von David Wonschewski
Was macht einen wirklich großen Roman aus? Einen Roman, so groß, dass die spätere Vergabe des Nobelpreises an dessen Autor mit keinem Gedanken angezweifelt werden kann? Nun, als Orhan Pamuk 2006 den Nobelpreis erhielt, da hatte “Das stille Haus” schon 23 Jahre auf dem Buckel. Und lieferte doch, als erst zweiter Roman des türkischen Schriftstellers, einen frühen Hinweis darauf wie “Weltliteratur” auszusehen, zu riechen und zu schmecken hat. Und was ein solcher Weltliterat an Fertigkeiten mitbringen muss.
Eine erste große Fertigkeit, die oftmals auch mehr eine Fügung sein kann, ist mit Sicherheit das Gefühl einer Allgemeingültigkeit, das sich ergibt. Denn zwar spielt der Roman zu Beginn der 80er-Jahre in der Türkei und nimmt zuvorderst Bezug auf innere, rein türkische nationale Konflikte politischer, religiöser und sozialer Art – und doch kann man sich als deutscher Leser des Jahres 2019 nicht des Eindrucks erwehren, dass die dort beschriebenen Spannungen auch jetzt, im deutschen Hier und im europäischen Heute, topaktuell sind.
Nach dem Vorbild der Buddenbrooks ist “Das stille Haus” eine Mehrgenerationenerzählung, die sich in etwa von 1900 bis 1980 erstreckt. Der größte Teil dieser langen Zeit findet jedoch nur in den Erinnerungen der 90-jährigen Fatma statt, die in Ihrem großen Haus in der Provinz zu Beginn der 80er-Jahre zusammen mit Ihrem Haushälter, dem kleinwüchsigen Recep, auf den alljährlichen Besuch ihrer drei Enkel Faruk, Nilgün und Metin wartet. Faruk ist Anfang dreißig, studierter Historiker und im Begriff seine Doktorarbeit zu schreiben, derweil Nilgün mitsamt ihren frisch entflammten kommunistischen Ideen soeben erst ins Studentenleben startet und Metin kurz vor Ende der Schulzeit steht. Ihre Eltern sind bereits verstorben, sodass hier eine komplette Zwischengeneration fehlt, was sich immer wieder schmerzlich bemerkbar macht. Aufgezogen hat Pamuk die Erzählung dabei aus der Kapitel für Kapitel wechselnden Ich-Perspektive von fünf Personen: Fatma, Recep, Faruk, Metin und Hasan, dem Sohn von Receps Bruder, in etwa in Metins Alter, in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, perspektivlos und doch mit großen – zu großen – Sehnsüchten ausgestattet und somit ein leichtes Opfer national-faschistischen Gedankenguts.
Es ist die nationale türkische Zerreißprobe, die den Unterbau zu “Das stille Haus” liefert, jene Tragödie wie wohl kein zweites Land eingezwängt zu sein zwischen muslimischer Tradition und europäischer Moderne, zwischen geringer macht-, zugleich aber horrend großer geopolitischer Bedeutung. Zwischen dem Bewusstsein am Gängelband des Westens durch die Weltarena geschleift zu werden und zugleich das fast schon an einen Minderwertigkeitskomplex gemahnende Gefühl zu haben, dass diese Rolle nicht zuletzt auch der eigenen Behäbigkeit, Stumpfheit, wenn nicht gar Dummheit und Verstocktheit zu verdanken ist. Pamuks große Kunst ist das alles jedoch bestenfalls anzureißen und einzubetten in die größer aufgezogenen privaten Geschichten, bestehend aus nicht weniger als gescheiterten Sehnsüchten, die nahezu allesamt – und überall klar nachvollziehbar – in Scheitern, Hass und mitunter Gewalt stranden.
Faruk zerfleddert es charakterlich so sehr, dass seine Frau ihm abhaut und er zum orientierungslosen und entschlussunfähigen übergewichtigen Alkoholiker mutiert, völlig untauglich für ein Leben im Hier und Jetzt, hoffnungslos verirrt im Gestrüpp der türkischen Geschichte. Metin reißt sich im wahrsten Sinne des Wortes in der Schule den Allerwertesten auf, holt Bestnoten nach Hause, träumt von einem Studium in Amerika – um dann in seiner hoffnungslosen Liebe zu Ceylan zum wutschnaubenden Berserker zu mutieren, während Hasan, eher minderbemittelter Sohn eines gewalttätigen, hinkenden, mittellosen Losverkäufers, sich Träumen von Ansehen und Respekt hingibt, die er in der Realität jedoch nur durch Bedrohungsszenarien herbeizuführen und sich selbst der Frau, für die er seit seiner Kindheit so schwärmt, Nilgün, nur bedrohlich zu nähern weiß. Großmutter Fatma schließlich, als junges Mädchen zwangsverheiratet mit einem Mann, Selahattin, der sich mehr für die Dienstmagd und das jahrzehntelange, fürchterlich fruchtlose Schreiben an einer wuchtigen Enzyklopädie begeisterte als für seine Ehefrau, verhärtet und verbittert früh. Und reagiert auf eine Art und Weise, die maßgeblich dazu führt, dass das große Haus auf Jahre hinaus in Stlle getaucht wird:
“Am nächsten Morgen fuhr Selahattin nach Gebze. (…) Ich war allein zu Hause. (…) Wie geplant nahm ich meinen Stock, ging die Treppe hinunter und in den verschneiten Garten hinaus. (…) Im schmelzenden Schnee meine Spuren hinterlassend, ging ich auf den Sündenpfuhl zu, den der Teufel Hütte nannte! Dort angekommen, klopfte ich an, und jenes einfache Weib, jene dumme Dienstmagd, öffnete sogleich. (…) ich stieß sie beiseite und ging hinein, das also sind die Bastarde; sie versuchte meine Hand zu packen! (…) Bitte nicht, gnädige Frau, bitte nicht, was können denn die Kinder dafür! Ach Gott, lauft weg, Kinder, lauft weg! Aber das konnten sie ja nicht! Schmarotzer, Kadaver, Bastarde! Sie konnten nicht weglaufen, und so schlug ich auf sie ein, was, du willst die Hand gegen mich erheben, so schlug ich auch die Mutter, und als sie dann mich schlagen wollte, schlug ich um so fester zu, und am Ende brach natürlich sie zusammen, Selahattin, die du immer so fleißig und stark nanntest, nicht ich! Und dann sah ich mich um in dem grässlichen Sündenpfuhl, der seit fünf Jahren ganz hinten in unserem Garten stand, und ich horchte dabei auf das Wimmern der Bastarde. (…) Mein Gott, Blut und die noch immer weinenden Bastarde, mich ekelte, und als am Abend Selahattin kam, weinte er erst ein bißchen, und zehn Tage später schaffte er die drei in jenes ferne Dorf.”
Nicht weit genug, denn einer dieser Bastarde wird gegen ihren Willen, vom Leben gezeichnet, Jahre später in ihr Haus zurückgebracht, wo er der mittlerweile verwitweten Fatma als kleinwüchsige Haushilfe Recep über Jahrzehnte zur Hand geht.
Neben der dem Leben so positiv gegenüberstehenden Nilgün, die noch – noch – keine allzu negativen Erfahrungen gemacht hat, ist gerade dieser von der alten Fatma bis ins hohe Alter gedemütigte, von seiner Umwelt permanent verspottete Recep es, der als einziger nicht nach Würde trachtet – und vielleicht gerade deswegen eine solche ausstrahlt, nimmt er sein übles Schicksal doch geradezu stoisch bestenfalls zur Kenntnis, hält seine Sehnsüchte gering und tritt so als einzig ordnende Instanz auf in einer Familie, deren Bande untereinander längst ausgeleiert, fast zerrissen sind.
Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.