David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Fürs Muttersein gibt es keinen Nachholtermin. Soeben ausgelesen: David Grossman – „Was Nina wusste“ (2020)

von David Wonschewski

Wie jede Meinung, so beruht selbstverständlich auch meine auf subjektiver, irgendwann dann vielleicht gar selektiver Wahrnehmung. Aber was soll ich machen, diese Ansicht ist fundiert, belegt von viel zu vielen Fällen – und auffallend wenig Gegenbeispielen. Und sie lautet, dass keine Beziehung so innig ist wie die zwischen einer Mutter und ihrer Tochter. Wobei das hübsche Wort „innig“ hier das ganze Spektrum abbildet. Von tief und intensiv bis hin zu erdrückend, zersetzend, zerstörerisch. Hasslieben par excellence.

Klar, auch Väter und Söhne haben ihre unfeinen Momente, Phasen, vielleicht auch dauerhaften Entzweiungen. Viele Filme und Bücher handeln davon, die Geschichten vieler Dynastien sind geprägt davon. Und doch scheint mir das eine ganz andere Angelegenheit zu sein, denn die vermeintliche Kommunikationslosigkeit zwischen Vätern und Söhnen ist nur deswegen klischeebeladen, weil seit jeher was dran ist. Und wird, womöglich, auch nur deswegen von Generation zu Generation getragen, weil die aus Kommunikationslosigkeit entstehende Kälte niemals so zermürbend ist wie die Hitzegefechte von Müttern und Töchtern.

Es mag nicht sonderlich überraschen, ja, ich bin auch Sohn. Ich bin überaus dankbar für den Vater, den ich hatte, die Beziehung, die wir hatten. Unsere Gespräche erstreckten sich von Steuererklärungsgedöns und Drogenfahndung (sein Beruf) über Schul- und Studiennoten bis hin zu Landtagswahlen und Schalke 04. Wenn er in seiner Gesprächsführung vom Weg abkam und mich aus Versehen fragte, wie es mir geht, rettete ich uns mit einem karg hingeworfenen „alles gut“. Wenn nach ihm auch ich vom vorgezeichneten Gesprächsweg abkam und antwortete, dass es mir gerade nicht so richtig gut geht, dann rettete wiederum er mich, stets mit dem gleichen therapeutischen Wundersatz, dem Vater-Sohn-Emotionen-Klassiker: „Warte…ich hol‘ mal eben die Mama!“.

Diese Art von Verhältnis wird gerne bemängelt und auch ich überlegte vor allem nach seinem Tod oftmals, was da fehlte zwischen uns. Heute weiß ich: gar nichts. Er war immer für mich da und wir hatten immer einen Instinkt dafür, welche Gespräche uns weiterbringen und welche wir einfach umschiffen. Wir haben uns in 36 Jahren viermal angeschrien, keinmal zu viel, keinmal zu wenig. Und ich wünschte, ich könnte das von Müttern und Töchtern, und hier die selektive Wahrnehmung, auch sagen. Ob in der eigenen Familie oder später bei Freundinnen und Partnerinnen, die in frühen Jahren einen hitzigen Kontakt mit ihren eigenen Müttern hatten, in späteren Jahren sich dann selbst als Mütter mit ihren Mädchen durch die Wohnungen tobten – irgendwas ist da komplexer, fragiler. In seiner bewundernswerten Schönheit verdammt unschön. Das muss gar nicht negativ sein, aber offenbar gibt das Mutter-Tochter-Verhältnis etwas her, was kein anderes Verhältnis derart intensiv hergibt, ohne zugleich zutiefst unlogisch oder aber bigott zu sein: Man ist der anderen um 10 Uhr noch die beste Freundin, schreit sich um 11 Uhr minutenlang an, wünscht sich um 12 Uhr die andere für immer – immerimmerimmer! – vom Hals, um dann gegen 13 Uhr kuschelnd und unter Verwendung von Babysprache wieder gemeinsam auf dem Sofa zu hocken, sich gegenseitig die ewige Liebe zu versichern. Das ist toll, wenn nur der diesen Achterbahn-Denver Clan-Zirkus beobachtende Part, zumeist der Mann, nicht ins seufzende Augenrollen abdriften würde. Wie oft habe ich in derlei Momenten meine innere Stoppuhr angeschaltet, darauf wettend, dass in spätestens 3 Stunden wieder Halligalli angesagt ist, Harmonie und Disharmonie sich ihre zwei- bis dreimal täglich die Hände reichen. Aber irgendwie muss das wohl so sein, scheint dieser von außen betrachtet sehr auszehrenden Paarung ein tiefer Sinn innezuwohnen, den man als Kerl nur schwerlich nachvollziehen kann, es auch gar nicht will.

Es sei denn man heißt David Grossman, ist hochdekorierter israelischer Schriftsteller und spezialisiert auf zuvorderst weibliche Innenansichten. Dann will man das natürlich entflechten, will wissen, warum diese stärkste Menschenbindung zwischen Müttern und Töchtern zugleich auch die desaströseste sein kann. Und so lässt er in „Was Nina wusste“ gleich drei Frauen von Israel aus ins ehemalige Jugoslawien aufbrechen. Vera ist die arg rüstige 90-jährige Großmutter. Nina deren Tochter, Anfang sechzig. Gili die Enkelin, Ende dreißig. Gili bewundert ihre Großmutter Vera, die immer für sie da war. Und kann ihrer Mutter Nina wenig abgewinnen, da diese eben nie da war, sie nie stillte und sie als kleines Mädchen einfach nur loswerden wollte, um durch die Welt zu ziehen. Nina hingegen kann so gar nicht mit der schwer bewunderten und beliebten Vera, ihrer Erzeugerin. Und mittendrin, als vierter im Bunde, Rafael, Ninas große Liebe und Gilis Vater, der ein Leben lang zu kitten versuchte, was nicht zu kitten war. Ohne recht zu begreifen, was so kaputt ist in dieser, auch seiner Familie.


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Der Beginn von „Was Nina wusste“ gerät für Grossman-Verhältnisse ein wenig nervig bis plakativ. Dass der friedensbewegte Schriftsteller – diese Wette gehe ich ein – in den nächsten Jahren den Literaturnobelpreis erhalten wird, zementiert er Roman für Roman. Liest man jedoch die ersten hundert Seiten dieses Buchs, so kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass er sich nie derart plump für diese Auszeichnung bewarb. Das liegt zuvorderst an seiner Darstellung der Oma, Vera. Die hat einen kauzigen südosteuropäischen Akzent, ist resolut und klar im Kopf, frech bis dreist, tanzt permanent, singt dauernd und lässt keine Chance verstreichen jedem mitzuteilen, wie sehr sie schon immer für Frieden und Gerechtigkeit war. Richtiggehend böse wird Vera, wenn sie erlebt, dass irgendwo ein Unrecht getan wird. Sie ist dann derart entrüstet, dass der Leser sich genötigt sieht aufzustehen und offensiv Applaus zu spenden. Und sich dabei fühlt wie ein bei einer Oscarverleihung, bei der auch gerne mal irgendein Tattergreis auf die Bühne geschoben wird, um die Auszeichnung fürs Lebenswerk entgegenzunehmen und bei der Dankesrede noch mehr als fünf Sätze geradeaus hinbekommt. Und alles ganz ergriffen ist, ganz gerührt, viele Gäste im Studio haben gar Tränen in den Augen (tja, sind halt zumeist selbst Schauspieler), standing ovations. Und daheim am alemannischen TV-Gerät findet man das zwar irgendwie berechtigt, aber auch ziemlich widerlich. Fremdscham.

Und apropos Oscar-Verleihung: Rafael und seine Tochter Gili sind professionelle Dokumentarfilmregisseure, führen auf dem Trip ins ehemalige Jugoslawien eine Kamera mit, da sie alles, was die vier dort sagen und tun, für die Nachwelt festhalten wollen. Wie gut diese Idee gewählt ist, das zeigt sich erst im Laufe des Buchs, wenn sich nicht nur die gefilmten Handelnden, sondern auch der Leser an diese immer wiederkehrenden cineastischen Einschübe gewöhnt haben, die mit dem Redefluss der Protagonisten zunächst eben auch wieder und wieder den Lesefluss torpedieren, stören, behindern. Bis sich alle irgendwann und irgendwie erst daran gewöhnen, warm werden mit der Kamera, sie gar nicht mehr wahrnehmen oder geradezu einfordern. Und man weiß: Nur wenn die Kamera läuft, gibt es eine Chance auf Authentizität, auf schonungslose Ehrlichkeit.

Goli Otok heißt das Ziel der Familienbande, eine kleine, karge und unbewohnte kroatische Adria-Insel. Bekannt als ehemalige Gefängnisinsel, auf der in den frühen Nachkriegsjahren vor allem politische Häftlinge umerzogen – also gebrochen, gefoltert, getötet – wurden. Auch die aus Jugoslawien stammende Vera musste nach dem Selbstmord ihres ersten Mannes zweieinhalb Jahre dort verbringen, da sie sich weigerte, per Unterschrift zu bestätigen, dass er ein Stalinsympathisant war – was unter Staatsführer Tito, seinerzeit mit der Sowjetunion in innigem Clinch, als Staatsverrat galt. Vera zieht es keineswegs zurück auf die Insel, auf der sie die schrecklichsten, dunkelsten und zumindest körperlich schmerzhaftesten Monate ihres Lebens verbringen musste – ihre Tochter Nina ist. Denn auch wenn Vera es ist, die wirklich Schlimmes durchzustehen hatte, um in der Folge zu einer derart starken und widerstandsfähigen Frau zu werden, ist Ninas Leben es bizarrerweise, dass nicht einfach nur aus dem Tritt geraten, sondern niemals in eine Spur gekommen ist. Nina ist jene Art von Frau geworden, die nirgends daheim sein kann, von Land zu Land zieht, sich alle fünf Jahre bei Rafael meldet, ohne ihm Bescheid zu geben, wo sie sich gerade aufhält. Obschon sie weiß, dass er immer wieder um die halbe Welt reist, um sie zu suchen. Und die jeglichen Kontakt zu ihrer Tochter Gili gekappt hat, nie eine Bindung aufbauen konnte zu ihrem Kind. Nina ist diejenige, die mit ungezählten Männern schläft, die sie einfach auf der Straße aufliest und die immer wieder Züge von Selbstverletzung und Suizidabsichten offenbart. Ein ewig angespanntes, kaputtes Nervenbündel, das von seiner Tochter gehasst und von seiner Mutter für zu weich, zu verwöhnt befunden wird, als gewissermaßen Wohlstandsirre, die de facto keine Ahnung von Leid und Armut hat. Und somit keinerlei Recht, derart abzudriften.

Ja, von Nina stammt die Idee, nach Goli Otok zu reisen, um dort eine Antwort auf ihr kaputtes Leben zu finden. Es soll ein letzter Versuch sein zu klären, warum es Vera möglich war, zu einem starken und liebevollen Menschen zu werden, der nur die eigene Tochter, Nina, seelisch komplett unter die Räder kommen ließ. Warum sie selbst nie in der Lage war, bei dem Mann zu bleiben, den sie liebte, Rafael – und warum sie eine Tochter in die Welt setzte, obschon sie doch genau wusste, wie schlecht das war. Und warum auch ihre Tochter Gili sich sträubt, dem Kinderwunsch ihres eigenen Mannes entgegenzukommen.

Nachdem „Was Nina wusste“ zu Beginn ein wenig sperrig und holpernd gerät – was jedoch durchaus zur unbequemen Gesamtkonstellation der drei Frauen passt – schreibt sich David Grossman nach etwa 150 Seiten in einen meisterhaften, spannungsgeladenen Psychogrammrausch. Die letzten 200 Seiten, mir bleib keine andere Wahl, musste ich in einem Rutsch lesen, so faszinierend hart sind die drei Frauen zu sich selbst und zueinander, so frappierend ist auch die Geschichte – und somit das Geheimnis – um Veras damaligen Haftaufenthalt auf Goli Otok. Nicht nur entfaltet nach und nach alles, was auf den ersten Seiten etwas sperrig daherkommt, plötzlich eine dadurch um so wuchtigere Wirkung, nein, Grossman gelingt das Kunststück, vier Personen darzustellen, die man getrost als emotional gestrandet beschreiben kann, ohne zugleich auch nur einer vorwerfen zu wollen versagt zu haben. Nein, wie an einer Perlenschnur aufgereiht hängen hier zuvorderst die Frauen aneinander, der Grütz der einen führte unweigerlich zum Pech der nächsten, deren Pech wiederum das Unheil der letzten heraufbeschwor. Und das wohlgemerkt, obschon wenig bis kein Kontakt vorhanden war.

Und so erzählt Grossman neben einer kleineren Privatgeschichte hier natürlich auch wieder einmal eine große Geschichte, die erst in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Psychoanalytikern geraten ist. Nämlich dass in Kriegen erworbene Traumata nicht nur die Person drangsalieren, die etwas zu durchleben hatte, sondern sich auch auf die nächste Generation übertragen können, manchmal auch eine Generation aussetzen, um erst bei der übernächsten aufzubrechen. Bei den drei Frauen in „Was Nina wusste“ ist das bestens nachzulesen, scheinen Oma Vera und Enkelin Gili doch aus einem ähnlichen Holz geschnitzt zu sein, derweil Nina zwischen ihnen wie eine personifizierte Leerstelle wirkt, Komplettausfall Mensch.

Grossman erweist sich hier nicht nur erneut als großer Friedenssucher und Charaktererklärer, sondern auch als wunderbarer Bildschöpfer. Allein die vielen Ideen, Sätze und Wendungen, mit denen er Mutter-Kind-Entfremdungen beschreibt, sind eine Extralektüre wert. Seine Schilderungen von Veras Erlebnissen auf Goli Otok sind so demütigend und brutal, wie wir wir es ansonsten von einem Coetzee oder neuerdings Twardoch gewohnt sind. Und doch kommen sie nicht an die Grausamkeit heran, die den Leser umfängt, wenn Gili Nina als bestenfalls „technisch betrachtet“ ihre Mutter bezeichnet.


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