von David Wonschewski
Vorabfazit: 3 von 5 Sternen
Ich habe ein seltenes Hobby. So selten, dass es dafür, so weit ich weiß, nicht einmal einen offiziellen Namen gibt. Ich nenne es daher: Crossartisting. Dieses Hobby widmet sich den Überlegungen, wie ein Kunstprodukt aus der einen Sparte wohl in der anderen Sparte aussehen würde. Oder, wenn das realisiert wurde, warum es hier funktioniert, dort aber nicht. Stelle mir also, als Beispiel, vor was für ein Gemälde van Gogh wohl aus Fassbinders Film “Welt am Draht” (1973) gemacht hätte. Dass mir derlei Überlegungen nahe am Unsinn Freude bereiten, hat einen realen Hintergrund. Zum einen trat ich lange Zeit in Programmen mit Musikern auf, also abwechselnd jeder für sich – und stellte fasziniert fest, welche Vorteile das eine, welche Vorteile das andere hat. Ich beneide Musiker live immer, weil ein halbwegs gelungenes Dreiminutenstück Zuschauer immer mehr erfreut als mein literarischer Laberblock. Dazu noch ein begleitendes Instrument, Takt, Rhythmus, vielleicht eine nette Stimme. Das ist eine Kurzweil, der man als Autor kaum was entgegenzusetzen hat. Man muss als Musiker schon ziemlich mies sein, damit sich die Leute in gemischten Programmen auf den Literaten freuen. Überhaupt die Länge, wo soll ich denn bitte einen Textblock von maximal 10 Minuten hernehmen? Das können nur PoetrySlammer, die sind aber auch wieder eine andere Gattung. Aber klar, das geht auch in die andere Richtung. Wie sagte ein Musiker mal zu mir: Mensch, David, hast du es gut – du liest alles vom Blatt ab und es erwartet auch keiner von dir, dass sich was reimt. Hm, auch was dran.
Und zum anderen hat der Autor Christopher Isherwood mal einen Roman geschrieben, “A Single Man” (1964) aus dem der Modedesigner Tom Ford einen gleichnamigen Film mit Colin Firth machte (2009), der mich derart inspirierte, dass ich einen darauf aufbauenden Kurztext schrieb – “Abschiedsbrief eines schändlich Verlassenen” – der wiederum die Liedermacherin Sarah Lesch zum Song “Matrose” kitzelte. Sachen gibts, die gibt es gar nicht.
Und nun also “Fahrenheit 451”, dieser dystopische Klassiker, den ich seit jeher lesen wollte, weil ich Truffaut-Freund bin. Und der diesen Roman 1966 verfilmte. Seit ich 25 war, wollte ich Film sehen und Buch lesen. Und tat es nicht. Aus dem simplen Grund, dass ich ein paar Fotos aus dem Film – wie nennt man das noch? Ich glaube “Stills” – also ein paar Stills sah. Und berechtigte Sorge hatte mir Truffaut und Bradbury auf ewig zu verleiden, wenn ich Filmbuch lesschaue. Es gibt auf Büchern basierende Filme, die altern einfach nicht, “A Clockwork Orange” gehört für mich dazu, den will ich gar nicht anno 2020 haben, der muss 1971 sein. Aber “Fahrenheit 451” von Truffaut ist mies gealtert, wirkt schon auf den Stills unfreiwillig klamaukig wie, tja, die alte Batman-Serie. Man kennt das, es gehört zu jeder Heldenverehrung: Im richtigen Moment auch mal wegschauen können.
Um es vorwegzunehmen: Als ich mich nun mit fast zwanzigjähriger Verzögerung zumindest an die Lektüre des Bradbury-Romans getraut habe, hatte ich alle zwei Seiten den Schauspieler Oskar Werner als Guy Montag im Hirn, schön mit Blecheimer auf dem Kopf. Aua.
Guy Montag erledigt routiniert seinen Job als Feuermann. Nicht zu verwechseln mit Feuerwehrmann, denn seine Aufgabe ist nicht das Löschen von Feuer, nein, er entzündet ebensolche. Bei seinen Einsätzen verbrennt er Bücher und empfindet dabei eine tiefe Befriedigung, da Bücher anerkanntermaßen nur Unruhe stiften, Menschen zum Sinnieren bringen und somit dem Unglück Tür und Tor öffnen. Verheiratet ist Guy mit Mildred, einer gleichermaßen stumpfen wie einfältigen Frau, die sich zuvorderst von den Fernsehwänden berieseln lässt. Die man sich als größtmögliche Screens vorstellen muss, da sie den Betrachtenden in einem Raum eben ganz umschließen. Und – wir sind hier eben ein wenig futuristisch unterwegs – diesen Betrachtenden auch in die Filmhandlung einbauen können. Die jedoch, klar, eher seicht ist.
Die junge Außenseiterin Clarisse ist es, die Guy – er begegnet ihr ungewollt immer auf deinem Weg zur Arbeit – dann doch zu dem bringt, was er aus Staatsraison niemals tun sollte: Nachdenken. Über sich, die Welt, Glück, Sinn. Tag für Tag beballert die freundliche Clarisse den armen Guy, bis das Vorhersehbare passiert: Mit in einem Bücherverbrennungseinsatz steckt er ein Buch ein, statt es in die Glut zu werfen. Ohwei. Der Anfang vom Ende, Guys Chef bekommt Wind davon und versucht, ihm gut zuzureden, doch es bringt nichts, Guys Obrigkeitsargwohn ist geweckt. Er merkt, dass in seinem Land etwas ganz entschieden falsch läuft und sucht die Verbindung zu einem alten Mann, einem Professor, der noch jene andere Zeit kannte. Und heckt mit ihm einen gar nicht einmal so üblen, aber recht arbeitsintensiven Plan aus, wie sie ihre Gesellschaft aus dieser alles einlullenden Stumpfheit retten könnten…
Liest man Bradburys Roman, so wird sofort klar, warum das Teil heute – absolut berechtigt – ein Klassiker ist. Fragt sich jedoch, warum es unmittelbar nach seiner Veröffentlichung schon dazu avancierte. Sicherlich, Bradbury nimmt hier viele Aspekte unserer heutigen 2020er Gesellschaft vorweg, allen voran, dass “wir” mittlerweile zunehmend unfähig sind, freiwillig lange Abhandlungen zu lesen, die verkürzte mediale Aufbereitung bevorzugen, die heftige Schlagzeile, die in bestenfalls vier Sätzen übermittelte Sensation, letztlich auch: Den schnellen Klick, das zügige Like. Bradbury hat zwar nicht das Internet vorweggenommen, aber durchaus was es mit uns macht, wenn selbst traditionelle Zeitungen die Printausgabe einstellen müssen, um sich auf die Jagd nach der schnellen Botschaft anzuschließen. Auch ist der Grundgedanke interessant und wieder aktuell, nämlich, dass wir Dinge, die uns entzweien und aufregen und unglücklich machen doch eigentlich einfach verbannen sollten. Stichwort Cancel Culture. Ich meine, wir sagen das immer so herablassend: “Aus den Augen aus dem Sinn” – aber warum eigentlich nicht? Guy Montag hat einen formidablen Chef, durchaus belesen und gerade deswegen überzeugt von seinem Handeln als Feuermann. Gerade die Argumente, die Bradbury diesem Chef in den Mund zu legt, sind schwerlich zu belächeln. Es ist einfach erwiesen, dass Leute zufriedener sind, je weniger sie sehen, wissen, mitbekommen. Der alte Sesamstraßenspruch – wer nicht fragt, bleibt dumm! – ist letztlich nichts anderes als in plumpen Singsang verpackte Höher, schneller, weiter-Mentalität. Glücklicher ist immer der, der eine Blume einfach nur anschauen mag und das schön findet. Sobald man anfängt zu überlegen, wie das wächst, woher die Farbe kommt, wie die Pflanzen-Tier-Boden-Interaktion hier wohl ist, ach, ist schon der Anfang vom Glücksende.
So gesehen bereitet die Lektüre von “Fahrenheit 451” genauso viel Freude wie die vom fast gleichalten anderen großen Dystopie-Klassiker “1984”. Mir scheint, Bradbury hat hier – er war gerade 33 Jahre alt und schrieb den Roman in neun Tagen herunter – echt was geraucht, um derlei zutreffende Visionen haben. Was die Lektüre jedoch ein wenig hinunterzieht, ist, dass die Story bestenfalls mittelmäßig ist, eher wenig auf den Hacken hat. Pageturner ist der Roman kein Stück, wie man überhaupt das Gefühl hat, Bradburys große Gedanken nach 100 Seiten verstanden zu haben und das Buch dementsprechend schon dann getrost beiseitelegen könnte.
Nein, ich werde mir den Truffaut nicht ansehen. Wenn das mittelmäßige Buch eines großen Hirns von einem fulminanten Regisseur zu Brei verfilmt wird – will ich da nicht bei sein. So wichtig ist mir mein Crossartisting nun echt nicht.
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Hab das Buch net gelesen, aber den Film gesehen. Stichwort “Cancel Culture”: Dumm bleiben durch Nichtwissen (etwa das Langston Hughes “Nigger” schrieb) ist ja schön. Aber dumm genug sind wir schon?
Yau. Das triffts.
Na da haben wir ja einen ähnlichen Eindruck, große Ideen im schalen Gewand, quasi.
Ich kenne den Film nicht. Nur das Buch. Als ich es las, irgendwann anfang der Nullerjahre, fand ich die Idee der Kenntnisvernichtung zwar interessant, aber das Buch fesselte nicht – erwies sich als schnell vergessbar. Und so geschah es dann auch.
Aber weil du es heute ansprichst: In die Gegenwart passt es extrem gut.