von David Wonschewski
Vorabfazit: 5 von 5 Sternen
Exakt 70 Bücher habe ich 2019 gelesen. Und wie HIER nachzulesen ist, gehörte “An einem Dienstag geboren” des Nigerianers Elnathan John dabei ganz klar zu meinen Favoriten.
Wie radikal und kriegerisch ist er nun eigentlich, der Islam? Und was treibt junge Afrikaner in die Arme terroristischer Gruppierungen wie beispielsweise Boko Haram? Auch wenn Elnathan Johns, natürlich, keine eindeutigen Antworten hat, so gelingt es ihm dennoch auf frappierende Art und Weise anhand seines jungen Protagonisten, Dantala, Einblicke in die Lebensrealitäten junger muslimischer Männer zu schaffen. Die menschlichen Aspekte hinter den – berechtigten oder unberechtigten – Islam-Vorurteilen von beispielsweise uns ach so aufgeklärten Europäern freizulegen.
Wie alt Dantala genau ist, weiß er gar nicht einmal, früh wurde er zum Straßenkind, das sich in marodierenden Gangs über Wasser hält. Aus jugendlichem Furor, Sinnsuche und fehlgelaufener Abenteuerlust, sicherlich – aber eben auch, weil es schlichtweg null Alternativen für ihn gab, wie Elnathan Johns eindrucksvoll nachzeichnet. Als sein bester Freund und Gang-Anführer bei einem Ihrer “Einsätze” ums Leben kommt, werden zum ersten Mal religiöse Geister auf den ziellos herumstreunenden Dantala aufmerksam. Und so entsagt er sich dem Gang-Leben und schließt sich der sunnitischen Bewegung des weisen Führers Sheikh Jamal und seines aufbrausenden Stellvertreters Malam Abdul-Nur an. Er zieht zu ihnen auf ihr Gelände, wo der wissbegierige Dantala nicht nur – endlich! – ersten Kontakt zu (auch “westlicher”) Bildung erhält. Sondern sich zum ersten Mal in seinem Leben mit seiner Sexualität auseinandersetzen muss.
“In dieser Nacht kam bloß Bilal zurück und ich tat, als ob ich schlafen würde. Wo Abdulkareem schlief oder ob er überhaupt schlief, weiß ich nicht. Obwohl ich sie ertappt hatte, würde Bilal garantiert versuchen, sich herauszulügen. Malam Junaidu sagte, von dieser Sünde kann man sich durch Fasten nicht reinwaschen. Ich habe von Männern gehört, die es miteinander treien, viele Hadiths über Sodomie gelesen, es aber nie mit eigenen Augen gesehen. Was sie wohl gemacht haben, bevor ich reinkam? Und wie sie es gemacht haben? Wenn ich mir vorstellte, wie schmerzhaft scheißen manchmal ist, vor allem,w enn ich viel Brot gegessen habe, fragte ich mich, ob es Bilal nicht wehtat, wenn Abdulkareems Schwanz in ihm drin war. Mir fiel das Hadith ein, in dem es heißt, dass jedes Mal, wenn Sodomie begangen wird, die Erde bebt, und überlegte, wie oft sie es wohl miteinander getrieben haben, und ob ich die Erde je habe beben spüren. Beim bloßen Gedanken daran wurde mir schon schlecht – Abdulkareem, der bill anfasst, Bilal, der sich nach vorne beugt -, warum machten sie lieber miteinander rum statt mit Mädchen?”
Nein, das Thema Sexualität und Islam wird von Elnathan John keineswegs schamhaft umschifft, im Gegenteil, er hält sozusagen “voll drauf”. Und es ist bewundernswert wie sehr ihm der Balanceakt gelingt islamisch geprägte Denkweisen einer patriarchalischen Gesellschaft emotional nachvollziehbar zu machen – und dabei nichts zu beschönigen, sich zu keinem Zeitpunkt gemein damit zu machen.
Ähnliches gelingt ihm mit der Religion. Schnell steigt Dantala in der Hierarchie der Bewegung auf, lässt er Gleichaltrige hinter sich – und geht, logisch, voll auf in einem System, das ihm die ersten Möglichkeiten, die ersten Lobe und Weihen seines Lebens einbringt. Hier vollbringt John eine weitere, sehr wichtige Kunstfertigkeit, die immer wieder in dem Roman aufblitzt: Er gibt dem in so üblen Verruf geratenen Islam die Möglichkeit aufzuzeigen, dass es noch immer einen Sinn ergibt, warum er zu einer Weltreligion wurde, er keineswegs aus Niederträchtigkeit geboren wurde, sondern wie er den Menschen etwas zu geben hat:
“Der Gebetsruf transportiert mich an einen unergründlichen Ort, weit weg von allem. Als hätte ich mich in mir selber verirrt, an einen dunklen, friedlichen Ort. Jeden Satz lasse ich so lange ausklingen, bis meine Lungen ganz leer sind, atme tief ein und lasse den nächsten Satz lange ausklingen. Ich tauche tief in diesen dunklen Ort ein, bis ich die letzten Worte spreche: La ilaha il-lallah. Ich versuche das Jibril zu erklären, aber er kann nicht verstehen, dass für mich das Singen dieser Worte das Schönste auf der Welt ist, ein Gefühl, dass allen Schmerz, alle Angst, alle Sorgen, alle Bedürfnisse vertreibt. Ich habe es ihn in unserem Zimmer versuchen lassen; ich sagte, er soll sich das Ohr zuhalten, einatmen, sich entspannen und so tun, als wäre niemand da, nicht einmal er selber. Er verstand es trotzdem nicht. Man merkt, wenn ein Muezzin sich an seinem Ruf erfreut oder ob er ihn bloß runtersingt, weil er muss, wie Abu, der ins Mikro gähnt, wenn er zum Fadschr-Gebet rufen muss. Wenn es nach mir ginge, dürfte Abu nie den Gebetsruf anstimmen.”
Es sind fast schon beiläufige Erwähnungen wie diese, die erahnen lassen, dass auch die muslimische Welt – was Wunder – kein uniformer Block ist. Sondern eine Ansammlung von Individuen, manche enthusiastisch wie Abdul-Nur oder zunehmend auch Dantala, andere liberaler, locker, nicht so engstirnig – wie beispielsweise sein Zimmergenose Jibril:
“Kurz nach dem Morgengebet sitze ich in Sheikhs Büro und lese eine Daily Trust von letzter Woche. Ich weiß nicht, warum jede Zeitung einen Sportteil haben muss. Es ärgert mich, wenn ich höre, wie sich Jungs, die kaum was zum Beißen haben, über Arsenal, Manchester und Real Madrid in die Haare kriegen. Weiß überhaupt einer dieser Fußballer oder Vereine von ihrer Existenz? Manchmal, vor allem, wenn sich die Jungs morgens hinter der Moschee versammeln und darüber streiten, welcher Verein der bessere ist, würde ich ihnen am liebsten einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf kippen. Das ist das Einzige, was mich an Jibril stört: er liebt alles, was mit Fußball zu tun hat. Er kennt die Namen sämtlicher Spieler und wieviel jeder von Ihnen verdient. Er hat einen Riesenstapel Sportzeitschriften, von denen er keine Ausgabe verpasst. Wenn er mich um fünfzig Naira bittet, weiß ich genau, dass er sich davon eine kaufen will. Ich habe ihm gesagt, er kriegt alles von mir, außer Geld für Sportzeitschriften.”
Ja, im Fahrwasser des mitunter brutalen Abdul-Nur, der im Laufe des Romans eine eigene, sehr radikale Splittergruppe gründen und Terroraktionen durchführen wird, radikalisiert sich auch Danatala zunehmend. Bis der Zeitpunkt kommt, an dem er sich entscheiden muss: Folgt er weiterhin dem sanften, gerechten, wahrlich weisen Sheikh Jamal, der Reden als das einzig stattbare Aktionsmittel begreift – oder schließt er sich Abdul-Nur an?
“An einem Dienstag geboren” ist nicht nur hoch spannend und erschütternd, sondern legt den Finger in Nebensträngen in viele weitere Wunden, dem für uns Westler mitunter kaum nachvollziehbaren grausamen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten beispielsweise, die Rolle von Afrikanern, die längst nach Europa ausgewandert sind, bei ihren Besuchen aber auch nichts anderes mehr drauf haben als etwas besserwisserisch herumzulabern. Oder auf Folter – oha: Folter. Dass der Roman unterm Strich zu keinem Zeitpunkt polarisiert, sondern verbindet, annähert macht ihn zu einem solch großen Wurf.
“Mit zu den schlimmsten Feinden des Islams gehören jene, die vorgeben, Muslime zu sein und Unschuldige ins Unglück stürzen. Jemand, der den Islam und seine Gebote nicht versteht, geht her und nennt sich Mujahideen. Der Islam legt niemand in Fesseln oder hält jemand beständig in Angst und Schrecken, wie sie es tun. Diese menschen sind unsere schlimmsten Feinde, Verräter im Innern. Da hockt einer, umgeben von Ungebildeten, auf einer Farm, und spricht Fatwas aus, wie es ihm in den Sinn kommt. Das soll Scharia sein? Das soll Islam sein? Ich sage euch, selbst wenn sie nicht jetzt ihre Strafe erhalten, müssen sie sich am Jüngsten Tag vor Allah verantworten.”
Weitere Literaturbesprechungen gibt es: HIER.
Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.