von David Wonschewski
Vorabfazit: 4 von 5 Sternen
Wem schon Musils “Mann ohne Eigenschaften” als eines der wichtigsten Werke der Literaturgeschichte gilt, na, der wird doch bei einem Roman über einen Mann ohne Vornamen nur schwerlich abwinken. Ja, auch “T. Singer” von Dag Solstad ist ein solch philosophisches Buch über einen Mann, der loszog, um etwas zu finden, was es gar nicht gibt. Um schlussendlich festzustellen, dass sein Bewegungs- und Veränderungsdrang nur körperlicher, nie jedoch geistiger Natur gewesen ist. Er also, streng genommen, nie wirklich losgezogen, er nur ein wenig in der Weltgeschichte herumgeeiert ist.
Semi-anonym bleibt der Protagonist “T. Singer” den ganzen Roman über aber nicht, weil der Autor es sich so ausgedacht hat, sondern weil Singer es sich selbst so erwählt. Nach turbulenten, jedoch ziel- und fruchtlosen Studienjahren in der Metropole Oslo weiß er mit Anfang dreißig schon nicht mehr so recht wohin mit sich. Wofür sich begeistern, wonach streben, wonach eifern? Ihm fällt dazu nicht nur nichts ein, nein, in ihm erwacht der Wunsch, sich in die genau entgegengesetzte Richtung aufzumachen: in die Anonymität, in die Isolation, ins Nichts. Abtauchen in lebensspendende Abgeschiedenheit möchte er. Verschwinden.
Nun ist Singer, und das ist dem Roman sehr zuträglich, kein eigenbrötlerischer Eremit in bester Thoreau-Tradition, kein Mann für das einsame Blockhaus im Wald. Und auch depressiver, ja selbstzerstörerische Tendenzen sind ihm komplett fremd. Stattdessen ist Singer ein beständig reflektierender, fast möchte man schon sagen “hochsensibler” Mensch. Dessen Gedanken über minimale und vernachlässigbare Begebenheiten sich beständig im Kreis drehen, ihn, Singer, sich beständig im Kreis drehen lassen. Und dem genau das, dieses permanente Durchdenken der Welt ohne Ergebnis, zu viel wird. Ein Lebensbetrachter ohne konkreten Auftrag. Und von daher unfähig als agierendes Individuum aufzutreten:
“Und es hatte ihm gefallen, denn von jungen Männern wird schließlich erwartet, dass sie alles andere als Lebensbetrachter sind. Das wirkt über die Maßen lebensverleugnend. Wenn man nämlich nicht im schönen Jugendalter am Leben teilnehmen kann, wann dann? Dass sich jemand weigert, die Gaben der Jugend anzunehmen und zu nutzen, empört den, der die Freude hat, die Jugend, die nach ihm kommt, zu studieren. Der passive junge Mann ist und bleibt ein abstoßender Anblick, und ein solch abstoßender Anblick hatte Singer versucht zu sein, sehenden Auges. Es war ihm egal gewesen. Ihm war alles egal gewesen. Er hatte sein Leben als Betrachter vergeudet, und währenddessen verrann die Zeit, und die Jugend gleich mit, ohne dass Singer einen Finger gerührt hätte, um sie festzuhalten und den beneidenswerten Zustand der Jugend zu genießen. Er war ein rückgratloser Grübler, ein identitätsloser Lebensverleugner, ein ganz und gar negativer Geist, der das Ganze auf nahezu selbstaufopfernde Weise betrachtete. Er ließ sich mit derart großer Gleichgültigkeit treiben, dass diese ihm ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit gab. Er war ein anonymer, unpraktischer Vagabund auf der Landstraße des Lebens, er ging mit gebeugtem Rücken und starrte zu Boden, im Frühling seiner jugend, Jahr für Jahr.”
Mit Anfang 30 macht Singer eine Ausbildung zum Bibliothekar und türmt, kaum hat er diese abgeschlossen, in die Kleinstadt Notodden, wo er nichts und niemanden kennt. Er arbeitet in der dortigen Bücherei und erfreut sich am einzigen Gefühl, dass ihn noch mit einem leichten Kribbeln versorgt: ein Anonymer zu sein, ein komplett Unbekannter. Doch die Monate ziehen ins Land, Singer schlägt zwangsläufig Wurzeln und lernt die Töpferin und alleinerziehende Mutter Merete kennen, verliebt sich in sie, so glaubt er zumindest. Schnell zieht er zu ihr, sie heiraten und Singer wird zum festen, mitunter gar tragenden Bestandteil des Familienlebens, verlässlicher Ruhepol zwischen Mutter und kleiner Tochter. Doch das Feuer, es erlischt allzu früh, Singer lässt sich zwar nicht gehen, nein er funktioniert reibungslos, doch die Leere schleicht sich zurück in seinen Blick, Merete sieht es, er merkt es selbst. Nach knapp vier Jahren beschließen beide schließlich, sich zu trennen. Singer soll – und Singer will – ausziehen. Doch noch bevor dieser feste Entschluss in die Praxis umgesetzt ist, stirbt Merete bei einem Autounfall und Singer, inzwischen fast 40, steht da mit einem kleinen Mädchen, dass ihm, wie er feststellt, im Falle einer vollzogenen Trennung, keinen Gedanken mehr wert gewesen wäre. Meretes Eltern und ihr Bruder mit seiner eigenen Familie sind schnell bei der Hand, bieten Singer an die kleine Isabella zu sich zu nehmen, da Singer wahrlich keinerlei Verpflichtungen ihr gegenüber hat, ja niemand von ihm emotionale Bande erwarten kann und will. Doch Singer entscheidet sich anders, er behält das Kind bei sich und zieht mit ihr zurück nach Oslo, immer gestützt von der Verwandtschaft in Notodden, die ihn aufrichtig bewundert für seinen Anstand.
Dass Merete und er sich trennen wollten, wissen sie nicht und Singer verpasst den Moment, es ihnen zu sagen. Es ist ein kleines faszinierendes dunkles Geheimnis, dass Solstad hier in seine Erzählung webt, indem er dem eh schon zu Dauerreflexionen neigenden Singer, den auch für ihn selbst nicht in Worte zu kleidenden Wunsch einimpft, das Kind, mit dem ihm nicht und wieder nichts verbindet, zu behalten. Obschon er keinerlei Anrecht darauf hat, ja vielleicht gar, nach dem klar artikulierten Trennungswunsch von Merete, eine Form von stillem emotionalem Missbrauch begeht. Die Paranoia begleitet Singer fortan, dass Merete vor ihrem Tod einer ihrer Freundinnen von der bevorstehenden Trennung erzählt haben könnte, das Familientribunal einholen könnte. Doch nichts geschieht. Isabelle wächst zu einem stillen, freudlosen Teenager heran. Kein Charakter, um den sich wahnsinnig zu sorgen wäre, Singer erledigt sämtliche “Vater”-Pflichten zuverlässig, Isabella eckt nicht an, wird nicht verhaltensauffällig, gerät auf keine schiefe Bahn. Sie verlebt den Großteil ihrer Jugend ruhig in ihrem Zimmer, schließt die Schulzeit ab, wird 18. Und macht sich auf zu gehen. Und Singer weiß, dass er sie vermutlich niemals wiedersehen wird. Weil es keinen Grund gibt, sich wiederzusehen.
Das Großartige an “T.Singer” ist seine Ambivalenz, wirkt der Protagonist in seiner leisen gesellschaftlichen Verweigerungshaltung doch zunächst fast schon respektgebietend. Und das im Social media- und Selfie-infiltrierten Jahr 2019 gewiss noch weit mehr als 1999, dem Erscheinungsjahr des Romans, schon. Die Kraft, sich all dem leeren Pomp zu entsagen, der beständigen Zurschaustellung seiner selbst zu entfliehen – Singer agiert hier beinahe schon wie ein Trost- und Hoffnungsspender. Man muss nicht Karriere machen, man muss sich nicht dauernd optimieren, auch die übersteigerte Selbstentfaltungs- und Identitätsgier unserer Zeit: alles für die Tonne. Weg mit dem Mist, niemand mehr sein, wieder frei sein, wieder atmen.
Zugleich ist “T. Singer” jedoch auch das Porträt eines zuvorderst (aber nicht nur) modern-männlichen Phänomens. Wenn einem jeglicher Testosteron- und Adrenalinquatsch abgeht, wenn höher, schneller, weiter nur noch Pickel erzeugen – was bleibt dann noch als Mann?
Nun, Singer hat eine formidable Antwort darauf: Er setzt sich in seiner stillen Wohnung in den Sessel. Und schaut auf die leere weiße Wand gegenüber.
Ein Buch, das auf den ersten 100 Seiten mitunter etwas schleppend in die Gänge kommt, ab dann aber ein seelisches Miniaturecho entwirft, das verdammt lange nachhallt in Leser.
Dag Solstad / Foto: © Tom Sandberg
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Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.
Danke für diesen lesebesprochenen Tipp.