauszuhören vermochte. Der sich wiederholende und irgendwie orientalisch anmutende Gitarrentwang ist laut Keith Richards im Übrigen auf einer elektrischen 12-String unter Zuhilfenahme einer Colaflasche entstanden. Mehr aus Hilflosigkeit denn aus Plan, hatte doch irgendein Typ, der eines Tages im Studio auftauchte und den Richards danach nie wieder sah, ihn für dieses Instrument erwärmt, gleichwohl ohne ihn ordentlich einzuweisen. Der gute Keith wollte genau den Klang aber auf dem Stück und er bekam ihn auch deswegen hin, weil er viel anderes aus dem Gerät, zumindest damals, dem Vernehmen nach noch nicht herausbekommen hätte. Als mit Colaflasche, für die paar Töne, die man denn hört, wieder und wieder. Ja ja, Verzweiflung war schon immer die beste Zutat der Genialität.

Ob die Tatsache, dass Jagger also lustig über die täglichen Nöte einer Hausfrau sang, es nun besser oder schlechter macht, egal. Erneut ist es genau diese Ambivalenz, die Vieldeutigkeit, die das Stück so faszinierend, in Ansätzen schockierend macht. Und hey, immerhin klingt es mal nicht nach Sex, ist doch auch was.

Nicht unerwähnt bleiben sollte in puncto artifiziell hochwertiger Songs die fassungslos machende Tatsache, dass, nachdem die US-Plattenfirma der Stonesentschied Mother’s Little Helper nicht auf der LP herauszubringen, natürlich einen anderen Opener stattdessen benötigte. Und in der Not einfach anderes frisches Stück von Richards/Jagger nahm, das dann mal eben so Paint it Black hieß. Was mich so fassungslos macht, dass es Bilder der Ersatzbank vom FC Bayern München oder Real Madrid in mir wachruft.

Abschließend auch nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass zwei vergleichsweise (für Rolling Stones-Verhältnisse) unbekanntere Lieder auch drauf sind auf „Aftermath“, die dennoch zu meinen absoluten All-Time-Favorites der 60er Jahre, bandübergreifend, zählen. It’s not easy und Out of time. In Letzterem weist der Sänger ein Mädel rüde ab, das ihn zurückwill und Brian Jones ist schon wieder mit seiner glorreichen Marimbas zu hören, also alles wie gehabt, möchte man sagen. Warum ich gerade an Out of Time so einen Stones-Narren gefressen habe, tja, schwer zu sagen. Vielleicht weil es der einzige Stones-Refrain ist, den ich neben Get Off My Cloud ist, den ich jederzeit unflätig und stones-trunken ausplärren möchte. Manchmal sitze ich ruhig und arbeitsam vor meinem PC und plötzlich packt es mich. Ich werfe den Kopf in den Nacken und krakeele übertrieben laut aus: I said, bäääby, bäääby, bäääby, you’re out of tiiiime. Ich glaube, den hätte ich mir auch ganz gut aus dem Munde von Liam Gallagher (Oasis) vorstellen können, diesen göttlichen Miesepeter-Refrain. Beides von der Aussage her ja recht simple verpiss dich-Nummern. Nun ja, wer es braucht. So wie ich. Kann da schon mal ins unflätige Plärren geraten. So wie ich.

Es ist interessant, dass „Aftermath“ als Gesamtkunstwerk dann doch ein wenig abstank gegenüber den kultigen anderen Erzeugnissen des Jahres 1966, als Konzeptidee mit „Pet Sounds“ von den Beach Boys oder „Revolver“ von den Beatles kein Stück mithalten kann. Wohl aus dem simplen Grund, dass das Album (abgesehen von latenter Misogynie, klar) keinerlei Konzept hatte, letztlich einfach nur eine Ansammlung bärig starker Songs ist. Und so kommt „Aftermath“ zuvorderst deswegen eine immense Bedeutung zu, dass es die erste Platte der Rolling Stones war, auf der sich ausschließlich selbstgeschriebene Stücke fanden. Angesagt waren sie schon vorher, die Stones wie wir sie bis heute kennen (und außerhalb ´feministischer Kreise auch lieben), sie wurden in gewissem Sinne mit „Aftermath“ erst erfunden. Das Album war somit der eine Schritt, den die Stones hinter den anderen großen Bands ihrer Zeit zurückblieben – aber auch nur, um nur entsprechend besser ausholen zu können. Was auch klappte, denn was die Band dann gute zehn Jahre an exzellenten Scheiben rausfeuerte, sucht in dieser hochtourig-langanhalten Frequenz bis heute seinesgleichen.

Warum es zum Ende dieses Textes noch einen Live-Videoclip aus dem Jahr 2022 gibt, nun, erklärt Mick Jagger ganz zu Beginn selbst. Wer es nicht versteht bzw. übersetzen kann: Out of Time mag zwar mein Lieblingsstück sein. Live gespielt haben es diese verdammten Bastarde aber 60 Jahre lang nicht. Das da: war das erste Mal.

Ich krieg‘ die Motten. Da war sie wieder, die Ersatzbank von Real Madrid.


David Wonschewski, Jahrgang 1977, wuchs im Münsterland auf und ist seit 25 Jahren als Kulturjournalist für Radio, Print & Online tätig. Als leitender Redakteur gestaltete er viele Jahre das musikalische Programm landesweiter Stationen, führte Interviews mit internationalen Künstlern (Cliff Richard, Joe Cocker, Pet Shop Boys, Take That, Paul Young) verfasste knapp 450 Musikrezensionen sowie PR-Texte für u.a. Reinhard Mey. Er saß von 2013 bis 2015 in der Jury der renommierten Liederbestenliste, ist Mitbegründer der noch immer existenten Liederatur-Bühne „Geschmacksverstärker“ im Zebrano-Theater Berlin. Sein von der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft empfohlener Debütroman „Schwarzer Frost“ brachte ihm 2013 erste Vergleiche mit Autorengrößen wie David Foster Wallace, Bret Easton Ellis oder eben Thomas Bernhard ein.

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