von David Wonschewski
Vorabfazit: 4 von 5 Sternen
Wer eine Ahnung davon bekommen will, von wem sich ein Kafka zu seinen verlorenen Gestalten, Beckett zu seinen so minimalistisch und so nah am Wahnsinn gebauten “Murphy” (1938) und “Molloy” (1951) und nicht zu letzt Chaplin zu seinem komödiantisch-bitteren Tramp hat inspirieren lassen – kommt kaum an Hamsuns “Hunger” vorbei.
In seinem Frühwerk erzählt der spätere norwegische Nobelpreisträger die kargen Erlebnisse des Schriftstellers und Autoren Andreas Tangen, der sein dürres Dasein auf den Straßen (an besseren Tagen auch in den Wohnungen) von Kristiania (dem heutigen Oslo) fristet. Tangen – ob er wirklich so heißt oder den Namen nur erfunden hat bleibt im Nebel – sieht sich selbst als schreibenden Künstler, dem jedoch, das sieht er selbst ein, nur selten ein genialer Gedanke kommen will. Und so schleppt er sich als freischaffender Geist von Textversuch zu Textversuch, schlittert von einer Schreibblockade zur nächsten und latscht vom einen Pfandverleiher zum nächsten. Ja, die Geldnot, die Obdachlosigkeit und, natürlich, der Hunger sind seine einzigen treuen Begleiter. Mit fortschreitender Dauer des Romans abgelöst von körperlichem und geistigem Verfall:
“Es begann zu dämmern, ich fiel immer mehr in mich zusammen, wurde nmüde und legte mich zurück aufs Bett. Um meine Hände etwas aufzuwärmen, strich ich mit den Fingern durchs Haar, nach vorn und hinten, kreuz und quer; es kamen kleine Büschel mit, ausgegangene Strähnen, die zwischen den Fingern hängenblieben und sich übers Kopfkissen verbreiteten. Ich dachte mir zu dem Zeitpunkt nichts dabei, es war, als ginge es mich nichts an, ich hatte auch noch haare genug. Ich versuchte, mich wieder aufzurütteln aus diesem seltsamen Dämmerzustand, der wie ein Nebel durch alle meine Glieder schwoll; ich setzte mich aufrecht, schlug mir mit der flachen Hand aufs Knie, hustete, so fest es meine Brust zuließ – und ich fiel erneut zurück. Nichts half; ich entschlief hiflos, die Augen offen, geradewegs zur Decke starrend. Zuletzt steckte ich den Zeigefinger in den Mund und nuckelte an ihm. In meinem Hirn begann sich etwas zu regen, ein Gedanke, der sich da drinnen hervorwühlte, ein vollkommen verrückter Einfall: Was, wenn ich zubiss? Und ohne einen Augenblick zu überlegen kniff ich die Augen zu und schlug die Zähne aufeinander.
Ich sprang auf. Endlich war ich wach geworden. Es sickerte ein bißchen Blut aus dem Finger, und ich leckte es ab. Es tat nicht weh, die Wunde war auch nichts weiter; aber ich war schlagartig wieder zu mir gekommen; ich schüttelte den Kopf, ging zum fenster und holte mir einen Lappen für die Wunde. Während ich mich mit ihr beschäftigte, füllten sich meine Augen mit Wasser, ich weinte leise vor mich hin. Dieser magre, zerbissene Finger sah so traurig aus. Gott im Himmel, wie weit es jetzt mit mir gekommen war.”
Dass Hamsun zu seiner Zeit als revolutionärer Autor galt, lässt sich bereits hier in wenigen Zeilen entdecken: Die betonte Lust daran aufzuzeigen, wie ein gesellschaftlicher Umstand – hier bittere Armut – direkt in die geistige Umnachtung führen kann. Ohne all das jedoch aufzulösen. Und so erfahrne wir nichts vom persönlichen Hintergrund des Protagonisten, kaum etwas aus seiner Vergangenheit, lesen nicht wie es ihn hinab zog in diesen Strudel aus Mittel- und Aussichtslosigkeit. Wie auch die meisten seiner Beweggründe und Motivationen komplett im Dunkeln bleiben, sich den gesamten Roman hindurch als Irrsinn im Anfangs- bzw. später fortgeschrittenen Stadium präsentieren. Besonders frappierend dabei: Tangen ist ein bis zur Halsstarrigkeit anständiger Charakter, dem es widerstrebt Schulden zu machen oder Almosen anzunehmen. Nahezu allen ihm missmutig, gehässig oder grobschlächtig gegenübertretenden Personen ist er nur einen kurzen Moment lang böse, bevor er ihre Handlungen und Beweggründe empahtisch nachvollzieht, sie sogar rechtfertigt. Allein sein Verhältnis zur regierenden Obrigkeit – hier repräsentiert durch ihm immer wieder auf der Straße begegnenden “Wachtmeistern” – scheint blockiert, Gespräche mit Ihnen oder sinnhafte Antworten auf Ihre Fragen nicht möglich.
Ein in seiner Bitterkeit lustiges – und in seiner Humorigkeit bitteres – Buch.
“Hunger” ist nicht zuletzt deswegen ein revolutionäres Werk, da es sich betont weigert Revolution zu machen oder gar zu einer solchen aufzustacheln. Es ist kein Gesellschaftsroman, kein Sozialdrama, kein Buch, nach dessen Lektüre man hat mit Fackeln und Keulen johlend zu Parlamentsgebäuden oder Palästen zu ziehen. Es ist ein Werk, das Lust macht auf einen russischen Frachtschiff anzuheuern – und abzudampfen.
Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.
Das Buch läuft mir seit Tagen über den Weg. Ich gestehe, ich habe gestern versucht es mir noch schnell aus der Bibliothek zu holen. Aber die war bereits in den Ruhemodus versetzt.