David Wonschewski | Schriftsteller

Kulturjournalist – Romancier – bipolarer Bedenkenträger

Klassikeralben britischer Populärmusik, Teil 1. Heute: The Who – “My Generation” (1965)

von David Wonschewski

Und, was denken Sie, welcher Song ist der wichtigste Rocksong der 60er-Jahre? Schon klar, natürlich sind die Beatles die wichtigste Band der 60er-Jahre. Auch und gerade mir, dem eingefleischten Kinks’er bleibt nichts anderes übrig, als es zähneknirschend einzugestehen. Und auch wenn ich der felsenfesten Meinung bin, dass die besten Songs der 60er-Jahre von den Kinks stammen, so sind die beiden wichtigsten (nicht zu verwechseln mit besten oder kommerziell erfolgreichsten) leider nicht von ihnen. Und auch nicht von den Beatles. Es sind I can’t get no (satisfaction) von den Rolling Stones und My Generation von The Who – wohl nicht zufällig beide aus dem Jahr 1965. Gelten doch beide Liedschlingelchen als etwas, was die Beatles in dem Sinne nie hinbekommen haben, die Kinks sowieso nicht – den Urschrei einer Generation zu liefern, den Soundtrack einer Befreiung. Und komme mir nun bitte keiner (ich kenne die Beatles-Fanarmada) mit Twist & Shout. Ja, der Schrei war nicht minder laut und befreiend, früher sogar. Nur halt leider zu einem ziemlichen Möhrentext.

Satisfaction und My Generation. Die Stones entgürtelten die Unterleibe junger, vorm biedermeierhaften und blümchensexigem Spießertum ihrer Eltern fliehender Menschen, The Who vollbrachten ähnliches mit ihren Köpfen, der Attitüde, der Gesinnung. Auch wenn die Kinks in jenen Jahren bereits einige Stücke veröffentlicht hatten, die als Vorläufer des Punk gelten, so war es doch vor allem der globale Erfolg von My Generation, der die Nummer zu einer Initialzündung des Genres machte, locker 10 Jahre bevor die eigentliche Punkbewegung mit den Sex Pistols, den Ramones und The Clash öffentlichkeitswirksam und offiziell entstand. Der zu Aggression und Querulantentum tendierende Außenseiter und Loser, der lieber jung ins Gras beißt als jemals eine auf Macht und Moneten beruhende Existenz führen zu müssen wie seine Alten – was mit heutigen Ohren wie der immer wieder neu abgenudelte Evergreen einer wenig reflektierten Jugend klingt (macht Greta Thunberg letztlich nichts anderes?) hat über die Jahrzehnte in der Tat viel von seinem Reiz verloren, ist für Spätgeborene, wie ich als Jahrgang 1977 einer bin, schwer reproduzierbar. Doch das ist der angebliche Sexappeal der Stones auch, was belegt, dass es eher mit mir und meinem Zuspätkommen zu tun als denn mit den Bands und der damals jungen Generation. Denn schafft man es, sich ein wenig von sich selbst zu befreien, sich einfach nur vorzustellen, was konservativ-gesellschaftliche Fesseln einmal bedeuteten, wie unfrei Teenager damals bezüglich ihrer Lebensgestaltung waren, wie bieder die Tanzmusik war, die das Fernsehen und das Radio noch dominierte, den Plattenspieler der Eltern sowieso, so kann man sich noch immer gut hineinversetzen. Was so ein Mick Jagger anrichtete, so ein Keith Moon, ja sogar ein Paul McCartney.

Vielleicht aber muss der hingebungsbereite Spätgeborene sich auch gar nicht hineinversetzen ins damals. Eventuell reicht es auch, als Vertreter einer späteren Generation zuzugeben, dass die Nummer, My Generation von The Who, auf eine sonderlich clevere Art einfach ist. Und knallt, rockt, zischt. Vor allem, wenn man sich die vier Typen von The Who – Sänger Daltrey, Songschreiber und Gitarrist Townshend, Bassist Entwistle und Drummer Moon live dazu reinzieht, YouTube erfreut. Einer eigensinniger als der andere, auch alle vier mit solch Eigenbrötlergesichtern. Jeder mit seiner eigenen Art von Bühnenshow, solo im Team, jeder für sich dabei stilprägend. Hätte ich die Möglichkeit, mir zeitreisenmäßig ein Konzert der 60er anzusehen, es wären definitiv The Who, noch vor den Kinks, dann die Stones. Die Beatles, deren Bravheit bekanntlich Teil ihres Erfolgsrezepts war, wären gar nicht auf meiner Liste. Kein Stück negativ gemeint, nur die Überzeugung, dass deren Kunst und Attraktivität, ihr schräger Humor und ihre angepasste Form von Eigensinn auf Platte vollends zur Geltung kommt, live da wenig on top zu holen ist.


The Who – My Generation (1965) – erstmal ganz reinhören? – HIER


My Generation war der erste große Stotter-Hit (es folgten Bachman-Turner Overdrive mit You Ain’t Seen Nothing Yet (1974) und Scatman John, der es 1995 mit Scatman auf die Spitze trieb). Was insofern interessant ist, als es The Who-Manager Kit Lambert, der Sänger Roger Daltrey bei den ersten Songaufnahmen empfahl, es einmal mit ein wenig Stottern zu versuchen, keineswegs um Stotterer, sondern darum eines jener Kids zu imitieren, die sich anno dazumal gerne die angesagten Partypillen jener Zeit rein pfiffen, was ab einer gewissen Dosis zu Problemen im Sprachzentrum führen konnte. Dass Daltrey in seiner frühen Jugend wirklich unter Stottern gelitten hatte, das wusste Lambert nicht und war entsprechend baff, wie gut der seinen Tipp auf Anhieb umsetzen konnte. Und nicht nur er, auch Gitarrist Pete Townshend war von den Socken als er Daltreys Interpretation seines Textes hörte, den er, Townshend, komplett auf einer Zugfahrt geschrieben hatte, am 19. May 1965, seinem zwanzigsten Geburtstag. Er hatte ihn zwar nicht für seine Generation, immerhin aber doch für eine spezielle Londoner Jugendbewegung geschrieben, die Mods, die seinerzeit ihre Vorliebe für Soulmusik, Drogen und an Parodie grenzendem Hedonismus mit einem schon überkandidelt daherkommenden Interesse für Fashion gepaart hatten. Das Feindbild aller lederbejackten Rocker und Teddy Boys, legendäre Schlachten und Schlägereien inklusive. Zu deren Lebensmotto, also dem der Mods, hatte es gehört, lieber jung und schön und feiernd zu sterben als alt, auf Knien und vom System zu Tode geknechtet. Und so war es auch gewollt, dass der Text für Townsend-Verhältnisse so simpel anmutet, ging es ihm doch darum, einen Typen auf der Tanzfläche darzustellen, der anderen erklärt, warum er sich selbst so groovy und lässig findet – dabei aber komplett versagt, eben weil er zu stoned dafür ist. “I hope I die before I get old” sagt er, stotternd – es sollte zu einer der berühmtesten Songzeilen aller Zeiten werden und sich zumindest beim drummenden The Who-Derwisch Keith Moon bewahrheiten, der sich 1978 mit gerade einmal 32 Jahren aus seinem allzu extrovertierten Leben verabschieden musste.

Als das The Who-Debütalbum My Generation im Dezember 1965 herauskam, war die Band selbst nicht sonderlich zufrieden damit. Und vielleicht lagen sie damit gar nicht so daneben, denn sieht man vom titelgebenden Überhit und vielleicht noch dem Stück The Kids Are Alright ab, erwies es sich als eine Platte, deren Ruf eine der wichtigsten Rockscheiben aller Zeiten zu sein, erst über die Jahre, teils gar Jahrzehnte wuchs, nachträglich, als The Who durch spätere Platten längst zum stadionfüllenden Tommy-Rockoper-Monsteract von einer Band geworden waren. Hört man sich das Album dahingehend an, so ist es nicht zu leugnen: Genau das, wofür das Album heute verehrt und geheiligt wird, erschien nicht nur The Who selbst seinerzeit als Beweis eigener Unfähigkeit, wenn nicht gar Stümperhaftigkeit. So rau und ungestüm das Zusammenspiel, so scheppernd der Sound, so wütend die Jungs, dazu wenig professionell abgemischt, bestenfalls mittelmäßig das Klangerlebnis, das denn aus den Anlagen jener Zeit irgendwie mehr heraussuppte als denn knallte. Kein Vergleich mit der Explosivität ihrer Live-Auftritte.

Ja, wenig artifiziell damals – heute jedoch nicht nur der Anfang einer Idee namens Punk, sondern auch des Rocksubgenres Garage.

Die Platte startet schon reichlich kaputt ein mit Out In The Street, und einem Roger Daltrey am Mikro, der den Einstieg versemmelt, dazu einem Keith Moon, der auf eine Weise seine Drums bearbeitet, die direkt ahnen lässt, dass ihm der Rest der Band nicht so wichtig sein kann. In einer Band zu spielen ja nicht bedeuten muss, in einer Band zu spielen. Es wurden viele Bücher über das Schlagzeugspiel von Keith Moon geschrieben, Fachleute zählen ihn immer zu den zehn größten Rockdrummern aller Zeiten. Ich vermag nicht zu sagen, wie es sich für Drum-Experten anhört Keith Moon beim heiteren Trommeln zuzuhören, gehe aber jede Wette ein: als Laie ist es schöner, aufregender. Ich weiß nie, was der Typ da macht und bin mir auch nie ganz sicher, ob das mit dem Song so viel zu tun hat. Und doch trägt es zum speziellen Knalleffekt von The Who maßgeblich bei. Und einer mit Ahnung sagte mir mal: Darum ist es bei Keith Moon Genie, weil es sich aus einem unerklärlichen Instinkt speist.

Ja, wer sich zu Beginn von Out In The Street ein wenig langweilt, was normal ist, ist auch hier zuvorderst ein Opfer der eigenen Modernität, einer Musikhörexistenz, in der man alles irgendwie schon gehört hat. Von Leuten, die nach The Who kamen. Gibt man dem Stück jedoch 1:30 Minute Zeit, lässt sich weiterhin bestens erkennen, welch toxische Wundermischung der wirkliche Irre Moon und der akademische Irre Townshend im vermeintlichen Nicht-Zusammenspiel anzurühren verstanden. Und selbst über die Rolle des (traditionell) unterschätzten Bass lernt man als Nicht-Musiker, der zumindest ich bin, viel. Denn machen wir uns nichts vor: Ohne John Entwistle, der stoisch alles zusammenhält, wäre dieser und wohl auch jeder andere Who-Song implodiert, lange bevor das Moon-Drumkit hätte so legendär explodieren können.

I Don’t Mind ist eines von zwei James Brown-Covers auf der Platte, fügt sich gut ein, zeigt jedoch eindrucksvoll, dass aus den Who genausowenig Stones hätten werden können wie die Kinks das hinbekommen hätten. Und nein, das habe ich nicht gesagt, um noch einmal Werbung für die Kinks zu machen. Denn sich reichlich beim Blues zu bedienen, das war in jenen Jahren so schwer in Mode, dass auf den ersten Alben all dieser berühmten Bands mehr Coverversionen zu finden sind als eigene Songs. Genau damit brachen The Who mit einem großen Anteil an Townsend-Kompositionen gleich auf dem Debut My Generation – und wohl auch daher rührt jene erste Unzufriedenheit. Das Gefühl, Blues, Soul und Funk nicht so grandios auf die Kette zu kriegen wie eben die Stones, auch die Animals, dürfte bleischwer im Rookie-Magen gelegen haben in einer Zeit, in der das Zutrauen in die mittlerweile anerkannte Großkunst junger, britischer Pöbelmusik noch nicht auf Bäumen wuchs. Und um ehrlich zu sein, auch das stimmt: So gut wie die Stones daran taten, sich den schwarzen Blues nie so ganz abzugewöhnen, taten die Beatles, The Who und (sic!) die Kinks sich und uns einen großen Gefallen damit, den Quatsch ziemlich schnell sein zu lassen.

The Good’s Gone, mein absoluter Favorit, ist ein drohender und dräuender, extrem repetitiver und gerade dadurch horrend bedrohlicher Song, scharf wie Kanonenkugel an den Becken angeschnitten von Moon. Es hat was Cineastisches, ein Hauch von Lee Hazlewood, nur eben in mies abgemischt und aus dem tiefsten englischen Dunkelkeller. La-La-La-La Lies hingegen ist Pop in seiner puren Form, Pop as Pop can be. Und ich weiß nicht, ob ich es als Lob oder als Diss meine, aber das hätte auch ein früher Beatles-Song sein können, Marke I wanna hold your Hand, irgendwie. Gewiss ein Fremdkörper auf dem Album, wäre da eben nicht die unzulängliche Produktion gewesen, die knospenden Gefühle wollen nicht recht knospen, zu rau die Typen, zu groß der Romeo-Anzug. Und deswegen geil. Das ewigliche: Ich werde mich ändern, Schatz! Ha, ja – einen scheiß wird er!

Peinlich wie es The Who mal war ist es vor allem mir, denn das Lied einfach zu gut und zu harmonisch, um nicht beglückt zu sein über das kleine bisschen Wohlklang. Wobei ich es für möglich halte, dass hier das Depeche Mode-Theorem greift. Depeche Mode verfolgen seit gut 25 Jahren das Konzept echt edgy zu sein, wenig radio friendly. Ein Song pro Album ist aber immer drauf als Radiofutter. Einer, der nicht so wehtut mit seinem Industrial-Anteil (“Precious” war das Paradebeispiel, der ödeste und zugleich beste Song auf einer ansonsten extrem spannenden und wagemutigen Platte Playing the Angel, 2005 ).

Ob es bei The Who so war vermag ich nicht so sagen, generell war und ist es aber bis heute oft so. Also, mal gesponnen, der fette Plattenboss, wälzt sich anno 1965 im Sessel, schön mit Zigarre, sagt: “Jungs, ihr seid geil, wir haben nur noch nicht rausgefunden warum. Die Beatles seid ihr nicht, die Stones auch nicht. Bei den Fans von denen können wir euch nicht anpreisen und wo wir euch anpreisen können, wissen wir auch noch nicht. Wir machen das jetzt aber einfach mal unter der Bedingung, dass ihr mir so einen Schlüpfersong schreibt für die Platte!”

The Kids Are Alright gehört ebenfalls zu den Bandklassikern – eine Zeile und ein Titel, die zumindest in UK ebenfalls zu den großen Popkulturschätzen dieser an Popkulturschätzen nicht gerade armen Nation gilt. Ein Titel, der britische Bands nachfolgender Generationen immer und immer wieder wieder zu fiktiven Antworten inspiriert hat (beispielsweise Maximo Park – The Kids Are Sick Again, 2009). Und auch hier: Das damalige Problem des Albums ist sein Gewinn, zumindest wenn man die Geduld und die Lust auf Entdeckung hat. My Generation ist eine wilde Mischung und ergibt nur Sinn, je weiter man sich davon entfernt. Diese vier Typen konnten es nicht besser, waren eventuell auch partiell zu gut, es stimmte vorne nicht und passte hinten noch viel weniger. Der Albtraum eines jeden Marketingstrategen. Hätte die Band auch mit baden gehen können. Ist sie aber eben nicht. Weil auf A eben B folgte, dann C. Das Geniale zeigt sich selten im Perfekten, oft im Tölpelhaften.

Wenn mir nach Schlaumeier ist, höre ich meine Kinks, die Stones, sogar die Beatles. Wenn der Nihilist in mir erwacht, immer nur The Who.

Weitere EpisodenHIER.

Inspiriert von The Who: Wenn der depressive Musikredakteur den selbstverliebten Radiomoderator erschlagen möchte.

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2 Kommentare zu “Klassikeralben britischer Populärmusik, Teil 1. Heute: The Who – “My Generation” (1965)

  1. Herr MiM
    20. September 2023

    Ein grandioses Album… ein Meisterwerk.

  2. Anonymous
    14. September 2023

    “Hätte ich die Möglichkeit, mir zeitreisenmäßig ein Konzert der 60er anzusehen, es wären definitiv The Who, noch vor den Kinks, dann die Stones.”

    Ich würde auf dem Beifahrersitz der Zeitmaschine den Steuerknüppel rumreißen und als erstes im “Rock and Roll Circus” der Rolling Stones landen. Wie sie mit “A Quick One (While He’s Away)” den brillanten Stones noch die Show stahlen – diese siebeneinhalb Minuten gehören zu den besten siebeneinhalb Minuten seit dem Urknall -, kann ich mir nicht oft genug in der Tube anschauen, aber es wäre natürlich noch etwas anderes, dabei neben Marianne Faithfull zu sitzen.

    Wunderbarer Artikel, danke. [Für den Kinks-Liebhaber, Poison Ivy Rorschach erwähnte vor allem The Kinks als Offenbarung, in ihrem Fall also Dave Davies, den Klang seiner Gitarre, dreckig, rotzfrech und sexy.]

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