Nikoletta Kiss und David Wonschewski, Autorin und Autor sehr unterschiedlicher Bücher, lesen gemeinsam Romane – und streiten. Das Konzept ist denkbar einfach: Sie mailen sich hin und her. Der eine reagiert auf die Äußerungen des anderen, Missverständnisse und aneinander Vorbeireden inklusive. Einfach laufen lassen. Schauen wohin es führt. Ob es überhaupt irgendwohin führt.
In der zweiten Ausgabe von „Tanz auf Buchrücken“ haben sich die beiden auf den Roman „Siegerin“ von Yishai Sarid geeinigt. Der Roman hat beide außerordentlich begeistert und bietet Stoff für hitzige Diskussion.
Zum Inhalt:
Abigail ist Psychologin und berät seit Jahrzehnten das israelische Militär. Sie therapiert zuvorderst nach Einsätzen traumatisierte Soldaten, bald soll sie auch dabei helfen, Traumatisierungen gar nicht erst entstehen zu lassen, also junge Soldaten und Soldatinnen in der Ausbildung mental dahin zu trainieren, mit all den Grausamkeiten, die einem auf dem Schlachtfeld und im Häuserkampf so begegnen können, besser klar zu kommen. Das Töten zu erleichtern. Je höher Abigail durch ihre erfolgreiche Tätigkeit für die Armee auf der Karriereleiter steigt, desto tiefer sinkt sie moralisch. Das Ziel ist nicht mehr, die seelische Gesundheit der Soldaten zu erhalten, sondern sie effizienter zu machen. Doch dann wird ihr einziger, nunmehr volljähriger Sohn einberufen. Er meldet sich freiwillig zu einem der gefährlichsten Kampfeinheiten, den Fallschirmjägern.
Nikoletta: Ich gebe zu, David, ich wäre ohne deine begeisterte Besprechung (diese Besprechung findet sich HIER) nicht zu einem Kriegsroman bzw. einen Roman über Militärpsychologie gekommen. Ich muss sagen, der Roman hat mich von der ersten Seite an gebannt. Und jetzt brenne ich darauf, mit dir über dieses Buch zu sprechen. Du stellst in deiner Besprechung eine hoch interessante These auf, die ich ganz so undiskutiert nicht stehen lassen möchte. Aber bevor wir zu dieser kommen, du erwähntest, dieses Buch sei dein bisheriges Jahreshighlight, erzählst du kurz warum?
David: Gerne! Nun, „Siegerin“ ist eigentlich kein Kriegsroman, auch brutale Szenen finden sich im Grunde gar nicht, wie ich überhaupt finde, dass es sich um ein sehr weibliches Buch handelt, was dem harten Thema denkbar guttut. Durch das Einsetzen einer Protagonistin gelingt es Sarid sich dem Thema des Tötens zu nähern, ohne in ermüdend-altbackenen Geschlechtsklischees zu stranden, ohne zu Heroisieren oder sich aschfahl zu rechtfertigen. Eine große Stärke des Romans ist, dass er komplett moralfrei daherkommt, knochentrocken und zugleich emotional ist, lehrreich, aber nie belehrend. Was mich persönlich aber richtiggehend kickt ist, dass es Sarid gelingt, einen durchaus massentauglichen Roman in die Spur zu setzen, der, wie es so nett heißt, komplett gegen den Strich gebürstet ist. Nicht nur weil es hier eine Frau ist, die ihr eigenes Verhältnis zu Gewalt und ihre letztlich auch sexuelle Affinität zu gewaltbereiten Kerlen untersucht, sondern weil es das Thema Traumabewältigung nicht immer nur vom zerstörten Endpunkt aus betrachtet, sondern vom Anfang her denkt. Denn dass das Töten von Menschen menschlich ist, mag nicht jedem gefallen, ist jedoch leider nicht aus der Welt zu schaffen.
Nikoletta: Dass das Töten menschlich sei, halte ich für eine steile These, David.
David: Was soll den daran steil sein, beziehungsweise: Wo ist denn da die These? Mehr Fakt als das geht nicht. Oder?
Nikoletta: Das musst du mir jetzt einmal näher ausführen, bitte.
David: Wir sollten unseren Mann-Frau-Diskurs, den wir so ein wenig zur Leitlinie unserer Besprechungen gemacht haben, zwar nicht überstrapazieren, ich ahne aber, dass „Gender“ hier eventuell ein Hauptpunkt ist. Männer sehen das mit dem Töten und Getötetwerden (das gehört unabdingbar zusammen, gibt es nur im Mental-Pack, nie allein) gewiss anders als Frauen und haben ein etwas anderes Verhältnis dazu. Warum? Gute Frage, eventuell muss man den Feminist*knickknack*Innen da recht geben, alles an-sozialisiert. Ich weiß seit jeher, dass mein Alltag vielleicht höher eingeschätzt wird als der von Frauen, mein Leben aber eben nicht, das empfinde ich als offiziell weniger wert. Wird mir ja auch überall entgegengeschleudert. Letztlich eine Ansammlung sehr unterschiedlicher Aspekte, die jedoch zu einem eindeutigen Grundtenor führen. Ein paar Beispiele: Wenn du zum Bund musst und da dann eine Nummer kriegst, die du um den Hals trägst, macht das was mit dir. Wenn du weißt, jeder erwartet von dir, dass du dem nächtlich seltsamen Knacken unten im Haus nachgehst und nicht deine Frau, obschon es dafür kein echtes Argument gibt, macht auch das was mit dir. Wenn ein Schiff untergeht, darf die Frau ins Boot, nicht ich, warum? Es gibt keine Gründe. Wenn du mal schaust, wer die größte Opfergruppe weltweit ist, wer am meisten Gewalt erträgt, erleidet, daran stirbt und das alles nur aufgrund seines Geschlechts – und das sind eben nicht Frauen – erkennst du was. Wenn der Tagesschausprecher tausendmal im Jahr sagt „darunter auch Frauen und Kinder“, aber nie „darunter auch nicht minder unschuldige Männer“, lernst du was. Und wenn Boko Haram in Nigeria jahrelang in Schulen eindringt und ausschließlich hundertfach kleine Jungen massakriert, ohne dass es im ach so wertebasierten Westen irgendwen juckt, kaum aber – leider eine clevere Aktion dieser Idioten – werden 200 Mädchen entführt (bewusst nicht getötet), schickt die gesamte Politprominenz angeführt von Frau Obama Hashtag-Schockwellen über den Globus, tja, dann wird man nun einmal auch etwas zynisch was das angeht. Ich glaube tatsächlich, dass Gewalt und Tod für Männer per se auch wegen all solcher sich ansammelnder „Kleinigkeiten“ nahe liegender und daher letztlich normaler und damit natürlicher sind. So normal, dass man – wir – nicht einmal auf die Idee kommen da ein Thema zu sehen. Auf den großen Männeraufschrei über diese himmelschreiend ungerechte Schieflage in der Bewertung von Leben warten wir ja bis heute. Was, zugegeben, aber an Männern wie mir liegt. Denn es fühlt sich auch für Männer ja nicht falsch an, wenn der Kommissar im Krimi dem Bankräuber im Gebäude zuruft: „Herrje, nun lassen Sie doch wenigstens die Frauen gehen!“. Mann wundert sich zwar was der Quatsch soll, akzeptiert es aber, weil anerzogen. Falsch fühlt es sich erst in dem Moment an, wo das feministische Narrativ dir erzählen will, dass Frauenleben weniger wert seien in unserer Gesellschaft. Und diese (zumindest aus Männersicht) inkorrekte Gesellschaftsdiagnose zur Basis von Veränderungen machen will. Ist doch klar, dass da dann viele nicht mitmachen, ganz einfach, weil schon die Grundannahme Möhre ist. Und genau das ist der Punkt, den Sarid leistet, er dreht den Spieß mal etwas um, ganz leicht nur. Deswegen ist das für mich auch ein durchaus feministisches Buch, selten einen Roman aus männlicher Feder gelesen, in dem Frauen derart ernst und gleichgestellt genommen wurden.
Nikoletta: Das klingt ungerecht, da magst du recht haben, aber die Gründe für dieses Ungleichgewicht liegen auf der Hand. Frauen gelten aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit relativ zum Mann als schützenswert. Und es bringt eben auch für die Erhaltung der Art mehr, neun Frauen und einen Mann ins Boot zu retten, als umgekehrt eine Frau und neun Männer. Stellen wir uns nur letztere Variante auf einer einsamen Insel vor. Das würde böse enden. Ich würde sogar laienhaft behaupten, dass es nicht nur um Sozialisierung geht, sondern um Gene und Hormone. Als Mutter einer Tochter und eines Sohnes beobachte ich mit Erstaunen, welche Bedeutung vom Kleinkindalter an Körperlichkeit und Stärke für meinen Sohn spielt, wie er sich mit fünf Jahren als mein Beschützer versteht, sich mit seinen Freunden kloppt und sich mit Rittern identifiziert, während meine Tochter seit jüngstem Kindergartenalter bereits komplexe Psychospielchen mit ihren Freundinnen treibt. Meine Erfahrungen sind natürlich nicht zu verallgemeinern, aber bezögen wir sie auf deine These, hieße es eher: Töten sei männlich. Doch auch das geht mir zu weit. Es gibt doch einen Unterschied zwischen männlicher Gewaltbereitschaft und dem Töten.
David: Töten ist gewiss nicht männlich. Töten ist menschlich, wird aber den Männern zugeschrieben. Wenn du Mal mit Leuten aus der Sicherheitsbranche redest, die zum Beispiel das Treiben in Diskotheken beobachten, dann bekommst du das Bild auch. Bewusst plakativ formuliert: Frauen befeuern oder fordern gar Gewalt, Männer erfüllen sie – leider viel zu oft in einer Art vorauseilendem Gehorsam, was die Zuschreibung von Schuld ja so kompliziert macht. Gewalt und Töten als „männlich-toxisch“ hinzustellen ist immer auch etwas hinterhältig oder zumindest einäugig. Die meisten Frauen wissen aber durchaus darum, wie so oft ist es eine feministische Minderheit, die hier den/die Laute*n macht, indem sie auf Simplifizierung setzt. Klar, nicht jeder gewaltbereite Mensch ist auch bereit zu töten, aber Gewaltbereitschaft ist ja nun einmal die unabdingbare Vorstufe. Man kommt ja nicht aus Nettigkeit und ohne Zwischenstufe zum Töten, da sind mentale Barrieren zwischen, die übersprungen werden müssen. Die von mir genannten Faktoren führen dazu, dass Männer dem ganzen Themenkomplex daher im wahrsten Sinne des Wortes aufgeschlossener gegenüberstehen. Schlagen und geschlagen werden, töten und getötet werden – natürlich klingt das sehr nach altem und ältestem Testament, ist es auch. Ich habe aber so das Gefühl, dass die meisten Männer da näher dran sind als viele Frauen und aufgrund der weniger großen Distanz eben eine gewisse, nun, Normalität darin sehen können. Es war immer so und es wird halt immer so sein.
Nikoletta: Sarids Protagonistin Abigail, die das Militär psychologisch betreut, sagt selbst, dass die meisten Menschen vom Töten zurückschrecken. Nur die wenigsten leiden nicht unter Tötungsakten, entwickeln keine Schuldgefühle, nicht zu sprechen von den Soldaten, die mit posttraumatischen Belastungsstörungen aus dem Krieg zurückkehren. Das Militär habe die Aufgabe, diese weichliche Mehrheit zum Töten auszubilden. Das heißt also, Soldaten und Soldatinnen werden abgerichtet durch Hierarchien, Schikane, Rituale, Strafen, totale Unterwerfung also, und somit zum Töten befähigt. Sie sagt sogar: “Auf dem Höhepunkt knurrten und brummten sie (die Soldaten) wie dressierte Tiere, die bald auf Beute losgelassen werden würden.” Das klingt für mich nicht, als wäre das Töten so menschlich/männlich, es klingt eher nach Gehirnwäsche.
David: Ja, aber was ist denn Gehirnwäsche? Wenn du ne dreckige Hose wäschst, dann um sie im sauberen Urzustand zu erhalten. Gehirnwäsche ist ein doofer Begriff, setzt aber doch da an: Fokussieren auf das, was eh im Menschen angelegt ist.
Nikoletta: Du meinst, Töten liegt in den Anlagen und wurde durch gesellschaftliche Normen uns ab-sozialisiert? Ich hätte dafür gern Belege. Sehr spannend ist in dem Zusammenhang das Milgram Experiment (1961), wird auch im Roman erwähnt. Ich habe mal bei Wikipedia nachrecherchiert. Das Experiment wurde vielfach als Beleg dafür verstanden, dass fast jeder Mensch unter bestimmten Bedingungen bereit ist, einer Autorität zu folgen, selbst wenn die geforderte Tat im Widerspruch zu seinem Gewissen steht. Willkürlich ausgesuchte Probanden wurden angewiesen, Schülern (in Wirklichkeit Schauspielern) bei jeder falschen Antwort Stromschläge zu versetzen und diese schrittweise bis zur tödlichen (!) Stärke zu erhöhen. Die Stromschläge waren fake, die Probanden hielten die Situation aber für echt, die Schüler gaben sogar Schreie von sich. Zeigten die Probanden Zweifel, wurde ihnen gesagt, sie sollen sich keine Sorgen machen, die Wissenschaftler trügen die Verantwortung. 26 der 40 Probanden gingen bis zur tödlichen Stärke, nur 14 brachen vorher ab! Interessant ist auch, dass es keinen signifikanten Unterschied im Verhalten von Männern und Frauen gab.
David: Im Übrigen kam in dem Experiment noch etwas heraus: Männer wie Frauen geben Männern bedeutend schneller und heftiger Saures als sie es bei Frauen gewillt sind zu tun. Wir alle kriegen Frauen und Schuld kaum in eine Schatulle, Männer und Schuld dafür sehr einfach. Schaut man sich Analysen zu Gerichtsurteilen an, so findet sich das dort tatsächlich wieder. Männer werden für gleiche Vergehen schneller, öfter und vor allem länger verknackt als Frauen.
Nikoletta: Na, das Gefälle ist doch aber recht groß, schaut man sich die bundesdeutsche Mordstatistik (2019) an, sind etwa 10% der verurteilten Mörder Frauen, 90% Männer. Das wird nicht nur an harschen Urteilen und an anstiftenden „Hinterfrauen“ liegen, sondern daran, dass Männer eher Konflikte mit Gewalt lösen als Frauen.
David: Absolut. Weil Gewalt sich in ihren diversen Darreichungsformen und Eskalationsstufen leider regelmäßig auszahlt, ist es für manche Männer (mal schneller, mal langsamer) eine bis heute veritable Handlungsoption, ein probates Mittel. Die Stoppschilder zur schwersten Verletzung und schließlich Töten sind da schnell überfahren. Könnte mir vorstellen, dass Frauen diese Erfahrung eher selten machen, dass Gewalt auch mal weiterbringt. Natürlich sucht man sich dann andere Mittel, zuvorderst psychische Gewalt. Nicht minder verheerend, taucht aber eben kaum in Statistiken auf und ist schwieriger vor Gericht zu bringen, deswegen diese vermeintliche Schieflage. Das alles hat gewiss einen tieferen biologisch-psychologischen Sinn, der unseren Fortbestand als Spezies sichert, ist so gesehen also sogar richtig, irgendwie. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir uns doch nicht auf Gene oder Instinkte von vor 150 000 Jahren berufen wollen, ist es aber wichtig, das irgendwie klug kommuniziert zu kriegen, um zu einem gemeinsamen Morgen zu kommen, der alle befriedigt. Genau das macht Sarid. Wie du richtig sagst, das Milgram Experiment hat gezeigt, dass Männer und Frauen ziemlich ähnlich drauf sind. Sehe ich als Bestätigung meiner hübschen These: Es steckt ein Täter in jedem von uns.
Nikoletta: Andersherum! Der Mensch kann zum Bösen manipuliert werden. Ich kann mir vorstellen, dass in totalitären Systemen, wenn sich Normen entsprechend verschieben, ideologisch Menschen manipuliert werden und ihnen so die moralische Verantwortung abgenommen wird, auch „normale“ Menschen zu Gewalt bereit sind bzw. sich von Gewalt sogar berauschen lassen, es gab genug Beispiele im Nationalsozialismus.
David: Na, seit es Menschen gibt, gibt es das Töten. Wir haben Moral, wir haben Gesetze, jeder weiß von Kindesbeinen an, dass Töten schlimm ist und sich unterm Strich selten wirklich auszahlt. Dennoch passierte und passiert es schon immer, seit immer, überall, wieder und immer wieder. Richtig ist gewiss, dass man Tötungsbereitschaft durch Manipulation fördern kann. Das geht aber aus meiner Sicht eben nur, da dieses „Mittel“ eh in uns drin ist. Nach, was weiß ich, 180 000 Jahren Menschheitsgeschichte zu sagen Töten sei nicht menschlich, halte ich für wahlweise geschichtsblind oder naiv. Wenn Menschen nicht Töten hat das ja zumeist mit Glück und günstiger Schicksalsfügung zu tun und selten mit einem ach wie tollen Charakter.
Nikoletta: Einigen wir uns darauf, dass es im Menschen eine angeborene Gewaltbereitschaft gibt, um Konflikte zu lösen, Macht auszuüben, sich im Konkurrenzkampf zu behaupten, eben den eigenen Fortbestand zu sichern. Das sieht man ja schon bei kleinen Kindern, die mangels der Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren, Konflikte intuitiv mit Gewalt zu lösen versuchen. Diese Gewalt endet bei Erwachsenen eben manchmal tödlich.
Faszinierend finde ich im Roman den Aspekt der Verantwortung. Ich dachte immer die ganze Schikane, die Hierarchien beim Militär seien notwendig, weil man Kriege eben nicht führen könne, wenn Soldaten Befehlen nicht folgten. Erst durch diesen Roman habe ich verstanden, dass es darum geht, Soldaten die moralische Verantwortung abzunehmen, je größer die Autorität des Befehlshabers, desto leichter töten seine Soldaten. Wenn man dem Feind gegenübersteht, herrscht Angst. Überzeugung, Flagge, Heimat, und was sonst noch das Töten rechtfertigt, reichen nicht zum Abdrücken. Auf Befehl töten ist leichter. Dieses Buch hat mich in dieser Beziehung aufgeklärt.
Du hast ja deinen Wehrdienst geleistet, wobei man die Grundausbildung der Bundeswehr vermutlich nicht mit der Ausbildung der israelischen Armee vergleichen kann, war dir dieser Aspekt bewusst?
David: Nun, die meisten Dinge, die Leute mit der Armee in Verbindung bringen, sehen von Außen etwas lächerlich aus, haben aber handfeste Gründe, die das eigene Überleben sichern. Die raspelkurzen Haare, die Unart, tausendmal am Tag die Stube durchfegen und die Betten machen zu müssen, das Angeschrienwerden durch Ranghöhere, das Zackige, Befehlshafte. Wenn du auf dem Schlachtfeld anfängst, dich für flache Hierarchien und Demokratie zu interessieren, ist das Suizid. Aber wie du sagst, gibt es hier einen großen Unterschied zwischen Israel und Deutschland. Für mich und uns war und ist der Gedanke, in einen Kriegskonflikt zu geraten und eventuell einen Tötungsbefehl zu erhalten, fast schon grotesk. Wir nach 1950 geborenen (West-)Deutschen sind verwöhnte und vom Glück begünstigte Weicheier, was das betrifft. Deswegen sind die Diskussionen bei uns ja immer so hochmoralisch, weil fernab jeder Realität: „Könntest du echt wen erschießen?!?“ Diese Frage würde in Israel niemand einem Soldaten stellen, nicht einmal Leute der Friedensbewegung Schalom Achschaw. In Israel ist der kriegerische Konflikt Alltag, die Bedrohung von Außen kein Hirngespinst. Du musst das den Frauen und Männern an der Waffe da auch nicht erklären, dort setzt man darum gleich viel „höher“ an. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Israelis gegen Feinde kämpfen, die noch immer an der Auslöschung ihres Staates arbeiten. Völlig andere Kiste als bei uns, ich meine, wer soll uns denn angreifen?
Neu war mir das nicht, durch meine Zeit in Israel weiß ich darum, dass das israelische Militär, man muss das so klar sagen, eine ganz andere Liga darstellt als das deutsche.
Nikoletta: Abigail geht es ja nicht nur um ein straffes israelisches Militär, für sie ist das Töten absolute Macht, Droge, menschlicher Trieb, sie hat selbst den Finger am Abzug und drückt ab. Dabei empfindet sie Lust. Das nachzufühlen ist mir völlig fremd. Umso spannender ist es natürlich literarisch, im Kopf dieser Frau zu stecken. Wenn Hass eine Rolle spielte, Rache, Macht, Ideologie oder obsessive Liebe, aber einfach nur Lust am Leid eines anderen Menschen empfinden? Das halte ich für krankhaft. Es gibt Hirnforscher, die vertreten, dass Mörder eine herabgesetzte Empathiefähigkeit haben oder ganz unfähig sind, Mitgefühl zu empfinden.
David: Nun ja, es gibt bekanntlich alles unter Gottes wunderbarer Sonne. Und Grenzüberschreitungen entfachen seit jeher auf diverse Arten einen Kick. Gerade darum finde ich „Siegerin“ ja so gelungen, weil es den ganzen Moralquark nach und nach beiseiteschiebt, das Menschliche am Töten freilegt. Eine Protagonistin ist hier natürlich Gold wert, eben weil all dieser Quatsch um toxische Männlichkeit hier nicht den Zugang zu einer wirklichen Diskussion verklebt. Und Abigail entdeckt diese latente Obsession erst an sich, das ist ja der Punkt, sie tritt ja nicht gleich als mordgeil auf, sondern kommt vom eigentlich anderen, dem therapierenden, dem gutmeinenden und gutgemeinten Ende her. Versucht die Soldaten zu verstehen – und tut es. Und mal ehrlich: Ich finde es ja beruhigend, dass du Lust am Töten für krankhaft hältst. Solange du selbst aber nicht getötet hast, hat das wenig Aussagekraft, ist bestenfalls eine lauwarme Absichtserklärung. Die im Übrigen auch Abigail zu Romanbeginn noch unterschrieben hätte. Du und ich, wir wissen nicht, was das Töten mit uns machen würde. Wir können nur hoffen, dass uns auf ewig das Privileg erhalten bleibt, es nie erfahren zu müssen. Im Übrigen – da du von Gehirnwäsche sprachst – ist auch unsere moralische Verurteilung des Tötens letztlich das Ergebnis einer solchen. Oder glaubst du wirklich, dass Menschen, die vor 10 000 Jahren beim Kampf um Futterplätze andere Menschen töteten, danach in die Traumatherapie mussten? Gewiss nicht, das muss erst der moderne aufgeklärte Mensch. Da wurde in den letzten 2000 Jahren ordentlich und sehr erfolgreich an unserem Selbstverständnis als Mensch herumgedoktert. Auch Gehirnwäsche.
Nikoletta: In die Traumatherapie – lach, da hast du vermutlich recht. Und gerade weil so erfolgreich an uns herumgedoktert wurde, behaupte ich, dass diese Urinstinkte, wenn sie überhaupt noch in uns stecken, nicht zur Erklärung von heutigem Verhalten herbeigezogen werden können. Herumgedoktert wurde an uns vermutlich sogar erst in den letzten 500 Jahren, im Mittelalter wurde ja auch noch mit großer Selbstverständlichkeit gemetzelt, mindestens aber seit dem Einzug der Vernunft in der Aufklärung, wenn man die Nazi-Zeit als durch Manipulation herbeigeführte Entgleisung unberücksichtigt lässt, und das alles auch nur in unserer westlichen Welt. Ja, David, ich fürchte, der Punkt heute geht an dich.
Natürlich wissen wir nicht, was das Töten mit uns macht. Aber auf jeden Fall macht es etwas Drastisches. Abigails Strategie, in jungen Soldaten und Soldatinnen, wenn du so willst, archaische Kräfte zu wecken und aus ihnen resistente Tötungsmaschinen zu machen, die ohne Schuldgefühle und davongetragene Traumata anschließend ein normales Leben führen können, diese Strategie ist im großen Bogen gescheitert. Deutlich wird es auch an ihrer Doppelmoral in Bezug auf ihren Sohn, Schauli. Er kommt traumatisiert von einem seiner ersten Einsätze wieder und sie holt ihn da raus, findet er sei zu empfindsam für den Krieg. Dabei gibt sie zu, wenn er nicht ihr Sohn wäre, hätte sie ihn bei seinen Kameraden gelassen, sollten die ihn für die Rückkehr in den Krieg stärken, das wäre das reguläre Vorgehen. Ebenso zeigen sich tief sitzende Schäden an anderen Ex-Patienten wie Noga, die aus Versehen im Einsatz ein Kind tötet und dem kriegstraumatisierten Mendi, Patienten, mit denen sie im Übrigen höchst unprofessionelle, emotionale, teilweise sexuelle Beziehungen eingeht.
Aber wie du sagst, das Schöne an diesem Buch ist, dass nichts schwarz oder weiß dargestellt wird. Auch Abigails Figur ist sehr vielschichtig gezeichnet. Diese harte, narzisstische Frau ist tief verunsichert im Umgang mit ihrem kritischen Vater, und sie wird weich und ängstlich, wenn es um ihren Sohn geht.
Wenn wir uns auch in der Frage nicht ganz einig werden, ob Töten menschlich ist, ich glaube, wir halten den Roman beide für ganz große Literatur.
Kennst du eigentlich den Vorgängerroman „Monster“ von Sarid?
David: Leider nicht, vernahm aber nur Gutes dazu bisher. Aus mir selbst unbekanntem Grunde habe ich mich aber entschieden von ihm erst mal „Limassol“ zu lesen. Der Titel zieht mich irgendwie mehr an. Vielleicht ,weil eine von mir arg geschätzte englische PostPunk-Band vor zig Jahren einen Song gleichen Titels veröffentlichte. Gibt so Städtenamen, die machen was mit dir, auch wenn du nie da gewesen bist. Gilt bei mir auch für „Warschau“. Aber das ist wohl ein anderes tiefenpsychologisches Grundthema, ha.
Nikoletta: Beim Stichwort „Warschau“ fällt mir eine andere Romanempfehlung von dir ein: „Das schwarze Königreich“ von Szczepan Twardoch. Ich bin gerade mittendrin und bin schwer fasziniert. Aber als Nächstes bekommst du eine Empfehlung von mir und wir besprechen den Roman einer Autorin.
Weitere Ausgaben von Kiss & Wonschewski lesen? Gerne – HIER.
Der Stalin war so ein guter Mann. Lesen Sie die Rezension zu: Nikoletta Kiss – „Das Licht vergangener Tage“ (2019), HIER.
Romane von David Wonschewski finden sich – HIER.