David Wonschewski | Schriftsteller

Kulturjournalist – Romancier – bipolarer Bedenkenträger

Wie einer Liebe suchte, zum Stalker wurde. Leseprobe aus: David Wonschewski – “Zerteiltes Leid” (2015)

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Dann, im nächsten Moment, war Daddy fort. Und ich habe mit ansehen müssen, wie er gegangen ist. Ich stand im ersten Stock, direkt am Fenster unseres Kinderzimmers und aus der Dunkelheit hinter mir flüsterte Alina mir zu, dass ich schnell ins Bett kommen solle, schnell, ganz schnell, da wir sonst Ärger von Daddy kriegen. Aber ich habe aus dem Fenster geschaut und Daddy dort stehen sehen, unten auf der Straße und mitten im Regen.
Er hat seinen großen Hut aufgehabt und über seinen Schultern hing die dünne grüne Regenjacke, die er auch bei unserem Urlaub in Holland immer angehabt hat. Am Strand von Katwijk hat er sie getragen, diese Regenjacke. Ja, so habe ich ihn in Erinnerung behalten, meinen Daddy. Nicht so wie er bei uns zu Hause war, sondern so wie er sich am Strand von Katwijk gegeben hat, so trage ich ihn bis zum heutigen Tage mit mir herum. Von hinten blies der Wind und eine steife Brise durchpflügte ihm das schüttere Haar. Aber Daddy wurde nicht sauer deswegen, im Gegenteil, er lächelte. Bereitwillig ließ er sich die Frisur zerzauseln, ging in die Hocke, klatschte in die Hände und rief mich zu sich. Und ich, ich rannte los. Am Strand von Katwijk lief ich mit meinen kurzen Beinen, so schnell ich konnte, direkt auf Daddy zu. Und ich war noch gar nicht richtig bei ihm angekommen, da schnappte er mich auch schon, griff mit seinen langen, starken Armen nach mir und hob mich in die Höhe. Hoch über seinen Kopf hob er mich, so dass ich auf den weiten niederländischen Ozean hinaus blicken konnte.
Ja, so war das gewesen mit Daddy und mir am Strand von Katwijk. Jetzt aber lachte Daddy nicht und er klatschte auch nicht in die Hände, sondern stand einfach nur da in seiner dünnen grünen Regenjacke und schaute so leblos und starr wie meine Actionfiguren. Auch Mummy war da, sie stand aber nicht bei ihm, sondern einige Meter entfernt, direkt unter meinem Fenster. Ich konnte ihr von oben auf den Kopf sehen, als ich mein Gesicht an die Scheibe presste und steil nach unten schaute.
Komm ins Bett, flüsterte Alina erneut, aber ich kam nicht ins Bett. Denn da war Daddy, er stand im Regen, schaute Mummy an, sagte aber nichts. Stand einfach da, mitten im Regen. Ich wollte auf ihn zulaufen, doch ich konnte es nicht. Ich wollte ihm zurufen, er solle aus dem Regen raus und in unser Haus kommen oder doch zumindest seine dünne grüne Regenjacke überziehen. Doch ich traute mich nicht. Und so stand ich dort, stumm und bewegungslos, betrachtete Mummy, betrachtete Daddy. Und sah eine neue große Ohnmacht sich ausbreiten, direkt über ihnen, direkt zwischen ihnen.
Und dann, dann kam ein Auto. Daddy stieg ein und das Auto fuhr fort. Und ich wusste sofort, dass er nicht wiederkommen würde. Dass ich meinen Daddy soeben zum allerletzten Mal gesehen hatte.
Nein, er hat mich nicht sehen können, wie ich dort oben am Fenster stand, meine kleinen Hände und mein kleines Gesicht an die kalte, dunkle Fensterscheibe gepresst. Ich habe ihn rufen wollen, habe ihn bitten wollen, nicht in dieses Auto zu steigen, nicht fortzufahren. Doch mir fehlten die Stimme und auch die Worte dazu. Mir stolperten die Konsonanten durcheinander, Satzbausteine verreckten in meiner Kehle. Als Daddy ging, gluckste und krächzte ich nur. Niemand konnte mich hören, niemand, nicht einmal Alina, die irgendwo hinter mir in ihrem Bett lag.
Red anständig, wenn du was willst, hat sie viele Monate später zu mir gesagt. Wenn du weiter so stammelst, rafft dich kein Aas.
Und so stieg Daddy an diesem späten Abend in das Auto, mit einem Gesicht, das ich nie zuvor gesehen hatte an ihm. Er fuhr davon, entschwand aus unserem Leben. Nicht einmal tschüss hat er gesagt.

Über die nervenzermürbende Lachhaftigkeit psychischer Schräglagen: Lesen Sie auch „Schwarzer Frost“, „Geliebter Schmerz“ und „Zerteiltes Leid“ – die bisher erschienen drei Bücher von David Wonschewski. Mehr Informationen dazu gibt es: HIER.

Zum Autor:

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David Wonschewski, Jahrgang 1977, wuchs im Münsterland auf und ist seit 18 Jahren als Musikjournalist für Radio, Print & Online tätig. Als leitender Redakteur gestaltete er viele Jahre das Programm landesweiter Stationen, führte Interviews mit internationalen Künstlern, verfasste knapp 450 Rezensionen sowie PR-Texte für u.a. Reinhard Mey. Er ist Begründer (und nach aktuellem Stand auch Totengräber) des Liedermachermagazins „Ein Achtel Lorbeerblatt“ und saß von 2013 bis 2015 in der Jury der renommierten Liederbestenliste. Sein von der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft empfohlener Debütroman „Schwarzer Frost“ brachte ihm 2013 erste Vergleiche mit Autorengrößen wie David Foster Wallace, Bret Easton Ellis oder eben Thomas Bernhard ein. Der Nachfolger „Geliebter Schmerz“ erschien Anfang 2014, der Roman „Zerteiltes Leid“ wurde im Mai 2015 veröffentlicht.

„Wonschewski zieht alle Register der Vortragskunst bis hin zur schrillen Verzweiflung, die sich in drastischen Stimmlagen widerspiegelt. Ironie, Sarkasmus und Zynismus – der Autor versteht es vortrefflich, diese Stilmittel zu einem höchst amüsanten Cocktail zu mixen.“ (Rainer Nix, „Westfälische Nachrichten“, 10. Juni 2015).

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 30. Juli 2023 von in Nachrichten und getaggt mit , , , , , .
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