von David Wonschewski
Vorabfazit: 5 von 5 Sternen
Als ich 1999/2000 mit dem Rucksack einige Monate durch Israel und die palästinensischen Gebiete reiste, begegnete ich vielen – man ahnt es fast – Israelis. Und ich wurde erst mal mit einer sehr speziellen Form von israelischer Wut konfrontiert, einer Wut, die es in dieser Art wohl nirgends sonst zu finden gibt auf diesem Erdball.
Wütend worauf? Auf Araber, auf Palästinenser? Ja, auch, manchmal, oftmals aber gar nicht mal so sehr wie zuvor erwartet. Die Wut richtete sich, wie ich seinerzeit zunächst annahm, gegen die eigenen Leute. Israelis, die sich dafür entschieden sich in der Westbank anzusiedeln. Obschon dieses Gebiet, eigentlich, politisch, den Palästinensern zugesprochen worden war. Auch heute, zwanzig Jahre später, sind exakt diese Leute eines der Kernprobleme, wenn es darum geht eine Annäherung zwischen Israelis und Palästinensern herbeizuführen. Nun, als ich nach Israel kam, war ich der Ansicht, das Problem liberaler Israelis mit diesen Siedlern sei das handelsübliche, eines, das fast jede Nation im Umgang mit seinen eigenen radikaleren Kräften hat: 90 Prozent aller Bewohner verhalten sich super, eine Minderheit macht alles kaputt. Aber weit gefehlt, und hier wird es eben speziell: Jene Leute, die sich aus religiös-politischen Gründen dazu entschieden sich provokant auf palästinensischem Gebiet breitzumachen (und einen beträchtlichen militärischen Sicherheits- und Schutzapparat hinterherzuziehen), das waren und sind selten Israelis, die in Tel Aviv oder Tiberias aufwachsen und irgendwann dahinziehen. Sondern es sind zumeist Juden aus der Diaspora, Osteuropäer, Amerikaner oft. Die in zumeist relativer Behaglichkeit in den USA oder England oder Russland leben und dann irgendwann, so erzählten mir die wütenden liberalen Israelis: einen Hau kriegen. Langeweile, Midlife Crisis, wer weiß das schon. Sich plötzlich ihrer jüdischen Wurzeln entsinnen und gleich aufs Ganze gehen wollen. Zahnarztpraxis in Jerusalem eröffnen? Vergiss es – Bart wachsen lassen, Kippa auf den Kopf, ab ins Minenfeld, bestenfalls mit Kind und Kegel. Bis sie dann merken, dass Krieg irgendwie doch nicht so wahnsinnig spannend ist und das behagliche Leben in Brooklyn gar nicht mal so übel war. Nach einigen Monaten oder wenigen Jahren reisen sie wieder ab, “nach Hause”. Und hinterlassen verbrannte Erde. Aufräumen im Krawalladen darf der liberale Israeli, der eh nicht wusste, was ein Jude in der Westbank zu suchen hat, was der Quatsch überhaupt soll.
Mit exakt diesem “Quatsch” beschäftigt sich Philip Roth in seinem psychologisch-politischen Roman “Gegenleben”. Sein legendäres alter ego Nathan Zuckerman, schwarzes Literatenschaf der eigenen Sippe, muss erleben, wie sein wesentlich besser geratener Bruder Henry im Alter von knapp 40 Jahren von einem auf den anderen Tag seine Zahnarztpraxis in New Jersey dicht macht, die gute Ehefrau und die wohlgeratenen Kinder verlässt. Um sich dem radikalen Siedler Mordechai Lippman anzuschließen, sich in einer Siedlung nahe Hebron niederzulassen. Ehefrau und Kinder verstehen die Welt nicht mehr – am allerwenigsten aber Nathan selbst, der große Bruder, der literarische Welterklärer, der psychologisch versierte Hinter-den-Vorhang-Blicker.
Henry musste aufgrund einer Erkrankung Tabletten nehmen, die ihn impotent machten, was ihm wiederum schwerer zu schaffen machte, als seine Frau und Nathan im zugestehen wollten. Aber Hebron? Lippman? Militanter Zionismus, überhaupt: Religion??
Nathan macht sich auf die Reise, fliegt aus England, wo er mittlerweile mit einer jüngeren Frau aus der nobleren Gesellschaft lebt, nach Israel. Stellt mit seiner links-liberalen intellektuellen Überlegenheit, die – wie bei üblich bei Roth – gerne und oft auch in den Bereich einer Überheblichkeit überschwappt, nicht nur seinen Bruder, sondern auch den charismatischen, deutschstämmigen Aufrührer Lippman zur Rede. Und wird, sagen wir es mal so salopp, von Lippman ordentlich abgebügelt:
“Als ich in Deutschland in einem Nazi-Gymnasium war, hätte ich mir da träumen lassen, dass ich eines Tages mit meiner Familie in meinem eigenen Haus in Judäa sitzen und mit ihnen Sabbat feiern würde? Wer hätte unter den Nazis so etwas glauben können? Juden in Judäa? Juden wieder in Hebron? Dasselbe sagen sie heute in Tel Aviv. Wenn Juden es wagen, hinzugehen und sich in Judäa anzusiedeln, dann wird die Erde aufhören sich um die eigene Achse zu drehen. Doch hat die Welt aufgehört sich um die eigene Achse zu drehen? Hat sie aufgehört ihre Kreisbahn um die Sonne zu ziehen, weil Juden zurückgekehrt sind, um in ihrer biblischen Heimat zu leben? Nichts ist unmöglich. Alles, was der Jude entscheiden muss, ist, was er will – dann kann er handeln und es erreichen. Er kann es sich nicht leisten, müde zu sein, erschöpft zu sein, herumzugehen und zu greinen: Gebt dem Araber, was ihr wollt, gebt ihm alles, solange es nur keinen Ärger gibt! Denn der Araber wird nehmen, was man ihm gibt, und dann den Krieg fortsetzen, und statt weniger Ärger wird es mehr Ärger geben. Hanoch sagt mir, dass Sie in Tel Aviv waren. Haben Sie Gelegenheit gehabt, mit all den Netten und Braven dort zu sprechen, die human sein wollen? Human! Es ist ihnen peinlich, was man alles machen muss, um in einem Dschungel zu überleben. Und das hier ist ein Dschungel, überall umgeben von Wölfen! Wir haben schwache Leute hier, weiche Leute, die ihre Feigheit gerne jüdische Moral nennen. Nun denn, man lasse sie ihre jüdische Moral praktizieren, und es wird zu ihrer Zerstörung führen. Und danach, das kann ich Ihnen versichern, wird die Welt zu dem Schluß kommen, dass es wieder die Juden selbst waren, dass sie wieder schuldig sind – verantwortlich für einen zweiten Holocaust genauso wie für den ersten. Aber es wird keinen Holocaust mehr geben. Wir sind nicht hierher gekommen, um Friedhöfe anzulegen. Wir haben genug Friedhöfe gehabt. Wir sind hierhergekommen, um zu leben, nicht um zu sterben.”
Dass Zuckerman sich von Lippman und den anderen Siedlern argumentativ an den Rand drängen lässt, bedeutet nicht, dass er nichts zu erwidern hätte. Hat er, natürlich. Er singt sein Hohelied auf den Liberalismus, die geistige Freiheit, die es ihm erlaubt sein eigenes Jüdischsein als nicht mehr zu empfinden als eine Randnotiz in seinem Pass. Er argumentiert mit Vernunft und Logik, gibt Paroli. Und auch wenn Nathan Zuckerman, so empfinden wir es, auf der richtigen Seite steht: Automatisch Recht, das legt Roth in seinen streitlustigen Dialogen sehr gut offen, hat er dadurch nicht.
Überhaupt die Dialoge in “Gegenleben”, hochpolitisch, tiefenpsychologisch, ein Fest – man kann es gar nicht anders sagen – für einen jeden Leser, der über eigene Gedanken und Reflexionen im Überfluss verfügt. Ja, wir finden uns – ich finde mich – wieder in Nathan Zuckerman, der, das wird in diesen Dialogen, denen man beiwohnt wie Boxkämpfen, deutlich, einen klaren Standpunkt auf rutschigem Grunde hat.
Schon mit seinem Debütroman “Portnoys Beschwerden” hatte Philip Roth knapp zwanzig Jahre vor “Gegenleben” seinen markanten Stil gefunden: Eine Mischung aus Politik, Psychologie und Religion, das Ganze formuliert aus der Sicht eines Zynikers, eines Misanthropen. Mit oftmals urkomischen Ergebnissen, bitteren Pointen, die einen gleichermaßen laut auflachen wie verschämt bis pikiert schlucken lassen. Man kann ihm vorwerfen, dass er hier, in “Gegenleben”, ein paar Themenfelder zu viele aufreißt. Denn kaum hat er den Siedler-Komplex nach diversen Seiten abgehakt, kümmert er sich in einem zweiten Strang um sein Verhältnis mit der jungen Engländerin. Von Siedlern ist von da an kaum noch die Rede und es erscheint zunächst, als hätte Roth zwei unfertige Manuskripte einfach zusammengeklatscht. Hat er aber nicht, natürlich nicht, im Gegenteil: Indem er analysiert, warum er, der kinderlose amerikanische New Yorker Intellektuelle Mitte vierzig sich als dritte Ehefrau wieder eine wesentlich jüngere Dame sucht, wieder eine Nicht-Jüdin, wieder eine, die von seinem eigenen Leben ziemlich weit weg ist – und indem er auch untersucht, was sie eigentlich von ihm will, was sie daran hindert sich einen englischen Snob zu suchen und sich auf einem britischen Landsitz niederzulassen, zeigt Roth sein eigentliches Thema auf: diese verdammte Sehnsucht, die fast jeden Menschen einmal (oder auch permanent) packt. Die Sehnsucht nach einem komplett anderen Leben, einer neuen Identität. Etwas, das möglichst weit weg ist von dem, was man aktuell ist, was man immer war. Ja, ein Hauch von Midlife Crisis liegt über alldem, man fühlt sich – wie so oft bei Roth – wie in einem Woody Allen-Film, der das ständige Rumgehirne an Sehnsüchten und Möglichkeiten noch weiter auf die Spitze treibt, bis zum Erbrechen auslotet. Mit interessanten Folgen: Nathan, der sich kaum bis gar nicht als Jude fühlte in den USA, stößt in der englischen Oberschicht plötzlich in den belanglosesten Nebensätzen auf Antisemitismus, fängt an die jüdische Einzigartigkeit in den Vordergrund zu stellen. Als Schutzschild, als Attacke – oder, wie seine junge Frau im vorwirft, doch einfach nur als sehr bequeme identitätsstiftende Paranoia?
Dass Roth, wie so oft, hier einen herrlichen literarisch-handwerklichen Erzählkniff anwendet, erwähne ich, ohne jedoch näher daraus einzugehen. Es würde potenziellen Lesern ein großartiges Lektüre-Erlebnis verwehren.
Sechs Bücher habe ich von Roth inzwischen gelesen und es ist unschwer zu erkennen, dass ich “Fan” bin. “Gegenleben” ist mit Sicherheit nicht sein bestes Werk, aber vielschichtig genug, um mich noch Tage später an die dort geäußerten Überlegungen nachsinnieren zu lassen. Sicherlich, ein paar weniger Seiten zum Thema Sexualität würden seine Bücher vom Verdacht befreien, es hier mit den widerlichen selbstreferentiellen Ergüssen eines sabbernden weißen Fast-Greises zu tun zu haben (der Vorwurf, der auch Woody Allen bis in Grab verfolgen wird, hat gewiss seine Berechtigung). Doch unterm Strich ist das für mich sehr okay, da Roth mit niemandem so hart ins Gericht geht wie mit seinem oftmals genutzten alter ego Nathan Zuckerman. Und sich nie davor scheut von links wie rechts, von reicht wie arm, von Mann wie Frau, Jude und Nicht-Jude gleichermaßen eins auf die Nase zu kriegen.
Roth macht sich hassenswert, um zu Liebe zu spüren.
Weitere Literaturbesprechungen gibt es: HIER.
Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.
Dann versuche ich mal das Fluffige – Danke ;)))
Sehr gerne – also “Mein Leben als Mann” hat mich sehr umgehauen. Auch “Mein Mann der Kommunist”. Eigentlich sind beides Abrechnungen mit Frauen, wie man den Titeln unschwer entnimmt. Gut finde ich die Bücher jedoch, da er sich selbst eben null schont. Also nix von wegen “alle doof, nur ich nicht”. Das wäre natürlich unerträglich. “Portnoys Beschwerden”, das Debüt, liest sich natürlich am fluffigsten, fängt allerdings etwas “klamottig” an, es braucht seine 150 Seiten bis man merkt wie tief Roth sich hier mit seiner jüdischen Erziehung auseinandersetzt.
Danke für die interessante Rezension! Welches von den 6 Büchern ist denn deiner Meinung nach das Beste, wenn man von Roth noch keines gelesen hat???
Danke für die spannende Rezension! Welches von den 6 Büchern ist denn deiner Meinung das Beste???