von David Wonschewski
Als ich vor fast genau 20 Jahren meine erste feste Freundin kennenlernte, lernte ich, klar, auch ihre Mutter kennen. Eine Frau, die einen derart verstörenden Eindruck bei mir hinterließ, dass sie 2012 einen gewichtigen Platz in meinem Depressions-Debütroman “Schwarzer Frost” bekam. Ich war, als ich meine Freundin mitsamt Mutter traf, gerade 26 Jahre alt und aufgrund mangelnder eigener Beziehungserfahrungen noch in einem gewissen Schwarz-Weiß-Schema verhaftet. Meine Weltsicht bestand aus männlichen Sausäcken mitsamt Partnerinnen, die deren Sausackigkeit beständig abfedern, aushalten, ausbügeln mussten. Warum ich ein solches Beziehungsbild hatte, ich kann es gar nicht einmal sagen. Kann eigentlich nur aus dem TV-Gerät gekrochen gekommen sein, denn im privaten sonstigen Umfeld kannte ich das nicht. Wie auch immer, dieses etwas eindimensionale Bild bekam erst durch die Mutter meiner damaligen Freundin erste Risse, war sie doch der erste Mensch, der mir etwas aufzeigte, was ich später noch oft erleben sollte, zuvorderst bei meinem eigenen Vater: Opferaggressivität. Die Tyrannei der Schwäche.
Mein Vater war der beste Mann, den man sich im Haus, in der Familie, im Leben wünschen konnte. Sage ich als Kind, sagte aber nach seinem Tod auch meine Mutter. Bis der Krebs kam, ihn von innen heraus aufzufressen begann. Und mein Vater, anstatt hingebungsvoll und demütig vor sich hin zu leiden, binnen Wochen zum mittleren Hausterroristen mutierte. Ein bekanntes Phänomen, er verbitterte, wurde zynisch, nahm etwas wahr, was er als seine letzten Rechte ansah, wurde gerade dadurch emotionslos und ungerecht, verbal brutal. Und wir anderen trauten uns nicht aufzubegehren gegen Vorhaltungen, Unterstellungen, spontane Wutausbrüche. Weil der Krebs doch in seinem Magen wütete, die starken Medikamente in seinem Hirn, die Aussichtslosigkeit in seiner Seele. Er konnte sich alles erlauben in jenen Tagen.
Die Mutter meiner ersten Freundin machte sich selbst stets so seltsam klein. Auf die penetranteste aller Arten. Schaute immer wie ein verletztes Reh aus ihrem Gesicht hinaus in die Welt, doch wirkte es wie aufgesetzt, wie Koketterie. Verfiel auch permanent in Kleinmädchensprache mitsamt dem entsprechendem Tonfall. Beendete jeden zwanzigsten Satz mit Wortsprengseln á la: “Ich bin ja nun einmal nicht so schlau, weißt du doch, hihi”. Hört man das einmal alle paar Wochen, dann möchte man trösten, gut zureden, in den Arm nehmen. Hört man es fünfmal am Tag und an den hanebüchensten Stellen geht es einem auf den Puffer. Und man beginnt sich, frei nach einem frühen Hit der Band Die Sterne zu fragen: Was, Frau, hat dich bloß so ruiniert?
Nun, wie ich nach und nach mitbekam, hatte die Frau nicht das Leben erhalten, das ihr, wie sie dachte, zugestanden hätte. In der DDR aufgewachsen, war sie künstlerisch-kreativ hochbegabt, durfte sogar zum Studium an eine Kunsthochschule. Doch noch bevor sie dieses beendete, kam der Mann, schnell das Kind, meine spätere Freundin. Fast zeitgleich riss irgendeine Verdrahtung in ihrem Kopf. Also tatsächlich riss da was, was nur mit operativem Eingriff zu kitten war. Mit der Folge, dass sie zeitlebens hirnlahm war, auch einen Behindertenausweis besaß, an Kunstkarriere fortan nicht mehr zu denken war. Schon gar nicht mit Kind. Zwei Jahre später verpriemelte sich der Mann in bester Sausackmanier, ließ hirnlahme Mutter mit kleiner Tochter allein zurück. Und etwas, was bis dahin Verbitterung war, wurde zu etwas, das Züge von Hass trug. Die Geburt ihrer eigenen Opferaggressivität. Oder um es aus der Sicht meiner Freundin zu sagen: Haustyrann, dein Name ist Mama.
Als ich viele Jahre später dort auftauchte, oft beim Abendessen mit Mutter, Tochter und dem neuen Mann zusammensaß, fühlte ich mich sofort unwohl. Der neue Mann sprach quasi nie, es quakte mit Kindermädchenstimme fast nur die Mutter. Derweil meine Freundin eine Anspannung zeigte, die ich außerhalb ihres Zuhauses nicht von ihr kannte. Der am Öftesten von der Mutter gemachte Witz, den ich in den knapp 5 Jahren hörte, war der, wonach der stille neue Mann gewiss eh längst fremdgeht. Weil ja niemand es lange mit einer behinderten Frau aushält. Hihi und Rehaugen und Kopf schief gehalten und so. Kennen Sie die Geschichte von dem, der unbedingt rausfinden wollte, ob er anderen Menschen zu anstrengend ist – und sie genau deswegen dauernd danach befragte, tags, nachts. Und dem auch die gegebenen Antworten offensichtlich total egal waren, solange er nur weiter und immer wieder danach fragen konnte?
Meine Freundin selbst gestand mir später einmal, dass sie zur Männerhasserin erzogen worden sei. Von ihrer Mutter direkt, von ihrem Lump an leiblichem Vater indirekt. Der neue, so stille Mann veredelte es gewissermaßen noch. Denn dass der fremdgeht, war auch für sie klar, nicht diskutierbar. Wer derart penetrant schweigt, der hat dunkle Geheimnisse. Später, als mein Schwarz-Weiß-Denken bereits zu einem Grau-in-Grau geworden war, da fragte ich sie, ob es denn Anzeichen für dieses Fremdgehen gäbe. Nein, die gab es nicht. Das sei ja der Beweis, sagte sie. Wie durchtrieben er sei. Gerade Männern, die keinen Anlass zu Misstrauen geben, sei zu misstrauen, sagte sie. Sie und ihre Mutter ihm schon noch auf die Schliche kommen werden. Und sie sagte es, als seien sie und ihre Mutter eine liebevoll verbundene Einheit. Doch das waren sie nie, denn meine Freundin wurde nicht nur zur Männerhasserin erzogen, sie wurde auch dazu erzogen, es ihrer Mutter, dem ewigen Lebensopfer, ebenso auf ewig recht zu machen. Die eigene Schuld, auch ein Klotz am Karrierebein dieser Frau zu sein, verschwinden zu lassen. Was sollte sie auch machen, sie hatte nichts anderes an Familie, nur das.
Wissen Sie, im dritten Jahr meiner Teilnahme an diesen Abendessen erkannte ich etwas für mich Neues. Dass türmende Väter und verstummende Lebenspartner in all ihrer Sausackigkeit selten nur Täter sind. Ich stelle mir den leiblichen Vater meiner damaligen Freundin noch heute manchmal vor, neben dieser Frau, das Kind zwei Jahre alt. Sie mit dieser zur Schau getragenen, penetranten Bitterkeit. All den nicht zu beantwortenden Vorwürfen ins Abstrakte. Merkt ein Mann, dass sich in ihm etwas Ungutes zusammenbraut, er nicht mehr kann, ihm die Möglichkeiten eines gesunden Austausches nicht länger gegeben sind, so steht gerade er, als der körperlich zumeist Stärkere, in der Verantwortung anderweitig tätig zu werden. Abhauen oder Verstummen sind da manchmal tatsächlich die besten Wege. Oder hätte der Kindsvater sich dem Alkohol, der Gewalt hingeben sollen? Oder bei seiner Flucht die Tochter mitnehmen, die kranke Frau mit noch mehr Bitterkeit versorgen sollen? Je länger ich bei diesen Abendessen mit am Tisch saß und hörte, wie Mutter und Tochter über den abwesenden Vater herfielen, den stummen neuen Mann mit Sprüchen über seine vermutete Fehlbarkeit überzogen, desto sympathischer wurde mir der abwesende Vater, der Lump. Und ich bekam Angst vor dem, was aus dem stummen Mann werden könnte. So er nicht endlich zusieht, dass er ebenfalls abhaut, Land gewinnt.
Nein, häusliche Gewalt war dort nie ein Thema. Aber ich merkte bald, dass sie dennoch gegenwärtig war, über allem schwebte. Das Letzte, was ich von meiner Exfreundin hörte, war im Übrigen, dass der Stumme dann echt noch fremdging. So richtig traditionell, auf der Arbeit, mit der Sekretärin, 20 Jahre jünger. Ich weiß noch, wie sie höhnisch lachte am Telefon: Wir haben es doch gesagt! Auf die Idee, dass sie und ihre Mutter den Kerl quasi mit Fußtritten dahin getrieben hatten, kam offenbar nur ich. Weswegen ich auch erleichtert aufatmete als ich das hörte. Und keine Sorge, ich nehme hier niemanden willfährig in Schutz. Weise lediglich – der Roman “Dürre Engel” von Noémi Kiss bringt mich mal wieder dazu – daraufhin, dass es schwierig ist sich Tätern in den Weg zu stellen, sie aufzuhalten. Aber noch viel schwieriger, Opfern Einhalt zu gebieten. Dabei wäre genau das wichtig.
Im Zentrum von “Dürre Engel” steht Öcsi, Ehemann der Protagonistin und Ich-Erzählerin Livia, einer 40-jährigen Volksschulehrerin. Die Handlung spannt sich über die 80er- und frühen 90er-Jahre und strandet im Hier und Heute, in dem Livia in einer Mischung aus Krankenhaus und Nervenanstalt sitzt, nachdem sie ihren Öcsi erstochen hat. Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort ist, zumindest an der Oberfläche, einfach: häusliche Gewalt. Livia wurde so lange seelisch und körperlich von ihrem Mann misshandelt, bis es ein reiner Überlebensakt war, ihn zu töten. Gleichsam als Vorbereitung auf das zu erwartende Gerichtsverfahren versucht sie ihren besten Freundinnen Kati und Sari – und somit auch uns – zu erklären wie es so weit kommen konnte. Um es direkt zu sagen: Es gelingt vortrefflich.
Öcsi ist Leichtathlet, ein begnadeter Läufer, er wird sogar Landesmeister. Ein ungarischer Landesmeister darf zu Olympia, klar. Tickets und Unterkünfte in Los Angeles, es ist das Jahr 1984, sind bereits gebucht. Und dann das: unter der Führung Russlands boykottieren diverse Länder die Olympiade, darunter auch Ungarn. Aus der Traum, aus blöden politischen Gründen. Aus der Ferne klingt es eitel, wenn ein Spitzensportler daran zerbricht, nicht zu Olympia zu kommen. Noémi Kiss kommt das große Verdienst zu aufzuzeigen, worin hier die menschliche Tragödie liegt. Wie “Dürre Engel” überhaupt immer dann sehr stark ist, wenn sie auf Öcsis Leben außerhalb der Beziehung, den Sozialismus der 80er-Jahre, Ungarn zu sprechen kommt. Leider fallen darauf in Summe jedoch nur wenig Seiten ab. Viele Seiten fallen dafür ab für die drei Frauen, alle mittlerweile um die 40, wie sie sich nach Jahren gerade durch Livias Mord an Öcsi wieder finden. Und es mag meiner männlichen Lesebrille geschuldet sein, aber es sind diese Passagen, die nerven. Ich kann das schlecht beurteilen, vielleicht haben alle tieferen Frauenfreundschaften wirklich was homoerotisches an sich, vielleicht ist da wirklich soviel Gegiggel und Geheule am Start. Und vielleicht – nein, ganz bestimmt – sind Frauen unter sich zu genauso dämlich sexistischen Plattwitzen fähig wie Männer unter sich es zelebrieren. Warum auch nicht, es sei ihnen, keine Ironie, herzlich gegönnt. Ich habe nur die Serie “Sex & the City” schon nicht verstanden, beziehungsweise nicht verstanden, warum ich mir so etwas ansehen sollte, ja – und das ist der Punkt – ob es nicht sogar Teil der Grundidee ist, dass ich als Mann draußen bleibe, es nicht nur im öffentlichen Leben, sondern auch in der Kultur und somit Literatur Frauenschutzzonen gibt, wo diese nur unter sich sein sollten.
Lirum, larum, sei es drum. Wer schon einmal bei einem Jungesellinnenabschied war und da einen tollen weiblichen Zusammenhalt erlebte, nur zu, lest dieses Buch. Der Fehler kann durchaus auch bei mir liegen, klar. Ebenfalls auf Dauer schwer erträglich ist der Stil, in dem Kiss uns die erzählende Livia vorführt. Dass da jemand zerrissen und am Ende ist, mit sich selbst hadert, klar. Leider tut Livia das über weite Strecken jedoch in einem verhuschten Tonfall, der nicht selten nah an Lyrik gebaut ist. Was Noémi Kiss wunderbar drauf hat, jedoch dazu führt, dass die arme Protagonistin mir zunehmend unsympathischer wird. Womit wir bei der Opferaggressivität angelangt wären. Kennen Sie die Serie “A Handmaid’s Tale”? Männlich-patriarchale Gewalt, unterdrückte Frauen, das ganze Programm. Drei Staffeln lang bester feministischer Dystopiestoff, sogar für Männer halbwegs erträglich. In Staffel vier nicht mehr, die Heldin June, die man so lange anfeuerte, macht eigentlich nichts anders als vorher, aber man beginnt regelrecht die fiesen Typen, die sie foltern, weil sie ihren Platz als Frau nicht kennt, anzufeuern. Weil man diesen ewigen Opferblick nicht mehr abkann, dieses monotone selbstgerechte vor sich Hingelaber, manchmal singt sie sogar in ihrer Zelle. Und ist ganz deep mit allen Frauen. Staffel vier dieser Serie ist in etwa Seite 120 von “Dürre Engel”, ein turning point, an dem dem Leser klar wird, dass diese Frau aber auch einfach einmal schwerlich zu ertragen ist. Natürlich rechtfertigt das nicht Öcsis Misshandlungen, kein Stück, aber mit jeder Seite, die man liest, rückt Öcsi einem näher, Livia hingegen weg. Gut möglich, dass Noémi Kiss das auch bezweckte, sicher bin ich mir da aber nicht. Ja, man beginnt Öcsis Lebensfrust zu verstehen, von den großen Werten, den Sehnsüchten, erfüllt sich nichts, Öcsi ist ein Mann, der so schnell und so weit laufen konnte wie er wollte, wo er ankam, wartete immer bereits der Mustopf auf ihn. Beruflich, auf der Bahn, wie auch im Privaten. Denn Livia und er wollen ein Kind. Doch sie wird nicht schwanger. Sie versuchen alles, auch medizinisch, Livia geht bis an den Rand des gesundheitlich zulässigen, doch vergeblich. Es ist Öcsi, der ihren ansteigenden Frust und ihren bornierten Entschluss sich über ein Kind zu definieren abzufangen versucht, doch auch das vergeblich.
Die Jahre gehen ins Land und aus Livia wird eine Frau, die beim Thema Kinder zunehmend rot sieht. Daran zerbricht offensichtlich unfruchtbar zu sein. Hier ist der Roman wieder großartig, Noémi Kiss schafft es, die emotionalen Tiefen von Kinderlosigkeit derart intensiv auszuloten, dass zumindest ich, selbst kinderlos, ihr sogar als Mann ab und an die Hand reichen mochte, ergriffen war. Literarisch habe ich das nie so groß, so toll aufbereitet gelesen wie hier. Allerdings, wie beschrieben, mit eindrücklichem Einfluss auf das Gesamtergebnis. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, Öcsi trägt seinen toxischen Hauptteil bei, dass die Lage derart eskaliert. Jeder von uns hat die Verantwortung prophylaktisch zu agieren, sobald das Zucken in der eigenen rechten Armbeuge überhand nimmt, die Kiefermuskulatur die Backenzähne über Gebühr zu malträtieren beginnt. Ist der Punkt erreicht, ist Kofferpacken und Flucht angesagt. Ein Schwein ist man so oder so. Dann lieber ein Schwein, das eine fassungslos-wutschnaubende Frau zurücklässt als eine, die durch Schläge derart traumatisiert ist, dass sie nur noch zum Äußersten gehen kann, wie immer das dann auch jeweils ausfällt.
“Dürre Engel” hat mich bestärkt in meiner Ansicht, dass der leibliche Vater meiner damaligen Freundin richtig daran tat, als er mit seiner Flucht die beste aller schlimmen Optionen wählte.
Fazit: 3 von 5 Sternen
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