Denke ich zurück an Frankenfelder, so sehe ich nicht den jungen Frankenfelder vor mir. Sondern den Frankenfelder des Jahres 2016. Den Frankenfelder, wie ich ihn einen Tag und eine Nacht hindurch im Frühjahr jenes Jahres erlebte: eindeutig von Sinnen und doch unwiderlegbar glücklich. Ich sehe ihn vor mir, an jenem Tag und der darauffolgenden Nacht, wie er sich mit Cristina und Cosmin in dieser viel zu kleinen Wohnung aufhält. Erst auf seiner Matratze sitzt, dann steht. Schließlich liegt. Nichts anderes als diese eine verdammte Matratze mehr besitzt, von der er sich aufzustehen über Tage geweigert hat. Bis Cosmin und Cristina auftauchten. Begannen, ihn zu bearbeiten.
Ich stieß erst später hinzu. Beobachtete die drei, lange, intensiv. Studierte jedes ihrer Worte, eine jede ihrer Bewegungen. Griff zunächst nicht ein ins Geschehen. Warum ich nicht eingriff? Ich weiß es nicht. Etwas hielt mich zurück, ließ mich dieser Szenerie fasziniert aus der Ferne beiwohnen. Was genau mich derart untätig schauen ließ, gilt es herauszufinden. Denn der Auftrag, den mir meine Organisation knapp zwanzig Jahre zuvor gegeben hatte, war einleuchtend und klar. Gab keinerlei Anlass zu Interpretation oder gar Zweifel. Deutlich umrissen und geschnitten scharf formuliert stand diese Aufgabe auf dem blassgelben Auftragsblatt, das ich all die Jahre zum ständigen Antrieb und zur ständigen Mahnung in meiner Hosentasche mit mir herumtrug: Zeitnahe Entsorgung des sinnentleerten Nationalbürgers Frankenfelder. Und direkt über diesem Satz ein großes, ein fettgedrucktes E.
Mehr stand dort nicht. Nichts zu deuteln gab es daran.
Dass nicht nur die Welt, sondern auch Frankenfelder selbst vor Frankenfelder gerettet werden muss und dass er im gleichen Maße wie vor sich selbst auch vor Cosmin und Cristina gerettet werden muss, jeder vor jedem gehörig in Deckung zu gehen hatte, erkannte ich erst später. Zu spät.
Wie eingepfercht sehe ich die drei in meiner Erinnerung, dort in Frankenfelders kleiner Wohnung. Eine unheilvolle Ménage-à-
trois. Derart fruchtlos miteinander verbandelt und verwoben, dass nichts anderes als desaströse Lebenslust die Folge sein konnte.
Da ist eine Tür, natürlich ist da eine Tür, ich sehe sie noch genau vor mir. Doch keiner der drei tut, was dringlich geboten gewesen wäre: Keiner geht. Und wenn in einer bedrohlichen Situation keiner geht, dann ist es unabdingbar, dass ein weiterer kommt, um für Ordnung zu sorgen. So verhält es sich nun einmal bei den Menschen und ihren selbsterschaffenen Konfliktsituationen. Und dieser andere, der kommen, hinzustoßen und für Auflösung sorgen musste, der war ich.
Frankenfelder ist an jenem letzten Tag, jenem Frühlingsmittwoch, als erster in der Wohnung. Natürlich ist er das, ist er doch ihr vorrangigster Bewohner. Dann aber kommt Cosmin und schließlich, wenige Stunden später, Cristina. Verabredet sind Cristina und Cosmin nicht gewesen. Im Gegenteil, sie hassen einander. Oder aber bilden sich – einer wie der andere – zumindest ziemlich überzeugend ein, einander dringend loswerden zu müssen. Doch genau das gelingt ihnen nicht. Anstatt sich in alle Winde zu zerstreuen, Cristina nach Süden, Cosmin nach Osten und Frankenfelder – ja, wohin mit Frankenfelder? – verbarrikadieren sie die Tür, wohl wissend, dass nur einer von ihnen nach einem Tag und der darauffolgenden Nacht wieder ins Freie treten, eine Zukunft unter den Menschen haben wird. Ein Irrsinn, nicht wahr?
Der schöne Cosmin. Die ernste Cristina. Und natürlich Frankenfelder. Alle Adjektive dieser Welt simultan auf sich vereinend.
Und zugleich kein einziges.
Ja, so sehe ich Frankenfelder vor mir, wenn ich an ihn zurückdenke. An diesem letzten Tag, in dieser sich anschließenden
letzten Nacht. Engumschlungen mit Cosmin und Cristina, erst tanzend, dann im Liebesakt, schlussendlich, als ich dazu komme,
kämpfend. Möbel sind keine mehr in der kleinen Wohnung, Frankenfelder hat sie allesamt entfernt. Stück für Stück, eines nach dem anderen. Geblieben sind ihm nur die Wände, die ihn umgeben, ein Fußboden, der ihn hält, eine Zimmerdecke, die ihn zu zermalmen trachtet, sowie Fenster und Tür, die ihm ein Draußen vorgaukeln, an das er längst nicht mehr glaubt. Nicht zu vergessen die Matratze. Natürlich die Matratze. Sein letzter Besitz.
Er hat mir zu erklären versucht, warum er nicht mehr leben konnte und nicht mehr leben wollte mit Möbeln in seiner Wohnung.
Verstanden habe ich es nicht. Und so tanzten die drei an jenem letzten Tag und in jener letzten Nacht in dieser so abstrus kargen Wohnung. Bevor sie sich schließlich in wildem Liebesspiel über den harten Bretterboden rollen ließen. Ich sehe es noch exakt vor mir, eingebrannt hat es sich in meinem Hirn. Der Tag geht zur Neige und die Dunkelheit hält Einzug in Frankenfelders Wohnung. Lampen gibt es keine mehr, Frankenfelder hat auch sie entsorgt. Alles, was auch nur im Entferntesten in der Lage schien, für Licht zu sorgen, hat er in die große Mülltonne im Hof geworfen. Nicht einmal mehr Glühbirnen gibt es, Frankenfelder hat sie bereits einige Wochen zuvor allesamt kaputtgeworfen. Hatte sich zusammen mit den letzten ihm verbliebenen Gabeln und Messern in die hinterste Ecke seiner leeren kleinen Wohnung gekauert, gezielt, geworfen.
Wieder und wieder. Bis er dann, nach auffallend langer Zeit, endlich einen Treffer gelandet, die nackt aus der Fassung ragenden
Glühbirnen von der Decke gesäbelt hatte. Klirr hatte es gemacht und zersprungen war die Birne und die vielen kleinen Scherben waren auf Frankenfelders Zimmerboden gefallen. Und Frankenfelder hatte in seiner Ecke gekauert, mit einem ganz schiefen Grinsen im Gesicht. Hatte sich dann nackt ausgezogen und in die Scherben gelegt. Und sich schließlich, nach einigen Minuten bewegungslosen Liegens, begonnen darin zu suhlen. Ahhh! und Oooh! hatte Frankenfelder gemacht, während er sich darin suhlte, seine Haut wieder und wieder über die scharfkantigen, gezackten kleinen Glühbirnenscherben rieb. Schnell hatten sich kleine Wunden auf Frankenfelders Rücken und auch an seinem Gesäß gebildet und Blut war daraus hervorgetreten. Und kaum hatte Frankenfelder das bemerkt, hatte er sich mit der Spitze seines Zeigefingers in eine seiner eigenen Wunden begeben, bis sein Fingernagel getränkt war von seinem eigenen Blut. Daran gelutscht hatte Frankenfelder dann, sehr langsam und sehr wollüstig hatte er sein eigenes Blut von seinem eigenen Fingernagel gezutscht. Und dann begonnen, sich mit der anderen Hand zwischen seinen Beinen herumzuspielen.
Und dann hatte er wieder Ahhh! und Oooh! gemacht. Und ich hatte, als heimlicher Beobachter dieses Vorgangs, hinter einem
Vorsprung gekauert und gedacht: Schau an, schau an, der politische Klassenkämpfer Frankenfelder, die Zierde bundesdeutscher
Verweigerungs- und Entsagungskultur – ereifert sich an sich selbst, ereifert sich an seiner eigenen Menschlichkeit! Und dann hatte ich lautlos kichern müssen. Damit aber sofort aufgehört, als ich mich zu fragen begann wie das, was Frankenfelder dort treibt, sich wohl anfühlt. So nackt. So in Scherben. So blutend. So Ahhh! Und so Oooh!
Das war einige Wochen zuvor gewesen. Nun aber, in dieser letzten Frankenfelder-Erinnerung in meinem Kopf, ist er notdürftig
bekleidet und schwitzt. Ich bin mir nicht sicher, wovon er schwitzte, war die Wohnung doch gut gekühlt. Wie auch Cristina gut gekühlt war in ihrer angeborenen Ernsthaftigkeit. Steht in meiner letzten Erinnerung dort an der einen Wand des Zimmers, derweil Frankenfelder und Cosmin ihr gegenüber stehen, an der anderen Wand, auf der Matratze. Keiner spricht ein Wort, alle drei sind die Beherrschung in Person, anfangs. Sieht man einmal von Frankenfelder ab, der schwitzt, als gelte es, in der Stille und der Kargheit seiner Wohnung und unter den intensiven Blicken Cristinas und Cosmins ein Geheimnis zu bewahren. Ein allerletztes Geheimnis, etwas, das nur er kennt, nur er weiß, nur er versteht – und von dem Cristina und Cosmin, die ansonsten alles über ihn wissen und die in ihm lesen können wie in einem Buch, keinen Schimmer haben.
So wie Frankenfelder in jenem Moment schwitzt, so denke ich noch heute, schwitzt nur einer, der entgegen aller Erwartung doch noch ein letztes Stück Würde, einen letzten Rest Anstand, einen kleinen verbliebenen Funken Verstand und Vernunft in sich trägt. Genau das alles nun aber, in einen Hinterhalt gelockt und umzingelt von Feinden, zu verlieren fürchtet. Neunzehn lange Jahre bin ich hinter ihm hergehetzt, neunzehn lange Jahre habe auch ich ihn bearbeitet. Habe mich, zwar später als Cosmin, jedoch deutlich vor Cristina, nachhaltig in Frankenfelders Leben einzumischen begonnen. Derweil meine beiden Konkurrenten sich als allenfalls partielle Wegbegleiter fühlen dürfen, bin ich ihm nie von der Seite gewichen. Auf Schritt und Tritt gefolgt bin ich Frankenfelder. Und doch hat es fast zwei Jahrzehnte gebraucht, ihn in eine solche von mir gewünschte Finalsituation zu bringen, wie ich sie dann im Frühling 2016 vorfand.
So es jemanden gibt, der von sich sagen darf, mehr über Frankenfelder zu wissen als Frankenfelder selbst, so bin das mit Sicherheit ich. Was genau er dort aber an diesem letzten Tag noch in petto zu haben glaubte, das vermag auch ich nicht mit letzter Gewissheit zu sagen. Allenfalls darüber nachdenken kann ich. Spekulieren. Und so kann ich noch immer nicht lassen von ihm. Frankenfelder war ein Mann der Fragen, nie ein Mann der Antworten.
Ich sollte ihn eliminieren, ich habe ihn eliminiert. Frankenfelder ist fort. Doch wo er ist, niemand weiß es. Wie sehr nicht mehr auf dieser Welt ist er? Saubere Arbeit habe ich geleistet. Stolz sollte ich sein. Stattdessen aber beginne ich, mir den Kopf zu zermartern. Habe mich in ein ruhiges Zimmer unseres Hauses verzogen. Den Laptop aufgeklappt. Ein neues Textdokument
angelegt. Und schreibe nieder, was mir noch einfällt. Latsche grobschlächtig durch die Geschichte, die mich mit Frankenfelder
verbindet. Und hoffe, zufällig doch noch auf jene Antwort zu treten, die Frankenfelder mir weiterhin schuldig ist. Ist es das schlechte Gewissen? Möglich, ja. Ist doch jeder noch so grandiose Erfolg mit einem kleinen Makel behaftet. Jeder Triumph,
jeder noch so rechtschaffen verbreitete Gottesglaube, ja sogar jegliches Liebesglück, alles wird auf dem Rücken eines Anderen, zum Schaden und zum Leidwesen eines Beteiligten oder Unbeteiligten erreicht. Selten sieht man es sofort, dieser dreckige Makel. Freude und Lust und Gier überstrahlen alles. Doch es ist da, wo immer ein Lächeln entsteht, wo immer ein Freudensprung durchgeführt wird, drückt es jemanden in den Staub, mit dem Gesicht voran in die Verzweiflung. So verbunden sind die Menschen miteinander, dass der Erfolg des einen stets die Niederlage eines anderen ist. Ein einziges Tauziehen ist das menschliche Miteinander.
In der Geschichte von Frankenfelder, Cosmin, Cristina und mir bin ich der Sieger. Niemand würde das bezweifeln, nicht Cosmin, nicht Cristina, schon gar nicht Frankenfelder. Ich springe in die Luft, balle meine Hand zur Faust des Siegers, rufe: Juhu! Doch Freude verspüre ich nicht. Nachdem ich Frankenfelder auftragsgemäß eliminiert, ihn unschädlich gemacht und nach besten Kräften enteiert hatte, damals, im Sommer 2016, da knallten in unserem Institut die Sektkorken. Ich bekam meine Beförderung und meine Gratifikation, der Generalmajor klopfte mir vor der versammelten Mannschaft auf die Schulter, rief bollenstolz und theatralisch zugleich: IM Krebs ist unser Maaaann! Und ich sah ihn an dabei und er mich. Und augenblicklich wurde mir klar, was seine Augen verrieten: Dass die Lösung eines Problems stets ein neues Problem gebiert. Und dass Frankenfelder zwar erfolgreich eliminiert und nach Leibeskräften enteiert worden, fort, fort und noch mal fort ist. Aber eben nicht: weg.
Wenn fort jedoch kein Zustand und weg keine Richtung ist – wo verdammt ist Frankenfelder dann? Das begann ich mich noch
am Abend unserer rauschenden Siegesfeier, die Beförderungsurkunde in der einen, ein Sektglas in der anderen Hand, zu fragen.
Wir töten nicht, wir eliminieren. Säbeln so lange an den Ecken und Kanten eines Individuums herum, bis es sich als enteiertes
Subjekt in die Gesellschaft zurückpressen lässt. Richtiggehend hineinflutschen muss das Individuum. Sich großartig vertun,
womöglich gar Fehler begehen kann man da nicht. Macht es nicht ordentlich, flutsch, so sind noch Eier dran. Schlimme Sache. Je geschmeidiger es zurückflutscht, desto größer die Gratifikation, desto heftiger das Schulterklopfen des Generalmajors.
Und Halleluja ist Frankenfelder, kaum war ich fertig mit ihm, geflutscht. Wie ein Wassertropfen, den man zurück ins Meer wirft, sah Frankenfelder aus, als ich mich mit einem Siegerlächeln nach neunzehn Jahren intensiver Arbeit von ihm verabschiedete.
Im Frühjahr 2016.
Ich habe gewonnen. Doch, wie ich es auch drehe und wende, so sehr ich mich an meinem Erfolg zu berauschen versuche, der
von mir erwünschte Zustand der Befriedigung mag sich nicht einstellen.
Mehr Informationen zu “Blaues Blut” – HIER.
Den Roman bestellen kann man entweder handsigniert HIER, oder – incl. den schmucken Frankenfelder-Postkarten HIER oder, klar: HIER.
Pingback: Suizid war gestern. Von einem, der sich erst all seiner Möbel, dann seines Ich-besoffenen Lebens entledigte. / Auszug aus dem Roman „Blaues Blut“ von David Wonschewski - augenauf.blog