David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Wie ich einmal mit einem The Who-Shirt an der kreativen Berliner Elite vorbeilief. Soeben ausgelesen: Ralf Rothmann – „Stier“ (1991)

von David Wonschewski

Charlottenburg. Mein Entschluss war im Jahre 2008 reichlich überlegt – und erwies sich unter Kollegen und Freunden als reichlich unpopulär. Warum das so ist, sei den wenigen Leuten, die Berlin so gar nicht kennen, schnell erklärt: Wer zunächst, bei mir war es 2001, fremd in Berlin startet, der muss mit vielem vorliebnehmen, bei mir war es der Wedding. Seinerzeit noch zuvorderst Wohnort der Art von Ausländern, mit denen sogar der linkspolitische Zeitgenosse sich eher ungern umgab. Und auch ein paar wenigen Deutschen. Solchen, die es nicht geschafft hatten. Also nichts, gar nichts hatten die geschafft, Existenz als beständiger Stolpergang. Schafften mitunter gerade noch den täglichen Gang zum Supermarkt, der plastikbeutelbehangene Weg zurück ging dann nicht mehr so leicht von der Ferse. Da sah man sie dann zusammengesunken auf halbem Weg, an irgendeiner Wand lehnhocken, Prost, Süppelsüppel. Wedding eben. Klar, dass jeder zugezogene Provinzzögling von „watt Besseret“ träumt, einem nachbarschaftlich würdevolleren Ambiente, irgendwas an Flair. Finanziert dann bestenfalls vom so richtig oldschool monatlich Selbstverdienten. Man ist ja sehr für Underground, sich die Hose dabei schmutzig machen will man eher nicht. Stilvoll-intellektuell dem eigenen Untergang entgegen feiern konnten Medienschaffende und Kreative seinerzeit nur an drei Orten: Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Friedrichshain. „The places to be“.

Dummerweise hielt ich mich dort stets nur gerne auf, wohnen wollte ich da nie. Liegt vielleicht daran, dass diese holden Orte individualistischer Selbstfeierei mir zu uniform waren, zu gleichgeschaltet. Allein die Namen von Friseursalons oder Cafés, ganz schlimm. Wie ein einziger nimmer endender Lyrikwettbewerb. „An einem Sonntag im August …“ ist ein recht bekanntes Café dieser Art, der Titel ist auch toll, wenn nicht alles da so heißen würde. Einen Friseursalon namens „Bei Martina“ oder „Salon Schmidt“ findet man auch nicht und wenn man einen solchen Ort findet, dann ist es, ha, meistens eine Auftrittslocation für PoetrySlam. Ganz übel. Und der Stolz, mit dem mir ein Kumpel, wohnhaft Schönhauser Allee, mal erklärte, er habe seit Monaten einen Radius von 800 Metern nicht mehr überschreiten müssen, sei ja alles, aaallles! da, direkt vor der Haustür, sogar die hottesten Bands kämen ja quasi eher zu ihm, als dass er sich weit irgendwo hin bequemen müsste, nun, das kam mir nie so weltoffen vor, wie das Selbstverständnis hipper Berliner es eigentlich suggeriert.

Doch ich will fair sein. Vermutlich war ich schon immer ein wenig spießig, früh gealtert. Vielleicht habe ich mich auch deswegen in Charlottenburg immer am wohlsten gefühlt. Einer Gegend, in der man schon 2005 sehen konnte, wie der Prenzlauer Berg 2020 sein wird. Wohin so ein Bezirk torkelt, sobald auf jede Bierflasche drei bis vier Kinderwagen kommen. Der Himmel begrenzt, die Sichtweisen eingefahren sind. Vielleicht also war es auch immer meine eigene Arroganz, der ich in Friedrichshain begegnete. Ich wusste ja, dass die charlottenburgisierung der kreativen Elite unausweichlich ist. So wie eine Flasche, die man immer weiter und weiter zudreht, und die irgendwann dann unweigerlich wieder auf ist, so folgt auf Individualismus und vermeintliches Rebellentum immer etwas Blasiertes und Arriviertes. Und unter geständigen, blasiert Arrivierten fühle ich mich seit jeher besonders gut aufgehoben. Menschen ab 50 aufwärts, die modisch allesamt herumlaufen wie Galeristen oder Sessionmusiker. Leute, die zu linkspolitischen Konstantin-Wecker-Konzerten gehen, drinnen dann laut gegen das Establishment ansingen. Wohl wissend, dass sie zu ihren 68er- oder auch End-70er-Zeiten wohlsituierten Kackbratzen wie sich selbst zuallererst eins auf die Fresse gegeben hätten. Ich lebte ab 2008 dann also in Charlottenburg, „Krumme, Ecke Kant“, wie der Berliner zu durchaus bekannten Gegend sagt. Ein toller Ort für Milieustudien des älteren, zu kleinem Wohlstand gekommenen Berlin. Geschichtlich sogar aufgeladen, der Chansonnier Klaus Hoffmann zeigte mir nach einem Interview mal diesen seinen Heimatkiez und all die Orte, wo er vor Jahrzehnten mit Reinhard Mey, Hannes Wader und Co. becherte, auch wo die ersten großen Liedermacherclubs standen, wo manche Protestsängerkarriere begann. Alles dort, Krumme Straße und Co. Und wenn ich aus dem Fenster sah, den Kopf hübsch verrenkte, konnte ich sogar den Ort sehen, an dem im Juni 1967 deutsche Nachkriegsgeschichte geschrieben wurde, ein Herr Kurras unheilvoll auf einen Herrn Ohnsesorg traf. Und hielt ich den Schädel in die andere Richtung, glotzte ich auf den nichtssagenden Eingang des Kant-Kinos, eines der legendärsten Kinos für Independent-Filme und ab 1975 auch kleiner Startschuss schließlich großer Karrieren: The Jam, Ultravox, Can, Iggy Pop, Joy Dovision, David Bowie. Wer in jenen Jahren Underground war und in Berlin auftrat, tat das dort.

Wer sich fragt, was das mit „Stier“ von Ralf Rothmann zu tun hat, nun, einiges. Kommt das Debüt des geständigen Ruhrgebietlers doch so ein wenig wie eine Mischung aus Lutz Seilers 2020er Roman „Stern 111“ und „Irre“ von Rainald Goetz aus dem Jahr 1983 daher. Hippe, aber auch kritische Kommunennostalgie meets Krankenhauswahnsinn. Junge Menschen, die als Teil einer Bewegung in ein spießerfreies Leben starten, dann jedoch aufpassen müssen, bieten sich ab einem gewissen Alter gemeinhin doch nur zwei Optionen für derlei Gedankenhippies: Als gescheiterter Vollsuffi im Wedding stranden. Oder eben arriviert und letztlich wertkonservativ als grau melierter und sonnengebräunter Galerist in Charlottenburg zu enden.

„Stier“ ist ein Roman, der bei seinem Erscheinen 1991 einen wenig verklärenden Blick auf die bis dahin im linksliberalen Milieu gerne glorifizierte Generation der 1968er wagt. Kai Carlsen, der Protagonist, durchaus ein Rothmann-Alter Ego, bricht zunächst aus dem proletarischen Maurer-Milieu seiner Ruhrgebietsheimat aus, wird Teil der Subkultur rund um die Hippie-Kneipe „Blow Up“ in Essen und wohnt mit den angesagten Szene-Typen in einem halb verfallenen Haus. Der Traum des selbstbestimmten Ausstiegs wird durch eine kriminelle Clique gewaltsam beendet. Er kann sich gerade eben noch absetzen und erlebt später dann als Hilfspfleger in einem Krankenhaus das Scheitern der Hauptprotagonisten der 68er, hauptsächlich repräsentiert durch den Kneipenbesitzer Eckhart „Ecki“ Eberwein, dessen Träume schicksalhaft zugrunde gehen…

Rothmann selbst bekundete, für die 68er zu jung gewesen zu sein, jedoch viel Sympathie für die Punk-Bewegung gehabt zu haben, für die er jedoch wiederum zu alt gewesen sei. Diese innerliche Distanzierung des Post-68er Rothmann wird in „Stier“ nachgezeichnet, gleichzeitig ist der Roman jedoch auch ein Roman der Schriftsteller-Werdung. Die Figur des Kai Carlsen ist dabei typisch für die Romane Rothmanns: Kai zeigt als schüchterner Außenseiter die Welt des Ruhrgebiets mit seinen proletarischen Milieus mal als kühler, mal als melancholischer oder auch als verschmitzter Beobachter. Und diese kühle Beobachtung ermöglicht es ihm auch an der Entwicklung der Figuren teilzunehmen. Dies dürfte zunächst auf nicht wenige Entwicklungsromane zutreffen, aber die Art der Beobachtung ist bei Rothmann eine besondere: Die seelische Verfassung der Figuren Rothmanns wird meist sehr subtil oder untergründig als Andeutungen und in Halbsätzen zwischen Alltäglichkeiten aus dem Ruhrgebiet oder auch in Naturprozesse in den Text eingearbeitet, sodass man ohne aufmerksames Lesen die eigentliche seelische Entwicklung der Helden verpasst.

Lesend durch diesen „Stier“ zu laufen, das fühlt sich für mich tatsächlich ein wenig wie das Leben an, dass ich bis Ende 2016 in Charlottenburg führte, spürte, liebte. Denn neben den benannten Galeristen gab es dort auch viele, nun, junggebliebene Rockertypen, langhaarig, beohrringt, tätowiert. Nicht völlig im Eimer, kein Stück, schon noch sehr auf den Beinen geblieben. Mein direkter Nachbar war so einer, Ende 50, rannte immer mit langem schwarzen Ledermantel herum, sehr sanfter Typ. Sprach wenig, hinterließ nur diesen speziellen Geruch von Gras im Treppenhaus. Traf sich täglich ab 16 Uhr im Café unten, saß dann bis nach Mitternacht mit Kumpels da, alle das gleiche fortgeschrittene Alter, ähnlicher Schlag. Sahen alle aus wie Mitglieder der Band „City“ oder „Silly“ es bis heute auch noch tun. Nie stockbesoffen, nie ausfallend. Und nur einmal wirklich laut mir gegenüber. Das war ich aber selbst schuld. Ich war unbedarft mit meinem The Who-Shirt an ihnen vorbeigelaufen. Es erhob sich ein Jubel, mit so etwas hatte man wohl nicht gerechnet, ein 35-jähriger honoriert die Kultur der über 60-jährigen. Man feierte das bis zum Morgengrauen.

Ob es bedeutete, dass sie sich zurecht jünger fühlen durften, als sie waren oder ob es nicht vielmehr hieß, dass mein Eindruck von mir selbst, dass ich schon immer ein wenig älter war als mein Geburtsdatum sagt, nein, das wurde nicht diskutiert an jenem Abend.

Fazit: Locker und gut zu lesen, wenngleich es anno 2022 nicht mehr so aneckend wirkt wie vielleicht 1991 noch. Daher: 4 von 5 Sternen.

Unterstützen Sie den Autor dieser Zeilen, klicken Sie das Video unten. Anschauen bitte nicht, nur anklicken. Es ist verstörender als alles, was je in diesem Clip zu sehen war:

Ein Kommentar zu “Wie ich einmal mit einem The Who-Shirt an der kreativen Berliner Elite vorbeilief. Soeben ausgelesen: Ralf Rothmann – „Stier“ (1991)

  1. Stefanie schulte-rolfes
    13. Juni 2022

    Lieber David, das Buch hat mich vor 30 Jahren sehr beschäftigt. Ich war auch „ Hausbesetzerin und hatte 1 Jahr das Vergnügen und das Elend in dieser Szene zurecht zu kommen. Es steht hier noch in meinem Regal direkt neben Stern 111. Liebe Grüße aus der lauten Provinz 😊von Stefanie

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