David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Selbst die meisten Diktatoren starteten als Freiheitskämpfer. Soeben ausgelesen: Daniel-Pascal Zorn – „Das Geheimnis der Gewalt“ (2020)

zoge

von David Wonschewski

Ich gebe zu: Mir war in einem Radiobericht zu diesem Buch irgendwie was anderes versprochen worden. Literarische Sichtweisen auf Gewalt. Erläuterungen im Umgang mit Gewalt, Konzepte wie ihr beizukommen sein könnte. Von alledem habe ich nichts gefunden in „Das Geheimnis der Gewalt“. Das mag daran liegen, dass ich vor einiger Zeit Steven Pinkers Mammut- und Standardwerk „Gewalt“ gelesen haben und somit tatsächlich bereits allumfassend informiert bin. Vielleicht aber liegt es auch an etwas, das Daniel-Pascal Zorn selbst in der Einleitung seines Buches andeutet: dass der ein oder andere Leser, der Gewalt hat abschwören können bisher, dass der zumindest das aufgebaut hat, was wir modern „Awareness“ nennen. Plakativer ausgedrückt: Andere bezichtigen ist einfach, das Schwein in sich selbst zu erkennen, hingegen eine fast schon übermenschliche Reflexionsmeisterleistung.
Ja, ich für meinen Teil weiß immerhin, dass ich permanent Gewalt ausübe. Ich erkenne nicht immer wann und weiß auch nur ab und an warum, bin mir bestenfalls sicher (denke, hoffe) dass meine Gewalt nie physisch ist, kommunikativ aber ganz bestimmt. Und genau hier setzt Zorn an und bietet sein Buch in vielen kleinen Kapiteln viele interessante Denkansätze, die mir mitunter vorher schon bekannt gewesen sind, die es sich aber immer wieder klarzumachen lohnt: Freiheit beispielsweise. Ein unfassbar positiv besetzter Begriff, der die Gewalt aber stets mit sich führt. Allein die Geschichte er USA, das Land, das am liebsten mit dem Begriff der Freiheit hantiert, führt das perfekt vor Augen. Die, die sich die Freiheit auf die Flaggen geschrieben hatten, die vor drangsalierenden Gesellschaften in Europa geflohen waren, waren auch diejenigen, die ohne mit der Wimper ein erzklerikales Gemeinwesen in der ach so neuen Welt gründeten, Indianer meuchelten, Afrikaner versklavten. Klar, ein wuchtiges Geschichtsschwert für so ein bisschen subjektive Selbstreflexion anno 2020. Aber doch rüttelt Zorn durch seine Art der, nun ja, knappen Geschichts- und Sozialstudien viel wach in einem. Und es ist gar nicht so schwierig, das Thema näher nach Deutschland und in unsere Zeit zu holen. Ist „Fridays for future“ eine gewaltfreie Unternehmung, kommt Greta Thunberg ohne Gewalt aus? Dieses Beispiel bringt nicht Zorn, das bringe ich. Heiligt der Zweck immer die Mittel? Oder ist das auch noch zu groß? Was ist mit mir selbst, der ich sehr gerne die so günstige Milch im Supermarkt kaufe. Ich schlage niemanden, ich sage nicht mal was – ich kaufe sie einfach. Und übe damit aktiv Gewalt an Milchbauern aus, keine Diskussion.
Man merkt es bereits, das ist das Gute und auch wenig schlechte an „Das Geheminis der Gewalt“: Wie ich es von einem guten sozialphilosophischen Werkt erwarte, bringt es meine Gedanken zum Kreisen, hole ich akademische Ideen in mein eigenes Leben, in meinen Alltag, hinterfrage mich selbst und meine Gewalt. Komme von Höcksgen auf Stöcksgen. Super. Aber eben auch ein wenig unbefriedigend, denn Fragen beantwortet Zorn keine. Er rüttelt auf, lässt Fragen entstehen, das macht er hervorragend und vielleicht ist auch das sein Job als Philosoph. Er lässt einen aber eben dann auch allein damit, ruft seinem Leser zu: So, nun komme mal alleine klar mit dem Tohuwabohu, das ich da angerichtet habe in deinem Kopf!

Schonmal drüber nachgedacht, dass die übelsten Diktatoren ihre politischen Karrieren als unterdrückte Freiheitskämpfer starteten? Je größer der Drang nach Freiheit in der Jugend, desto heftiger die Anflüge von Paranoia und Verfolgungswahn im Alter. Sagt nicht Zorn, dachte ich nur so, neulich beim Spazierengehen.

Ein toll geschriebenes Büchlein für, nun ja: Gewalteinsteiger. Und danach dann den Pinker lesen.

Weitere Literaturbesprechungen gibt es: HIER.

Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.

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