David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Ein manisch-depressiver Hauch. Auszug aus dem Manuskript zum neuen Roman von David Wonschewski / VÖ: Ende 2021

David_Wonschewski-2Mehr zum bald erscheinenden neuen, mittlerweile dritten Roman von David Wonschewski: HIER.

„Keine Suizide mehr“ – ein weiterer Auszug aus dem neuen Manuskript: HIER.

Du liebst die Nacht. Nicht der Dunkelheit wegen, nicht der grellen Lichter oder der ungeahnten Möglichkeiten wegen, die dir eine Großstadt wie die, in der du wohnst, bieten kann. Nein, du liebst die Nacht ihrer Schattenlosigkeit wegen. Sicher, in den Bars und den Diskotheken, in den Bordellen und an den üblichen Umschlagspunkten, da werfen sie Schatten, die vorbeihuschenden Menschen, die fest fixierten Gebäude, die Dinglichkeiten. Doch es sind nicht ihre Schatten, sind diese Schatten doch nie zu vergleichen mit den Schatten des Tages, gefördert vom Lauf der Sonne. Nein, es sind verzerrte Schatten. Zerrbilder sind es. Wie Ahnungen umranden sie die Silhouetten umnachteter, nein, umnächtigter Menschen, flackern mit dem Schein einer Straßenlaterne oder einer Discokugel auf und ab, verbiegen sich, wie lachend, wie tanzend. Es müssen Geister sein, so vermutest du in deinem Enthusiasmus, Umrisse von Untoten, die es hin und wieder fortzieht vom Menschen, hin und wieder fort, hin und wieder fort.

Wann du aufgebrochen bist, wann du dein Haus verlassen hast, das weißt du schon nicht mehr. Doch es ist auch nicht von Belang. Und wo stehst du hier? Bist du in einem Dorf gelandet oder einer Vorstadt? Klein wirken die Häuser, gehässig die Menschen, mit welchem Argwohn sie dich und deinen von allen Zwängen befreiten Schlendergang betrachten. Du siehst es genau, du weißt sogar um die Gefährlichkeit der vorliegenden Situation, doch du übergehst es, überspielst ihren grimmigen Gesichtsausdruck mit deinem mehr an Ausgelassenheit. Und mit einem noch viel federnderem, viel schlendernderem Gang. Es ist Nacht, so denkst du. Und ist es nicht Nacht, so ist es doch, immerhin, später Abend. Du könntest dich irren, hast kein Gefühl, keine Gedanken, keine Kapazitäten für und vor allem keine Lust auf Uhrzeiten. Die Geschäfte, so siehst du, scheinen noch geöffnet. Du gehst in einen Laden hinein und gehst wieder hinaus und es kommt dir vor, als wärest du gar nicht drin gewesen. Gab es ein Gespräch? Einen Streit oder einen Flirt? Du weißt es nicht mehr, stehst plötzlich einfach da, auf dieser Straße in einer Vorstadt oder einem Dorf, vor einem Laden in dem du warst oder in dem du auch nicht warst, zu einer Uhrzeit, die alles sein kann, jetzt, gestern, morgen, heute. Und du lobst die Nacht, glas- und flaschenlos prostest du ihr zu. Und schlenderst weiter, folgst dieser sich vor dir ausbreitenden Straße, betrachtest all die kleinen Häuser zu deiner linken und zu deiner rechten.

Und du ahnst: Du bist nicht du. Sondern bist er. Der andere.

Ein Mann umarmt dich, stößt mit dir an, eine Frau keift, stößt dich fort von sich. Oder ist es andersherum, keift er, umarmt sie, stößt du an? Du weißt es nicht. Und so lachst du, jemand keift, du lachst lauter, jemand keift noch lauter. Grimmige Passantenblicke, mit fliegenden Mantelschößen rennst du davon, rennst, rennst, rennst. Herrlich, wie schnell du doch bist, wie schnell du doch laufen kannst, wann immer du nicht du, sondern er bist!

Du horchst nach deinem Atem – rennst du noch oder stehst du schon? Du weißt es nicht, schaust hinab, versuchst deine Beine und deine Füße zu begreifen. Doch du begreifst sie nicht, sie sind da, doch sie sprechen nicht zu dir, ergeben keinen Sinn. Also siehst du die Welt an dir vorbeischreiten. Du läufst, schließt du daraus, in gemäßigtem Gang bewegst du dich durch dieses Dorf oder diese Vorstadt. Du nimmst einen Schluck aus deiner Flasche, wo du sie inzwischen herhast, das weißt du nicht. Man gab sie dir oder du nahmst sie dir. Klebrig fühlen deine Finger sich an, es erscheint dir unachtsam mit einer Flasche in der Hand durch die Nacht zu sprinten, mit einer Flasche in der Hand eine Frau, einen Mann, die ganze Welt anzusprechen. Überhaupt nicht reden solltest du, wenn du er bist und nicht du. Doch wenn du rennst, alternder Junge, wenn du diesem schnell gehenden Atem begegnest, der dir vormacht, deiner zu sein, wenn sich wilder Wahn und ungezügelte Lust zu dem verbinden, was du Leben nennst, dann zerhaut es dir die Werte, die Einteilungen, all die Lebenskästen. Eine gute Idee vermagst du von einer schlechten Idee nicht mehr zu trennen, denn du bist nicht mehr du, du bist er, bildest Charisma aus, schließt Freundschaften und verlachst befreit diejenigen, die nicht umzugehen wissen mit deiner allumfassenden Liebe. Dieser Liebe, die du spürst, wenn du nicht mehr du bist, sondern er. Du weißt um deine Verantwortung, natürlich weißt du das. Und auch wenn du weder Ort noch Zeit dechiffrieren kannst in diesem Moment, so weißt du, dass dein Treiben ein seltsames Treiben ist, dass allem Zuprosten und Umarmen fremder Gestalten zum Trotz am Ende dieser Nacht der erneute, der komplette Aufrieb stehen wird. Dein kompletter Aufrieb. Doch das ist andermal, das ist dann, wenn du nicht mehr er, sondern wenn du wieder du bist.

Und so beginnst du zu lächeln, verspürst in dir den Atem einer anderen Person. Einem der springst und singt und lacht. Und mit tausend Zungen zu reden versteht.

Du weißt nicht wo, nicht wann du bist. Du bist wie weg, wie fort.

Nah am Leben wie nie zuvor, verschwindest du hinter dem, der du zu sein beginnst, wann immer die Nacht einsetzt.

Erst wenn das vorbei ist, wenn du wieder du und nicht mehr er bist, wird du wieder diese Angst zu verspüren beginnen. Diese Angst vor dir selbst. Mitsamt all den Erinnerungen an jene Stunden, als du er warst. Erinnerungen, die du dir nicht verbieten musst, da du sie eh nicht mehr hast, kaum bist du wieder du geworden.

Morgen? Morgen wirst du ihn wieder erklären, seine Existenz, sein Wirken, seine Gedankenlosigkeiten rechtfertigen müssen. Doch nicht hier, nicht jetzt. Jetzt bist du er, nicht du. Jetzt rennst und springst und tanzt du, flackerst irrlichtern umher, zelebrierst diese Ahnung von dir selbst, die dich mit Leben versorgt.

Wem der Sinn nach ähnlichen frohgelockten Gedanken steht, dem seien – bis der neue Roman im November 2021 erscheint – meine Romane “Schwarzer Frost” und “Zerteiltes Leid” ans wankende Gemüt gelegt. Mehr Informationen gibt es: HIER.

3 Kommentare zu “Ein manisch-depressiver Hauch. Auszug aus dem Manuskript zum neuen Roman von David Wonschewski / VÖ: Ende 2021

  1. Maccabros
    20. Juni 2016

    doch selbst die Nacht weist ihre Schatten auf, so fürchte die Finsternis…

  2. davidwonschewski
    20. Oktober 2015

    Ich danke! Oh, im Dunkeln – partielle Sonnenfinsternis, oder wie?;-)

  3. Sanguine
    20. Oktober 2015

    Mitgerissen wurde ich von diesem Text…
    Im Dunkeln habe ich gelesen. Zufall, aber es passte gut dazu.

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