von David Wonschewski
Vorabfazit: 4 von 5 Sternen
Doch, das ist definitiv bewundernswert. Zu sehen wie flink die altehrwürdige, oftmals schwerfällig wirkende Buchbranche sich ab und an bewegen kann. Da kommt ein Zeitgeist-Trend auf – und keine 2 Wochen später stehen die dazu passenden Romane, Analysen, Erfahrungsberichte verkaufsfertig in den Regalen. Zuletzt festgestellt bei #blacklivesmatter. Ich habe mich nun wenig bis gar nicht mit diesen vielen so plötzlich erscheinenden Büchern beschäftigt. Vielleicht ist es auch so wie bei Nachrichtenredaktion, das kenne ich aus meiner eigenen Berufserfahrung: da gibt es tatsächlich einen fetten Ordner mit fertigen Nachruftexten zu Prominenten, die derzeit noch lustig und frohgemut durch die Gegend springen. Man nennt das sarkastischen Pragmatismus, ich habe gerne drin gestöbert, hat sowas Nostradamus-mäßiges. Und da ich, hüstel, eh in allem das Gute sehe weiß ich: Nein, diese vielen #blacklivesmatter-Erscheinungen wurden nicht als wenig lukrativ, wenig breitenwirksam, wenig wichtig zurückgehalten zuvor (denn das wäre ja letztlich auch eine Art von Ungleichbehandung und das machen bekanntlich immer nur die anderen). Sondern wurden allesamt erst geschrieben als der Name George Floyd um die Welt ging, in Windeseile lektoriert, gesetzt, gedruckt, verlegt. Nur weil ich etwas behäbig bin, muss das ja noch lange nicht heißen, dass auch andere es sind. Wie auch immer, arg ungern lese ich “DAS Buch zum brandaktuellen Top-Aufreger”, egal um welchen Bereich es geht. Ich lese gerne Bücher, die viele Monate später dazu erscheinen. Oder eben lange vorher rausgebracht worden sind. Wie Teju Cole – “Open City”. Die Geschichte eines nigerianischen Einwanderers, der in New York zwischen Diskriminierungserfahrung und eigener Privilegiertheit hin und her pendelt. Und sich seinen Zugang zu sich selbst erschließt durch ausgedehnte Spaziergänge in dieser – meine Meinung – tollsten aller tollen Städte.
Machen wir uns nichts vor: So eine Nummer, wie Teju Cole sie in “Open City” wagt, geht in 99 von 100 Fällen grandios daneben. Ein junger Mann läuft da also durch New York. Einfach weil er gerne spaziert, dabei seine Gedanken kreisen lassen kann. Immer wieder macht er das. Und immer wieder kommen ihm neue Gedanken. Mal denkt er Jazz, dann an Mahler, Simon Rattle und Purcell. Er sinniert über nordafrikanische Literatur, griechische Architektur, französische Malerei, ungarische Fotografie, österreichische Psychologie, deutsche Philosophie, amerikanische Geschichte. Erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in Nigeria, an seinen afrikanischen Vater, seine deutsche Mutter, verbindet Erinnerungen an Brüssel mit Erinnerungen an Berlin. Streift jüdische Schicksale und hispanische Schicksale mit dem Schicksal afrikanischer Sklaven, bedenkt das weiße privilegierte Leben und setzt, als Kind wohlhabender Eltern und mit einem Abschluss in Medizin, sein eigenes privilegiertes Mischlingsleben daneben, darüber, darunter. Hilft Obdachlosen, wird von farbigen Teenagern verprügelt. Lacht über Polizisten und Politiker New Yorks – und versteht sie doch, voll und ganz.
In der Regel geraten derlei literaische Gehversuche zu einem hilflosen Verbalgemantsche, springen von Höcksgen auf Stöcksgen, reißen 2000 Geschichten an – und erzählen letztlich nicht eine einzige aus. Dass es dem Kunsthistoriker Teju Cole gelingt, all diese vielen Fäden zu einem stimmigen Gesamtbild zu verweben, hat er seinem lebenszugewandten und doch so verdammt einsamen Protagonisten Julius zu verdanken. In dessen eigener Biografie, fast möchte man sagen in dessen eigenem Kopf und eigenem Blut die ganze Menschheit zusammenläuft. Und doch nichts so recht zueinanderfindet. Wie in seiner kurzen (platonischen) Beziehung zur pensionierten amerikanischen Ärztin Dr. Mailotte, mit der er sich wunderbar über europäisch-afrikanische Befindlichkeiten und Jazzmusik austauschen kann – die ihn jedoch auch nur ratlos zurücklässt:
“Wie flüchtig doch die Empfindung von Glück war, wie wackelig ihre Grundlage: ein warmes Restarant, wenn man aus dem Regen kommt, der Duft von Essen und Wein, ein interessantes Gespräch, Tageslicht, das sich schwach in den polierten Kirschholzplatten der Tische spiegelt. Der Übergang von einem Gefühlszustand zum anderen war so mühelos wie der Zug eines Schachspielers. Allein das Bewusstsein, einen Moment des Glücks zu erleben. schmälerte dieses schon, war ein solcher Zug auf dem Schachbrett. Und ihr Mann, fragte ich, kommt der nicht regelmäßig nach Brüssel? Nein, sagte sie, er ist glücklicher in den USA. Ich glaube, er hat inzwischen keine Beziehung mehr zu Belgien. Ich komme regelmäßig her, wegen meiner Freunde. Und außerdem kann ich die amerikanischen Wertvorstellungen nicht ertragen. Und was ist mit Ihnen, fliegen Sie regelmäßig nach Nigeria? Nein, sagte ich. Vor zwei jahren das letzte Mal, und nur kurz, davor war ich fünfzehn Jahre nicht dort. Ich hatte viel zu tun, das war das eine, und wie Sie sagen: Der Bezug geht ein bisschen verloren.”
Es sind Passagen wie diese, die verdeutlichen, warum “Open City” mit dem ein oder anderen internationalen Literaturpreis ausgezeichnet worden ist: Ein sensibler, empathischer, intellektueller Charakter strandet in der Stadt, die – wie er gen Ende selbst feststellt – die Einzige ist, in der er leben möchte, leben kann. Denn wie in ihm selbst sind auch in New York alle Strukturen und alle Geschichten der Welt angelegt – ohne eine Lösung, ein Ziel anzubieten. Der Ort, an dem sich wie nirgendwo sonst Opfer- und Täterschaft die Klinke in die Hand geben, der Freund vieler jederzeit zum Henker eines Einzelnen werden kann. Das wird Julius klar, als er gegen Ende der Erzählung von einer ehemaligen Bekannten mit einem, nun, dicken persönlichen Bock konfrontiert wird, der hier bewusst nicht näher beschrieben werden soll:
“Was bedeutet es also, wenn man in der Geschichte eines anderen Menschen der Bösewicht ist? Ich bin allzu vertraut mit schlechten Geschichten – schlecht ausgedachten und schlecht erzählten. Ich höre sie oft genug von meinen Patienten. Ich kenne die Geschichten derer, die immer anderen die Schuld geben und unfähig sind zu erkennen, dass sie selbst der gemeinsame Nenner ihrer gescheiterten Beziehungen sind.”
“Open City” ist ein Roman für jeden, der sich mit der Geschichte des Multikulturalismus befassen will. Und auch wenn Teju Cole – nicht sein Protagonist Julius – mit seinem kunsthistorischen und geisteswissenschaftlichen Wissen protzt, dass es nur so kracht, ist das Buch auch eine wahre Fundgrube für Freunde artifizieller Referenzen. In erster Linie aber ist es ein Roman für Menschen, die wie Julius der Meinung sind, dass keine Stadt so faszinierend ist wie New York. Ein Roadmovie in Schuhen, gewissermaßen.
Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.