von David Wonschewski
Es dürfte, knapp hinter “Born in the U.S.A.” von Bruce Springsteen, einer der fehlinterpretiertesten Songs der Popgeschichte sein: “Daniel” von Elton John. Gleichermaßen von Schwulenverbänden wie von Kinderrechtlern, Trennungs-, Scheidungs- und Familienanwälten vereinnahmt, ist das Stück allem voran eines: Ein Anti-Kriegssong.
Geschrieben hat den Text zu dem Lied, wie bei Elton John üblich, Bernie Taupin. Der las Anfang der 70er Jahre im Time Magazine eine Reportage über den Vietnamkrieg, in der ein kleiner Abschnitt der emotionalen Mühsal und Zerrissenheit heimkehrender GIs gewidmet war. Dass Männer nach der Rückkehr aus einem Krieg zu wenig bis gar nichts mehr zu gebrauchen waren, nur schwerlich zurück ins Zivillleben fanden, das war natürlich lange bekannt. Es sollte jedoch noch Jahre dauern bis eine umfassende medizinische und somit letztlich auch öffentliche Verarbeitung dieses Kriegstraumata-Themas stattfinden sollte. Und so las auch Taupin in jener Reportage, dass die jungen, zumeist sehr bodenständigen und aus ländlichen Gebieten stammenden jungen Männer bei der Rückkehr auf die Farm ihrer Eltern nur die Wahl hatten zwischen absoluter Glorifizierung durch konservative Kreise – und dem Hass junger, akademisch geprägter Protestbewegungen. Die seelische Zerrisenheit, die sich für den Mann ergeben musste, der sich weder im einen, noch im anderen wiederfand und der zudem Bilder, Geräusche, Eindrücke aus Vietnam nicht vergessen, nicht einmal verdrängen konnte, war es, die Taupin sich auszumalen versuchte. Und im Songtext zu “Daniel” schließlich zusammenfasste.
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Der Song wird aus der Sicht eines jüngeren namenlosen Bruders artikuliert, dessen älterer Bruder nach Spanien flieht, da es sich dort bedeutend besser für ihn leben lässt. Dass es ausgerechnet Spanien wurde, das gab Taupin später zu, hing mit simplen Reimerfordernissen zusammen, er brauchte ein land, dass sich lautmalerisch nett an “plane” fügen liess. Dass der Vietnam-Kontext hingegen bestenfalls zwischen den Zeilen zu erahnen ist, hat Elton John zu verantworten. Denn der ursprüngliche Liedtext hatte eine letzte Passage enthalten, in der deutlich erzählt wurde, dass es sich bei Daniel um einen Vietnam-Veteran handelt, der in einer Heimat, die ihn ihn diesen Krieg gedrängt hatte, nicht mehr leben wollte und konnte. Getilgt wurde dieser Teil, weil Elton John die Nummer, so wie er sie sich kompositorisch vorstellte, nicht zu ausufernd werden lassen wollte, daher dringenden Kürzungsbedarf sah.
Beide, Taupin wie John, gaben im Übrigen im Nachhinein zu Protokoll, dass es sich hier um eine rein praktikable Maßnahme handelte – deren Nutzen ihnen erst später auffiel, als sich herausstellte, dass die Vieldeutigkeit zu einem der besonderen Charakteristika des Liedes wurde.
Auch wenn Elton John das Lied bei seinem Label als “Calypso-Nummer mit Everley Brothers-ähnlichen Harmonien” anpries, wollte man “Daniel” dort nicht als Single herausbringen: zu lang, zu traurig, zu versonnen, so das Urteil. Elton John, der bereits über ein gewisses Standing verfügte, konnte seinen Wunsch es zur Single zu machen dennoch durchsetzen, musste dem Label jedoch insofern entgegenkommen, dass nur ein sehr kleines Werbebudget dafür auf die Beine gestellt wurde.
Recht behielt Elto John auch so, das Lied wurde ein Hit, selbst ohne große Marketingkampagne.
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David Wonschewski, Jahrgang 1977, wuchs im Münsterland auf und ist seit 25 Jahren als Kulturjournalist für Radio, Print & Online tätig. Als leitender Redakteur gestaltete er viele Jahre das musikalische Programm landesweiter Stationen, führte Interviews mit internationalen Künstlern (Cliff Richard, Joe Cocker, Pet Shop Boys, Take That, Paul Young) verfasste knapp 450 Musikrezensionen sowie PR-Texte für u.a. Reinhard Mey. Er saß von 2013 bis 2015 in der Jury der renommierten Liederbestenliste, ist Mitbegründer der noch immer existenten Liederatur-Bühne „Geschmacksverstärker“ im Zebrano-Theater Berlin. Sein von der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft empfohlener Debütroman „Schwarzer Frost“ brachte ihm 2013 erste Vergleiche mit Autorengrößen wie David Foster Wallace, Bret Easton Ellis oder eben Thomas Bernhard ein.
Einer der zeitlosen Hits, die man auch nach 1973 immer wieder hören kann…