von David Wonschewski
Vorabfazit: 5 von 5 Sternen
Mit Blick auf das wohl größte amerikanische Fiasko, Debakel, Gemetzel und Trauma erklärte die Schauspielerin Jodie Foster einmal: ““Frauen sind nicht nach Vietnam gegangen und haben dort keine Städte und Dörfer in die Luft gesprengt. Sie sind keine Rambos”. Nun haben moralische Überheblichkeiten oftmals den praktischen Vorteil, dass sie weder zu verifizieren, noch zu falsifizieren sind. Amerikanische Frauen waren nicht aus Friedfertigkeit und Sanftmut nicht in Vietnam, sondern einfach nur, weil sie nicht hinmussten – und fertig. Was sie getan hätten, wenn sie gemusst hätten, dort gewesen wären, wir werden es nie erfahren. Muhammad Alis Weigerung, sich am Vietnamkrieg zu beteiligen, weil er ihn für ein Verbrechen ansah, brachte ihn auf dem Gipfel seiner Karriere ins Gefängnis und stahl ihm unwiederbringliche vier Jahre seiner Lebenszeit. Zur selben Zeit befand sich Jodie Foster im Übrigen ungefährdet im eigenen Zuhause, wurde reich und berühmt und verdiente Geld. Gut, wer nun genau nachrechnet wird feststellen, dass Foster bei Ende des Vietnamkrieges noch nicht volljährig war, dementsprechend wohl schon altersbedingt nie eingezogen worden wäre. Das aber ist letztlich einfach Glück (Alter) plus Privileg (Geschlecht) und ändert an der Gesamtbetrachtung wenig. Und doch finde ich derlei Überlegungen, wie Foster sie anstellte, interessant. Und auch berechtigt. Ich glaube auch, dass “Vietnam” mit, unter, durch Amerikanerinnen anders verlaufen wäre als durch Amerikaner. Nicht besser, aber doch und immerhin: anders fies.
Doch wozu in die Ferne schweifen, wenn die eigene Erbärmlichkeit liegt so nah? Denn was ist mit unserem eigenen Trauma, unserer größtenteils eingestandenen deutschen Schändlichkeit? Wir werden global mittlerweile gerühmt für unsere bis zur Selbstaufgabe betriebene Aufarbeitung der Nazi-Zeit, viele Nachbarländer, die es sich lange im puren Opferstatus bequem gemacht haben, ringen da bis heute noch viel mehr mit sich. Und doch ist da ein Punkt, der noch nicht so gern und völlig unzureichend beleuchtet wird: das sehr aktive Mitwirken von Frauen an unserer Schande. Im Juni 2020 veröffentlichte ein Münchener Historiker die Ergebnisse einer jahrelangen Studie. Er hatte sich der Mammutaufgabe gestellt, viele Tausend Briefe zu analysieren, die sich Wehrmachtssoldaten mit ihren Frauen und Freundinnen daheim schrieben. Die ernüchternde Erkenntnis: Verdammt viele Soldaten arbeiteten an der Front die weiblichen Wunschlisten aus der Heimat ab. Frei nach dem Motto: “Hallo, mein Held – wo du gerade durch Polen läufst, schau doch mal, ob da nicht irgendwo so eine hübsche goldene Uhr für dein Schätzchen zu finden ist, die sind hier doch so teuer! Dicker Kuss und pass auf dich auf!”. Ach, was weiß denn ich, nichts weiß ich. Ich kenne nur Fragen. Denn wenn hinter jedem erfolgreichen Mann eine starke Frau steht, wie wir so gerne bekennen, wer steht dann hinter all den Brutalos, Ärschen, Missetätern? Wir ahnen die Antwort, mögen sie jedoch auch anno 2020 noch nicht sonderlich, kriegen sie kaum in den Kopf, geschweige denn über die Lippen.
Ich bin mir nicht sicher, was die 1947 in einem Displaced Persons-Lager geborene Autorin Minka Pradelski – abgesehen von der eigenen Vergangenheitsbewältigung natürlich – angetrieben hat den gefühlt zehntausendsten Roman über die Nazi- und unmittelbare Nachkriegszeit zu veröffentlichen. Sicher bin ich mir allerdings, dass es ihr gelungen ist, diesem Thema 75 Jahre nach Kriegsende ungeheuerliche neuen Facetten abzu”gewinnen” (nie war der Begriff so unpassend wie hier). Eine Geschichte zu erzählen, die erzählt werden muss, weil sie so wie hier einfach noch nicht so oft, so intensiv, so klar erzählt worden ist. Eine Geschichte, in der es letztlich auch darum geht, welche Täter wir haben davonkommen lassen.
Doch zunächst will ich ehrlich sein: Mir selbst gekauft hätte ich das Buch nie, es freiwillig gelesen auch nicht. Das liegt zunächst am wahnsinnig schlechten Cover. Zwar vermag ich nach der Romanlektüre zu erahnen, was Verlag und Autorin zu einem solchen Cover bewogen haben, dennoch ist es in meiner Welt schlichtweg abschreckend, geradezu eine Aufforderung, es nicht zu lesen. Hintendrauf äußerst sich dann auch noch Iris Berben lobend – das geht alles so überhaupt nicht, ich ertrage sowas nicht. Naja und dann das Thema: KZ-Aufarbeitung. Puh. Ich bin sehr für stetiges Mahnen und gegen das Vergessen. Aber ich gehöre einer Schülergeneration an, die mit der Thematik leider ein wenig überversorgt wurde. Dass ich das Buch nun dennoch gelesen habe, liegt daran, dass die beste aller Frauen mitbekam, dass es in einer Literatursendung über den grünen Klee gelobt wurde – und meiner Mutter den Tipp gab, dass das doch ein veritables Weihnachtsgeschenk sein könnte.
Als ich es auspackte, musste ich – dieses Cover! – erst mal schlucken. Oh je, Haltung bewahren, nett lächeln, Dankeee Mamaaa! Und dann erst – ich muss potenzielle Leser darauf hinweisen – die ersten 40 Seiten. Die sich als derart daneben erwiesen, dass ich drauf und dran war meine Mutter zu bitten, für Weihnachten 2021 doch bitte wieder Socken oder Bettwäsche als Geschenk in Betracht zu ziehen. Es ist nämlich so: Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von drei Personen. Größtenteils aus Sicht der jungen Mutter und KZ-Überlebenden Klara, dann aus der ihres Mannes, Bromberger. Und dann noch aus der des Neugeborenen, des Säuglings, des Kleinkindes, zur Welt gebracht unmittelbar nach dem Krieg. Nun ist dieses Stilmittel einen intelligenten, enorm cleveren und nach Macht und Weltherrschaft strebenden Säugling sarkastisch und komödiantisch erzählen zu lassen bekanntlich keineswegs neu. Es ist allerdings ein Stilmittel, das bisher nur Seth MacFarlane (Macher der Cartoon-Serie “Family Guy”) perfekt beherrscht. Minka Pradelski sortiert sich mit ihrem ersten Kapitel, das aus der Sicht des Frischgeschlüpften erzählt wird, leider in der peinlich-abgeschmackten “Guck mal wer da spricht!”-Liga ein. Kein Witz, 40 Seiten lang war mir klar, dass das Weihnachtsgeschenk meiner Mutter wohl zu meinem bisher größten Verriss führen wird.
Aber dann. Öffnet Pradelski – wortwörtlich im Vorbeigehen – einen schwarzen Schlund. Und alles stürzt ein, alles stürzt hinein. Die junge Mutter, Klara, geht mit dem Kinderwagen spazieren und ihr entgegen kommt eine andere junge Frau, hochschwanger. Die blonden Haare sind mittlerweile dunkel gefärbt, aber Klara erkennt sie sofort. Es ist eine ehemalige KZ-Aufseherin. Der Krieg ist vorbei, wenn sich wer verstecken, wenn wer in Panik verfallen müsste, dann diese Frau – doch es ist Klara, die panisch flüchtet, einen Nervenzusammenbruch bekommt, sich daheim einschließt.
Und dann beginnt Klara sich in Rückblenden zu erinnern. Wie sie zu dem Menschen wurde, der sie nun ist. Die jüdischen Eltern, die ihr notgedrungen ein paar “deutsche Worte” und “christliche Verhaltensweisen” beibrachten, bevor sie Klara auf Nimmerwiedersehen wegschickten, fortjagten fast, um sie zu retten. Ihre Odyssee über Stadt und Land, von Hof zu Haus, von einem Unterschlupf in den nächsten. Inkognito, ein Leben im Untergrund, mit einem Decknamen notdürftig getarnt als Deutsche, jederzeit dem Risiko ausgesetzt, als eine aufzufallen, deren Jiddisch doch noch durchbricht, deren christliche Unerfahrenheit plötzlich für alle sichtbar und für sie lebensgefährlich deutlich zutage tritt. Minka Pradelski gelingt hier der erzählerisch bewunderswerte Spagat, die Geschichte einer Teenagerin zu erzählen, die Angst vor dem Offensichtlichen hat, der dabei aber gerade von dem nicht Offensichtlichen die Füße weggezogen werden. Das Offensichtliche, das ist verständliche Furcht vor dem Pfarrer, der ihr die Hostie in den Mund legt. Und natürlich die nachvollziehbare Angst vor uniformierten Männern, die ihr überall begegnen und die, da ist sie sicher, ihre wirkliche Herkunft und Religion auf fünf Meter riechen können. Wohin also? Klar, in die Häuser und Wohnungen, zu den alleinlebenden oder zurückgelassenen Frauen, Witwen, mitsamt ihren Töchtern, Mägden. Hinein in den weiblichen Schutzraum.
Keine gute Idee.
Beispiele für das, was geschieht, was der jungen Klara widerfährt, nenne ich hier bewusst nicht, das fiese und hinterhältige, letztlich erbarmungslos-brutale Verhalten von Frauen “mit Oberwasser”, man muss es gelesen haben, um zu verstehen, dass “toxisches” Verhalten – so man denn an diesem modernen und etwas unsäglichem Begriff festhalten will – auch weiblich ist. Sicher, in “Es wird wieder Tag” gibt es auch die fiesen Nazi-Schergen, nicht zu knapp, doch sie geraten hier fast blass gegenüber ihren weiblichen Pendants. Das liegt zum einen daran, dass namenlose uniformierte Systemträger immer nebulös sind, aber auch daran, dass die Geschichte des SS-Fieslings mit den blank polierten Stiefeln und dem schwarzen Ledermantel zwar niemals aus-, definitiv aber durcherzählt ist. So sehr durcherzählt, dass der Leser zwar mit der jungen Klara zittert, wenn der werte Herr Obersturmdings sich von ihr in seinem Büro erst bekellnern lässt, danach auch noch Lust auf Tanz mit der wehrlosen Minderjährigen hat, aber es erschüttert kaum noch, man kennt es ja längst, so waren die halt, weiß man doch. Richtig weh tut hingegen das Verhalten all der Frauen, denen die 13-Jährige auf ihrer Flucht, kurz bevor sie doch noch im KZ landet, begegnet. Die die Möglichkeit gehabt hätten ihr vielleicht Schutz zu gewähren, ganz sicher aber ein wenig Würde zu verleihen. Letztlich aber anders drauf waren, andere Ziele verfolgten.
Es gibt ein ganz großes Talent, das nur wenige Künstler beherrschen: Brutalität sichtbar zu machen, ohne explizit Brutalität zu schildern. Wer Michael Hanekes Film “Funny Games” von 1997 kennt, weiß, wie wirksam so etwas auf der Leinwand ist. Minka Pradelski gelingt dieses Kunststück zum (für mich) ersten Mal in Romanform. Wer Gewaltorgien sucht, Blut, Kampfhandlungen, Folterungen, nun, wird hier kaum fündig. Minka Pradelski schockiert sanft, entsetzt zahm, tut leise weh. Und verhält sich damit, das ist wahrlich interessant, gar nocht so anders wie die diversen Frauenfiguren in ihrem Roman. Kriminologen weisen schon seit geraumer Zeit darauf hin, dass das verbrecherische Gewaltpotenzial von Männern und Frauen etwa gleich ausgeprägt ist. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Männer dem Drang erliegen, bei der Ausübung von Gewalt auch ein Statement setzen zu wollen. Wenn ein Mann einen Menschen umbringt, muss man kein habilitierter Gerichtsmediziner sein, um bei der Leichenbeschau eine Ahnung zu haben, was da passiert ist. Wenn ein Mann in den eigenen vier Wänden auskreist, finden sich die entsprechenden Spuren auch tags drauf noch an Mensch und Gegenstand. Und wenn ein Mann sich umbringt, dann so, dass sich danach Hirn an der Decke findet, Innereien quer über die Bahngleise verteilt. Alles das trifft auf Frauen nicht zu, weibliche Gewalt lässt sich kaum fotografieren, schwerlich vermessen, findet daher auch seltener den Weg in Statistiken, wird verdeckt von der lauten, bildlich konkreten Aggressivbrutalität des Mannes. Exakt das offenzulegen ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Minka Pradelski schafft es.
Abschließend erwähnen möchte ich, dass der Roman – und deswegen kann ich trotz des verkorksten ersten Kapitels nur fünf Sterne, also volle Punktzahl vergeben – auch noch mehr zu bieten hat. Jüdisches Nachkriegsleid “neu” zu schildern, weiblicher Selbsthass, auch der Selbsthass der Überlebenden, diese abstruse Bereitschaft, eindeutig Opfer zu sein und sich dennoch selbst zum Mittäter zu stilisieren, die Scham der Überlebenden, die nachvollziehbare Unfähigkeit, sich nach dem Krieg auf Deutsche einzulassen – “Es wird wieder Tag” liefert derart viele Erinnerungen, Geschichten, kleine und kleinste Beispiele, dass man schon gar nicht mehr weiß, ob man nach der Lektüre einfach nur wahnsinnig mitgenommen, ohnmächtig, verzweifelt oder doch schon wütend ist. Stellvertretend erwähnt sei hier der ehemalige KZ-Häftling, der anderthalb Jahre nach Befreiung durch die Russen sehnsüchtig darauf wartet, dass die ihm kahl geschorenen Haare endlich wieder nachwachsen – sie wollen aber einfach nicht, er bleibt wie geschoren. Oder diese andere jüdische Mutter, deren Neugeborenes verhungert, da sich ihr Körper von den Strapazen der KZ-Zeit nicht mehr erholt hat, ausgemergelt bleibt, ihre Brüste nicht genug Milch produzieren. Und sie das Angebot der ebenfalls soeben Mutter gewordenen deutschen Nachbarin, das Kind an ihrer Brust zu stillen, einfach nicht annehmen kann, das Kind lieber sterben lässt als, tja, als das.
Doch, doch, es wird wieder Tag, ganz sicher wird es wieder Tag, immer und immer wieder. Und sollte jemand die Postadresse von Jodie Foster haben, gerne her damit. Ich schicke ihr gerne ein Exemplar, damit sie im festen Glauben Gutes zu tun nicht Schlechtes vollbringt. Sie wäre nicht die Erste.
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Puh. Das klingt nach einer krassen Lektüre. Die Erbarmungslosigkeit, die Kälte, die brutalität- das ist einfach etwas was ich nicht zu fassen vermag.