David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Weißer Mann, was nun? Soeben ausgelesen: Donald Ray Pollock – „Knockemstiff“ (2008)

von David Wonschewski

Hat, abgesehen von Frank Rudkoffsky („Fake“, 2019), mittlerweile eigentlich irgendwer hierzulande den ernsthaften Versuch unternommen, literarisch zu untersuchen, warum recht viele Mitbürger AfD wählen? Betonung auf „literarisch“, denn die blitzgescheiten Analysen aus der Vogelperspektive kenne ich natürlich zuhauf. Zuvorderst weiße Männer wählen AfD und das aus Angst Privilegien abzugeben oder aus tief sitzenden Minderwertigkeitskomplexen, die anno 2021 kaum noch mit Allmachtsfantasien in Einklang zu bringen sind. Charakterliche Komplettverkrustung, schon klar. Was halt so herausanalysiert wird, wenn der Analysierende versucht, seine eigene Welt als möglichst integer darzustellen. Was bekanntlich am besten über die vermeintliche Entlarvung des kaputten Selbstbildes der anderen funktioniert.

Die Amerikaner sind hier mal wieder viel weiter. Wer verstehen möchte, warum so unfassbar viele Menschen Trump wählten und ihm noch immer hinterherweinen, kann sich natürlich auch hier die vielen politisch und nicht selten ideologisch eingefärbten journalistischen Betrachtungen reinziehen. Oder aber, effektiver, es sich von Leuten erläutern lassen, die sich nicht aus einer luftgepolsterten Draufsicht heraus auf die Erklärung von Fremdalltag stürzen. Ganz einfach, weil sie diesen Luxus nicht haben, selbst dem Milieu entstammen, über das zu urteilen ist. Die 2016 erschienene „Hillbilly-Elegie“ von J.D. Vance gehört, behaupte ich einmal plump, zu den wichtigsten Büchern unserer Zeit. Eine Autobiografie, die sich letztlich liest wie die Antwort auf die Frage, was eigentlich aus der Familie Joad aus dem John Steinbeck-Klassiker „Früchte des Zorns“ (1939) wurde. Ganz einfach: Wählte und wählt Trump. Auch Richard Russo- oder Cormac McCarthy-Romane, um zwei weitere Beispiele zu nennen, lesen sich vielfach wie eine Erläuterung auf Augenhöhe, die es in Deutschland bisher kaum bis gar nicht gibt.


Ein Mann erstickt an der Gesellschaft, wird er Amok laufen?

Lesen Sie: “Blaues Blut”, den politisch etwas inkorrekten Biedermeiersehnsuchtsroman von David Wonschewski.

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„Knockemstiff“ von Donald Ray Pollock dürfte das heftigste Buch in und aus dieser Richtung sein. Ursprünglich erschienen 2008 ist es zeitlich weit genug entfernt vom Trumpismus, um irgendwelche radikalen Ansätze erkennen zu lassen. Zeigt jedoch so brutal wie wohl kaum ein anderer Roman die Lebensrealität einer abgehängten ehemaligen Mittelschicht, die perspektivlos zwangsläufig zu dem wird, was wir hierzulande ganz gerne „Asis“ nennen. Unterbelichtete Vollspackos. RTLII-Opfer, Junk-Food-Vollhorsts, Meth-Hackfressen, Parkplatz-als-Treffpunkt-Abschaum. Und überhaupt: Kann die Trulla sich nicht mal die Zähne machen lassen?! Keine Würde, oder was?!?

Nein, keine Würde. Und genau das ist der Punkt. Würde hat nur der, der einen Wert in sich selbst entdeckt, muss man sich im besten marktkapitalistischen Sinn also erst mal leisten können, so ein Quäntchen Würde. Weg ist die Würde aus Knockemstiff, ist verduftet, hat sich verdrückt. Und das nicht erst gestern. Wo sie hin ist, die Würde? Nun, vom Örtchen Knockemstiff in Ohio aus vermutlich die Route 50 runter und immer geradeaus, nach Kalifornien, nach Florida. Wo sich Würde nun einmal so hübsch pittoresk sammeln und halten, sogar überwintern kann. Auch die Steinbeck-Joads aus Oklahoma hatten diesen Traum von Kalifornien, was daraus wurde, ist Literaturgeschichte. Aber immerhin sind sie losgefahren, damals, haben es versucht. Die vielen Protagonisten aus dem Pollock-Roman kriegen das Hinterteil schon gar nicht mehr hoch, dauernd stoned, dauernd angesoffen, null Antrieb. Vielleicht aber, das ist meine Überlegung, auch schlauer und weiser als ihre Joad-Vorfahren. Wissen längst darum, dass ein Traum nur so lange gut ist, wie man sich ihm ums Verrecken nicht nähert. Ich halte es sehr gut möglich, dass die vielen abgeranzten Gestalten hier in ihren vier bis maximal sechs Jahren Schulzeit auch den Steinbeck eingetrichtert bekommen haben. Für mich als vollabiturierten Westdeutschen ist der Klassiker ja ein Aufsteh-Pamphlet, ein hocheffektiver Rebellions-Schinken. Durch Pollock ahne ich nun, dass das von Ohio aus etwas anders aussieht. „Früchte des Zorns“ lässt diesen Leuten, die es ja nun echt betrifft, aber mal sowas von die Luft aus den abfahrbereiten Reifen. Weg war noch nie eine Richtung, also bleibt man besser einfach nur da, wo man eh schon ist. Knallt sich solange die Birne zu, bis sich der euphemistisch-zynische Begriff „gestrandet sein“ für einen sinnentleerten Moment lang tatsächlich wieder wie Sommerurlaub anfühlt.

„Knockemstiff“ einen „Roman“ zu nennen ist eine kreative Interpretation meinerseits. Genaugenommen finden sich 18 Kurzgeschichten in dem Buch, die jedes Mal einen anderen Protagonisten, aber allesamt in dem runtergekommenen Kaff Knockemstiff spielen und deren nicht mehr so zahlreiche Bewohner sich untereinander zwangsläufig immer wieder über den Weg laufen. Knockemstiff ein Kaff zu nennen ist jedoch auch schon eine Beleidigung für diesen Begriff, das Drecksloch liegt halt mitten im Nirgendwo, war seine 50 Jahre mal eine Art Versprechen für aufstiegsbereite Einwanderer bis dann, na ja, „Früchte des Zorns“ halt. Alles ging irgendwie den Bach runter, alles verfiel, nichts Neues entstand, schleichende Verwahrlosung. Wer blöd genug war, suchte in Kalifornien sein Glück, wer genauso blöd war, tat das nicht, egal. Die Handlungen der Geschichten spielen durchweg in diesem Ort und der näheren Umgebung und finden im Zeitraum mehrerer Jahrzehnte zwischen den 1960er und 1990er-Jahren statt.

„Knockemstiff“ ist vermutlich deswegen einer der brutalsten Romane, die ich kenne, weil er maximal weit entfernt ist von Gewaltfantasien oder blutrünstiger Actiongeilheit. Das macht es ja, leider, so realistisch, auch so hochliterarisch. Wenn sich die kaputten Existenzen hier mit unglaublicher Kreativitädie unterschiedlichsten, allesamt sehr fragwürdigen Pillen ergaunern, Hauptsache irgendwas zeckt und dröhnt, ja selbst wenn sie sich gegenseitig unnötige Gewalt antun, dann ist diese sehr plausibel, sehr nachvollziehbar. Um nicht zu sagen: komplett verständlich. Ja, es gibt hier viele zu Brutalität neigende Männer, zu leiden haben darunter deren Frauen und Kinder. Und auch wenn der Begriff „Opfer“ hier formaljuristisch gewiss korrekt wäre, verhalten sie sich allesamt nicht wie solche. Wenn eingehässiger Mann hier sagt „Die will es doch so.“, dann sagt er das nicht mit gaunerhaft-sexgeilem „Hehe“ davor, sondern wie eine nüchterne Bestandsaufnahme. Und es stimmt. Wie die Kerle freiwillig auf Drogen und Gewalt zulaufen, laufen die Frauen genauso freiwillig auf diese Männer zu, sind mehr Zombie als denn Mensch, ertragen stoisch, gehen, stehen kurz danach wieder auf der Matte. Und man merkt schnell: Auch ihr Verhalten ist eine Art von Droge, Hauptsache irgendeine Form von Gefühl, auch wenn es ein Erstunkenes und Erlogenes ist.

Liebe suchen wir bei Pollock 250 Seiten lang, fündig werden wir nicht. Der Grund, warum ich diese nachtschwarze Americana-Literatur mit 5 von 5 Sternen bewerte, ist auch noch ein anderer. Wie erkläre ich das jetzt: Diese 18 Kurzgeschichten haben in ihrer Rohheit und Hoffnungslosigkeit eine Tiefe, die mich dazu bringt, an wirklich jedem Ende, also 18 verdammte Mal, kurz vor „Pipi inne Augen“ zu stehen. Ich bin, was Literatur betrifft, echt ein tougher Bursche, ich mag es kalt und dystopisch und desillusioniert. Wenn Menschen aber derart chancenlos vom Leben ge-dingst sind wie diese Menschen aus Knockemstiff, Ohio – dann will ich 18 Mal aufstehen, Frau, Mutter und Schwester umarmen. Und vielleicht sogar einen Baum. Danke sagen.

Es gibt aktuell so viele Bücher, die sich daran verheben, mir oberlehrerhaft erklären zu wollen, dass und warum jemand wie ich total das privilegierte Steiloleben hat. Geht fast immer in die Hose. Pollock aber hat es geschafft. Dass es nichts mit Anstand und noch viel weniger mit Intellekt zu tun hat, nicht die AfD zu wählen, das war mir schon vorher klar. Jetzt aber erkenne ich auch diesen meinen Luxus, den ich da habe, das wirkliche Privileg, das ich besitze. Mein Heil auch bei anderen Parteien finden zu können. Puh, Glück gehabt.

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5 Kommentare zu “Weißer Mann, was nun? Soeben ausgelesen: Donald Ray Pollock – „Knockemstiff“ (2008)

  1. Pingback: Ol‘ Frankie’s Watertown | toka-ihto-tales

  2. Bludgeon
    11. März 2021

    Treffer. Aber um nu nich des Antisemitismusses geziehen zu werden ist dringende Erweiterung geboten. Ich meine alle diese Macher mit asozialen Einkünften die sich Milliardäre schimpfen und mit ein bissel Charityschafsfell den Wolf verstecken.
    Wenn man zb auf dieses lebendige Kicker-Spielzeug eines einsamen Mäzens verzichten würde und die Milliönchen in die Rentenkasse flössen …. aber: Ware Vernunft darf niemals siegen.

  3. davidwonschewski
    11. März 2021

    Hm, lass mich raten: Bill Gates und Dietmar Hopp!

  4. Bludgeon
    9. März 2021

    Das ist wieder obertoll – aber eins fehlt diesmal: WER gräbt all diesen Losern das Wasser ab? Alles selbstverschuldet? Wer sitzt da am längeren Hebel „halt du sie dumm, ich halt sie arm“?
    Wer schickte die Oklahoma-Farmer mit diesem Märchen los: In Kalifornien suchen sie Apfelsinenpflücker…

    Und wer gräbt hier bei uns immer mehr Berufen das Wasser ab?
    Jetzt lässt es sich auf das Virus schieben, aber sonst?

    Es gibt da Verwerfungen, global gesehen in allen Industriesstaaten, die lassen „Unsere Kinder sollen es besser haben“ einfach nicht wahr werden. Und diese Verwerfungen sind NICHT gottgegeben.

  5. Sybille Lengauer
    9. März 2021

    Kommt auf meine Liste.

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