von David Wonschewski
David, Mitte zwanzig, Schweizer, weiß was er vom Leben will. Oder besser gesagt: was er dem Leben, der Menschheit, der ganzen Welt geben will: Gutes. Ja, es klingt so einfach und gehört zum charakterlichen Rüstzeug allen voran junger Menschen, angefüllt mit schönen Visionen, herrlichen Utopien von Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Frieden und Wohlstand für alle.
Nein, naiv ist David keineswegs mehr, als er sich 1990 auf den Weg nach Ruanda macht, um sich dort im Büro mit Entwicklungsprojekten der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit zu beschäftigen, das durch sein durchaus erfolgreiches Wirken für ein Mindestmaß an Ruhe und Zufriedenheit in der örtlichen Bevölkerung sorgt. Was wiederum – und da wird es bereits übel – das herrschende diktatorische Regime stützt. Er verliebt sich in Agathe, eine Hutu, die durch ihr Studium in Belgien längst das Auftreten und den Habitus einer modernen Europäerin hat. Eine Liaison beginnt, die sich dadurch auszeichnet, dass sich die beiden körperlich sehr nahekommen, emotional jedoch nur bedingt. Davids seelische Zerreißprobe Nummer zwei, erkennt er doch, dass Agathe an ihm vor allem schätzt, dass keiner dieser, wie sie sagt, schwarzen Bauernflegel ist, sondern: ein weißer Europäer. Der Schweizer Entwicklungshelfer als Statusobjekt für emporstrebende Afrikanerinnen. Doch auch David selbst ist nicht besser, im Grunde ist er sogar genauso wie sein Bekannter Missland, die in der körperlichen Vereinigung mit einer Afrikanerin letztlich nichts anderes als die Veredelung ihrer charakterlich hochwertigen Entwicklungsarbeit betrachten.
Und dann geschieht, was bekannt ist: Die Spannungen zwischen Hutu und Tutsi, seit jeher integraler Bestandteil Ruandas, durch die ehemalige Kolonialmacht Belgien schließlich befeuert und manifestiert, sind auch mit Entwicklungsarbeit nicht mehr unter den Teppich zu kehren. Und ausgerechnet das Radio, das in einem absonderlichen Mix aus Gags, beschwingter Musik, Hetzreden und Mordaufrufen zum Genozid-Vehikel Nummer eins wird, fällt den Schweizern auf die Füße. Denn anständig Radiomachen, das konnte in Ruanda niemand. Bis die Schweizer kamen, Technik und Berater ankarrten, es in Ruanda installierten, einer kleinen Elite beibrachten, wie Radio wirkungsvoll handzuhaben ist.
Ab 1994 mit einschneidendem, grausamem, blutigem – tödlichem Erfolg.
Der hochdekorierte Dramatiker Lukas Bärfuss, der mich mit seinem Roman “Hagard” ( Buchbesprechung gibt es HIER) nur bedingt zu beglücken wusste, hat mit “Hundert Tage” einen fiktiven Roman erschaffen, der allein durch seine journalistische Akribie zu beeindrucken weiß. Ob Bärfuss spezielle Verbindungen nach Ruanda hat, ob er oft dort war, ob er selbst in jungen Jahren Entwicklungsarbeit in Afrika leistete – es ist mir nichts bekannt. Sich als junger Europäer derart tief in einen solch “fernen” Stoff einzuarbeiten, einzufühlen, macht sprachlos. Zwar braucht “Hundert Tage” seine 50-80 Seiten, um so richtig in die Gänge zu kommen, was Bärfuss danach aber abliefert, wie es ihm gelingt den europäischen Schrecken in einem rein afrikanischen Gemetzel offenzulegen, die Besserwisserei und Eitelkeit der weißen, aufgeklärten, sagen wir ruhig: zivilisierten Welt bloßzustellen und dabei fast komplett auf effektvolle Schilderungen sadistischer Gräueltaten zu verzichten – das führte ihn völlig zurecht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2008.
“In den langen Stunden, in denen ich in Haus Amsar saß und Radio hörte, mit den Batterien, die Théoneste den Toten gestohlen hatte, habe ich oft den klugen Reden der Fachleute gelauscht. Wie sie über das Chaos in Kigali sprachen, über die Hölle, die über das Land hereingebrochen war, was ohne Zweifel zutraf, aber jetzt weiß ich, dass in der perfekten Hölle die perfekte Ordnung herrscht, und manchmal, wenn ich mir dieses Land hier ansehe, das Gleichmaß, die Korrektheit, mit der alles abgewickelt wird, dann erinnere ich mich daran, dass man jenes Höllenland auch die Schweiz Afrikas nannte, nicht nur der Hügel und der Kühe wegen, sondern auch wegen der Disziplin, die in jedem Lebensbereich herrschte, und ich weiß jetzt, dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist, in dem jeder seinen Platz kennt und auch nicht der unscheinbarste Strauch zufällig an einer ebstimmten Stelle wächst und kein Baum willkürlich gefällt wird, sondern durch einen Beschluss zur Rodung bestimmt wird, durch einen Beschluss, der auf einem dafür bestimmten Formular und von einer dafür eingesetzten Behörde erlassen wird. Und manchmal, wenn ich das Räderwerk dieser Gesellschaft reibungslos ineinandergreifen sehe, wenn ich nichts höre, kein Knirschen, kein Knacken, nur leise das Öl zwischen den Zahnrädern schmatzen höre, die Menschen sehe, die all dies hinnehmen, eine Ordnung befolgen, die sie nicht erlassen haben und niemals hinterfragen, dann frage ich mich, ob wir im Gegenzug auch das Ruanda Europas werden könnten, und ich weiß, wenn uns etwas davor bewahren wird, dann bestimmt nicht die Wohlbestalltheit unserer Gesellschaft, unsere Disziplin oder auch nur der Respekt vor den Institutionen, den Obrigkeiten, unsere Liebe zur Ordnung und zur Routine, ganz im Gegenteil. All das ist kein Hindernis, sondern die Voraussetzung für einen Massenmord”.
Wow. Selten ein paar gedankenverloren hingeworfene und doch analytische Zeilen gelesen, die nicht nur den sprichwörtlichen Nagel, sondern auch mich direkt auf den zivilisierten Kopf treffen.
Nun wäre es billig, würde Bärfuss nur abstrakte Dinge hinterfragen, Gesellschaften, Nationen, Völker, Systeme. Dass er es genau dabei nicht belässt, macht “Hundert Tage” zu einem Roman, zu Literatur. Denn dieser Protagonist David, aus dessen Ich-Perspektive die Geschichte geschildert wird, scheitert an der Unmöglichkeit, ein durchweg guter Mensch zu sein, eine klare, logisch nachvollziehbare Trennlinie zwischen Gut und Böse, gerecht und ungerecht ziehen zu können. Seiner eigenen zunehmenden Verrohung machtlos gegenüber zu stehen. Es beginnt mit einem verletzten Bussard, den ausgerechnet er, der ausgewiesene Tierschützer, zunächst, entgegen dem Willen von Agathe, aufpäppelt anstatt ihn hemmungslos abzuschlachten. Und später dann doch genau das tut, freiwillig, weil dieser Bussard lebend keinen Sinn mehr ergab, David das Töten um sich herum wahrnimmt und gar nicht anders kann als sich und seinen Respekt vor Tieren als nur noch albern und überflüssig zu empfinden. Und es endet mit seiner überlebensnotwendigen Kollaboration mit einem Trupp mordender Hutu, die ihm als Schweizer allen Respekt und alle Unterstützung entgegenbringen. Etwas, was jene Tutsi in all der Zeit nie taten, die sich ihm gegenüber stets distanziert und reserviert verhielten.
Einige weitere frappierende Entscheidungen Davids dieses zu tun und jenes zu unterlassen folgen, das jedoch will ich nicht vorwegnehmen.
“Unser Glück war immer, dass bei jedem Verbrechen, an dem je ein Schweizer beteiligt war, ein noch größerer Schure seine Finger im Spiel hatte, der alle Aufmerksamkeit au sich zog und hinter dem wir uns verstecken konnten. Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Soße unterzugehen.”
Weitere Literaturbesprechungen gibt es: HIER.
Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.