von David Wonschewski
Vorabfazit: 3 von 5 Sternen.
Zvi Luria und seine Frau Dina leben in Tel Aviv, Israel. Der ehemalige Straßenbauingenieur und die noch praktizierende Kinderärztin, kurz vor ihrer Pension, sind seit 48 Jahren verheiratet, haben zwei mehr oder minder gut geratene, längst erwachsene Kinder, sind wohlsituiert, kurzum: Könnten den besten aller Lebensabende verbringen. Zumal es auch an Liebe und sogar Erotik nicht mangelt zwischen ihnen, denn wenn hier, in A.B. Yehoshuas neuem Roman “Der Tunnel”, etwas unauslöschbar ist, dann ist es die wahre, die ewige Liebe zwischen zwei Menschen, die gemeinsam alt geworden sind und, daran lässt die Geschichte keinen Zweifel, auch gemeinsam sterben werden.
So weit, so gut? Nein, natürlich nicht, aus den Grundzutaten “Glück” und “Liebe” allein hat sich noch nie ein Roman schreiben lassen. Und so findet der dicke Stolperstein im Spätherbst dieser traumhaften Liebe gleich zu Beginn von “Der Tunnel” Eingang in die Beziehung: Zvi wird von einem Neurologen eine Frühform der Demenz attestiert. Das heißt: So richtig weiß man gar nicht, was da ist, dass da überhaupt was ist, auf den Röntgenbildern von Zvis Gehirn sieht nämlich nur der Arzt etwas, obwohl – nicht einmal der so richtig. Da ist halt so eine dunkle Stelle, kaum zu erkennen, die aber größer werden kann, größer werden wird. Muss nicht, kann aber. Vielleicht.
Uff. Alte Menschen mit Demenz – so wichtig das Thema ist, hat man Lust, sich damit nun die folgenden gut 360 Seiten herumzuschlagen? Nein, hat man nicht, aber Yehoshua wäre (nach dem Ableben von Amoz Oz vor geraumer Zeit) nicht der erfolgreichste israelische Schriftsteller, wäre er nicht so hervorragend in der Lage Lust auf dieses Thema zu machen. Denn genau das gelingt ihm mit drei Zutaten: Sehr viel Liebe, sehr viel Humor und das Ganze – das kennt man seit seinem großartigen Debüt “Der Liebhaber” aus dem Jahr 1977 von ihm – ausgebreitet vor dem Hintergrund der grausamen Realität eines Lebens im Zentrum des Nahostkonflikts.
Es ist die urkomische Seite des Argwohns, die Lächerlichkeit der Nicht-Verifizierbarkeit, an der Yehoshua seine Beschreibung der Demenz heftet, für die er immer wieder amüsante Drehungen und Wendungen findet. Der Opa Zvi, der seinen Enkel vom Kindergarten abholen soll – und sich kurzerhand das falsche Kind greift, was zu Tumulten führt. Oder der Theatergänger Zvi, der seiner Frau am Ende einer Aufführungspause noch schnell ein Programmheft besorgen will und kurze Zeit später orientierungslos durch die Theaterkatakomben irrt, um ein Haar auf der Bühne landet. Und der Autofahrer Zvi, der wie ein Irrer einfach nur über eine bereits gelbe Ampel rast, was er nie getan hat – doch, doch, das klingt alles schon verdammt senil. Wenn man es sich denn vornimmt, das so zu interpretieren. Für alle vermeintlich eindeutigen Demenzzeichen zeigt Yehoshua jedoch stets auch andere, sehr nachvollziehbare, mitunter gar logische Deutungsansätze auf und treibt damit seinen doppel-, mitunter gar dreibödigen empiristischen Schabernack. Der sich immer wieder reibt an der Unmöglichkeit konkrete Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen für den, der da ins Vergessen zu rutschen droht, der Peinlichkeiten anziehen, im Grunde nicht einmal mehr allein auf die Feier eines alten Arbeitskollegen gelassen werden kann…oder aber, vielleicht, gerade dort alleine, ohne Dina als Aufpasserin und Schutzmauer, hingehen sollte…
“Solange du keine Angst vor Missgeschicken oder Blamagen hast, wenn ich allein auf dem Markt oder im Einkaufscenter unterwegs bin, musst du dir erst recht keine Sorgen machen, wen ich mich an dem Ort, an dem ich so viele Jahre gearbeitet habe, unter Freunden und Kollegen bewege. Und stören musst du mich dabei auch nicht.
Womit sollte ich dich denn stören?
Mit deiner bloßen Präsenz, denn wenn du an meiner Seite bist, bin ich nur auf dich fixiert, ich spüre deinen Blick und bin verunsichert. Und wenn Freude und Bekannte zu uns treten, allein oder mit ihren Partnerinnen, dann zieht es sie nur zu dir und nicht zu mir. Weil du nämlich Sorge hast, wenn ich rede, könnten mir Namensverwechslungen und verquere Erinnerungen herausrutschen, reißt du das Gespräch an dich und lenkst es auf unsere Kinder und die von anderen, damit wir uns danach an den Enkeln erbauen können, und das alles noch vor den medizinischen Geschichten, zu denen die Leute dich verleiten. Denn auch heute werden von den alten Freunden manche da sein, die sich erinnern, dass du eine renommierte Ärztin bist, und sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen wollen, einen ärztlichen Rat oder den Namen eines Medikamentes zu ergattern. Und dafür habt ihr, Yoavi und du, mich nicht hingeschickt.”
Ja, es ist der unmögliche Versuch, die ärztlich verschriebene Eigenständigkeit zu bewahren und zugleich doch Schutzvorkehrungen vor Peinlichkeiten und Schlimmerem zu treffen, an der Zvi, seine Frau, die Kinder, ja sogar der Neurologe frappierend und amüsant zugleich das gesamte Buch hindurch scheitern. So entsteht bei Zvis Sohn Yoav schnell die Theorie, dass sein Vater geistig erst abbaut, seit er pensioniert ist und nur noch stupide Tätigkeiten im Haushalt vollbringt. Mit der Folge, dass er und Dina Zvi gerade zu drängen sich über seine Kontakte eine kleine Nebentätigkeit in seinem alten Berufsfeld, dem Straßen- und Tunnelbau zu drängen. Was ihm sogar gelingt, mit dem Sohn eines dem Krebstod entgegenschreitenden ehemaligen Kollegen – Yehoshua gelingt das Kunststück sogar das relativ lustig zu beschreiben – plant er in der israelischen Negev-Wüste einen Tunnel durch einen Hügel, den kein nüchtern und logisch kalkulierender Staatsapparat jemals durchwinken und realisieren lassen dürfte. Und für den man, wir ahnen es, schon ein wenig geistig umnachtet sein muss, um überhaupt Argumente dafür zu finden. Fortan latscht Zvi also durch die Wüste und turnt über Baustellen, stellt sich für Messungen mitten auf Straßen und Kreuzungen, ist in politischen Ausschüssen gezwungen aufzustehen und das Wort zu ergreifen. Ohje, sagt sich da der Leser – keine gute Idee seinem Zustand. Und ohje sagt sich auch seine Familie, unschlüssig, was sie denn nun halten soll von der regen Tätigkeit des vermutlich dementen Ehemannes und Vaters:
“Trotz der fieberhaften Arbeit im Krankenhaus ruft Dina ihn regelmäßig an, um zu erfahren, wohin ihn seine Ideen treiben. Auch Yoav ruft aus dem Norden an und führt mit seinem Vater ein Gespräch über Politik, um zu kontrollieren, ob die Demenz ihn bereits von seinen früheren Ansichten hat abkommen lassen. Und selbst Avigail stiehlt sich für einen Moment aus ihrem heiligen Seminar für Berufstätige, um mit äußerster Behutsamkeit zu klären, ob ihr Vater auch das richtige Kind abgeholt hat und in die richtige Wohnung gebracht hat. Ja, seufzt Luria am Telefon, alles ist richtig, und ich soll dich auch von dem richtigen Schnitzel grüßen, das vor dem Kind liegt, das du zur Welt gebracht hast.”
Neben dem amüsanten, fast schon kathartisch zu nennenden Umgang mit Altern und Demenz besticht “Der Tunnel” durch ein Füllhorn an zärtlichen Beschreibungen jenseits der Kitschgrenze. Dass Zvi, als er seine an einer heftigen Grippe erkrankte Frau aufwecken muss, erst ganz leise und erfolglos ihren Namen flüstert, dann aber seine warme Stirn an ihre kalten Füße legt, um ihr ein sanftes, nicht erschrecktes hinübergleiten aus dem Schlaf ins Wachen zu ermöglichen, ist nur eine vieler wundervolle Ideen und Beschreibungen.
Beweise für die Existenz echter Liebe erbringt Yehoshua zuhauf in diesem Roman. Was dem Friedensaktivisten Yehoshua vor diesem Hintergrund weniger glückt ist seine Einflechtung des Nahostkonflikts. Auf dem Hügel in der Negev hält sich ein Palästinenser versteckt, der nicht zurück in sein Dorf nahe Dschenin kann, der sich aber genauso wenig den israelischen Behörden stellen darf, da diese ihn niemals akzeptieren und sofort zurück in die besetzten Gebiete abschieben würden, wo ihn jedoch seine eigenen Leute höchstwahrscheinlich massakrieren würden, hat er es doch geschafft, es sich mit beiden Seiten nachhaltig zu verscherzen, sodass er ein identitätsloser geworden ist – mit der Wüste als letztem möglichen Aufenthaltsort. Nicht, dass es das nicht geben würde, natürlich gibt es dieses Wandern zwischen so fest gezogenen Identitätslinien und natürlich gibt es, gerade in Israel, eine Anhäufung von Menschen, die gleichermaßen nirgendwohin wie überallhin zu gehören scheinen, die Minderheit der arabischen Israelis, beispielsweise. Und doch erscheint der Grund, warum sich drei letztlich sehr unterschiedliche Männer gemeinsam für diesen Tunnel einsetzen ein wenig an den Haaren herbeigezogen und kulminiert letztlich in der Faszination dreier zu alter Herren für die blutjunge und bildschöne Tochter des Palästinensers. Das mag nett gemeint sein, hat anno 2020 aber eben ein fieses “-alter weißer Mann”-Geschmäckle, das die Geschichte so überhaupt nicht nötig hat. Sicherlich, Männer begehen angesichts einer schönen Frau manche Torheit, eine Dame namens Helena löste einen der legendärsten aller Kriege aus – aber sich mit der israelischen Armee, dem israelischen Ministerium für Straßenbau und diversen Naturschutzgruppen anlegen, nur weil eine Palästinenserin recht hübsch in der Wüste herumsteht: Ich weiß ja nicht, ich weiß ja nicht. Und frage mich: Bedeutet das im Umkehrschluss, dass man den alten Palästinenser allein einfach verrecken hätte lassen?
Anzeichen für Depressionen. Textauszug aus: David Wonschewski – „Schwarzer Frost“.
Weitere Literaturbesprechungen gibt es: HIER.
Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.
Ergänze um den Film “Still Alice”, dieser zeigt sehr intensiv die Gefühlswelt.
Ach du meine Güte, so viel beschriebenes Papier, das gelesen werden muss/soll/wird oder eben auch nicht! Mich würde interessieren, wie hoch der Turm wäre, wenn wir alle jemals geschriebenen/gedruckten Bücher fein säuberlich übereinander stapeln würden – bei absoluter Windstille versteht sich, vielleicht sollten wird den Planeten für das Experiment auch kurz anhalten und was sonst noch notwendig ist, damit der Stapel keine Faxen macht… Klar, man könnte das auch mit Theorie und Herumrechnen lösen, aber das wäre nur der halbe Spaß!
Demenz ist das Thema dieser Zeit. Kennst Du die Filme ‘Honig im Kopf’ und ‘Liebe’? Sie behandeln das gleiche Thema sehr feinfühlig aber dennoch humorvoll.
So, das bestelle ich mich jetzt gleich! Klingt sehr spannend, vielen Dank für den Tipp! Liebe Grüße, Hannah
Ob Yehoshua das Buch an einem Tag schrieb, ich glaube kaum. Die Besprechung, ja, an einem wolkenverhangenen Morgen.
Welche Vergangenheit denn? Ich habe ja so schrecklich viele davon. Viele Grüße.
Gut geschrieben, alles an einem Tag?
Grüße aus der Vergangenheit