David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Bipolares Leben. Auszug aus: David Wonschewski – „Blaues Blut – Eine Biedermeiersehnsucht“ (2022)

bipolarer Mann

„Wer Heinz Strunk in „Es war immer so schön mit dir“ zu unreflektiert, Michel Houellebecq in „Vernichten“ zu regressiv und resignativ, wer Quentin Tarantino in „Es war einmal in Hollywood“ zu eklig und libidinös grenzwertig, Maxim Biller in „Der falsche Gruß“ zu aufgesetzt und verhetzend, und Emmanuel Carrère in „Yoga“ zu selbstverliebt empfindet oder empfand, das Genre der sich selbst entblößenden neuen Männlichkeit aber mag und interessant findet, der findet in „Blaues Blut“ genau das, was er sucht: Literarische Selbsterforschung in Hochform, unterhaltsam, aufklärend, fröhlich und dies in redegewandter Hochgeschwindigkeit“ (Alexander Carmele, zur ganzen Buchkritik – HIER.)

Textprobe:

Eng umschlungen, erst tanzend, dann im Liebesakt, schlussendlich, als ich dazu komme, kämpfend.

Ich sehe es noch genau vor mir: Frankenfelder ist an jenem letzten Tag, jenem Frühlingsmittwoch, als erster in der Wohnung. Natürlich ist er das, ist er doch ihr vorrangigster Bewohner. Dann aber kommt Cosmin und schließlich, wenige Stunden später, Cristina. Verabredet sind sie, Cristina und Cosmin, nicht gewesen. Im Gegenteil, sie hassen einander. Oder aber bilden sich einer wie der andere zumindest ziemlich überzeugend ein, einander dringend loswerden zu müssen. Doch genau das gelingt ihnen nicht. Anstatt sich in alle Winde zu zerstreuen, Cristina nach Süden, Cosmin nach Osten und Frankenfelder – ja, wohin mit Frankenfelder? – Frankenfelder irgendwohin, verbarrikadieren sie die Tür, verrammeln und verriegeln sie von innen. Wohl wissend, dass nur einer von ihnen nach einem Tag und der darauffolgenden Nacht wieder ins Freie treten, eine Zukunft unter den Menschen haben wird. Ein Irrsinn, nicht wahr?

Der schöne Cosmin. Die ernste Cristina. Und Frankenfelder, natürlich Frankenfelder. Alle Adjektive dieser Welt simultan auf sich vereinend. Und zugleich: kein einziges.

Ja, so sehe ich Frankenfelder vor mir, wenn ich an ihn zurückdenke. An diesem letzten Tag, in dieser sich anschließenden letzten Nacht. Engumschlungen mit Cosmin und Cristina, erst tanzend, dann im Liebesakt, schlussendlich, als ich dazu komme, kämpfend.

Möbel sind keine mehr in der kleinen Wohnung, Frankenfelder hat sie allesamt entfernt. Stück für Stück, eines nach dem anderen. Geblieben sind ihm nur die Wände, die ihn umgeben, ein Fußboden, der ihn hält, eine Zimmerdecke, die ihn zu zermalmen trachtet, sowie Fenster und Tür, die ihm ein draußen vorgaukeln. Ein draußen, an das er längst nicht mehr glaubt. Nicht zu vergessen die Matratze. Natürlich die Matratze. Sein letzter Besitz.

Er hat mir zu erklären versucht, warum er das getan hat. Warum er nicht mehr leben konnte und nicht mehr leben wollte mit Möbeln in seiner Wohnung. Verstanden habe ich es nicht.

Ahhh und Ooooh hatte Frankenfelder gemacht, während er sich in den Scherben suhlte

Und so tanzten die drei an jenem letzten Tag und in jener letzten Nacht in dieser so abstrus kargen Wohnung. Bevor sie sich schließlich in wildem Liebesspiel über den harten Bretterboden rollen ließen. Ich sehe es noch exakt vor mir, eingebrannt hat es sich in meinem Hirn. Der Tag geht zur Neige und mit diesem zur Neige gehenden Tag hält die Dunkelheit Einzug in Frankenfelders Wohnung. Lampen gibt es keine mehr, Frankenfelder hat auch sie entsorgt. Alles, was auch nur im Entferntesten in der Lage schien, für Licht zu sorgen, hat er in die große Mülltonne im Hof geworfen. Nicht einmal mehr Glühbirnen gibt es, Frankenfelder hat sie bereits einige Wochen zuvor allesamt kaputtgeworfen. Hatte sich zusammen mit den letzten ihm verbliebenen Gabeln und Messern in die hinterste Ecke seiner leeren kleinen Wohnung gekauert, gezielt, geworfen. Wieder und wieder. Bis er dann, nach auffallend langer Zeit, endlich einen Treffer gelandet, die nackt aus der Fassung ragenden Glühbirnen von der Decke gesäbelt hatte.

Klirr hatte es gemacht und zersprungen war die Birne und die vielen kleinen Scherben waren von der Decke herunter auf Frankenfelders Zimmerboden gefallen. Und Frankenfelder hatte in seiner Ecke gekauert, mit einem ganz schiefen, jedoch sehr befriedigten Grinsen im Gesicht. Hatte sich dann nackt ausgezogen und in die Scherben gelegt. Und sich schließlich, nach einigen Minuten bewegungslosen Liegens, begonnen darin zu suhlen. Ahhh und Ooooh hatte Frankenfelder gemacht, während er sich darin suhlte, seine Haut wieder und wieder über die scharfkantigen, gezackten kleinen Glühbirnenscherben rieb. Schnell hatten sich kleine Wunden auf Frankenfelders Rücken und auch an seinem Gesäß gebildet und das Blut war daraus hervorgetreten, wenn auch nur langsam. Und kaum hatte Frankenfelder das bemerkt, hatte er sich mit der Spitze seines Zeigefingers in eine seiner eigenen Wunden begeben, bis sein Fingernagel getränkt war von seinem eigenen Blut. Daran gelutscht hatte Frankenfelder dann, sehr langsam und sehr wollüstig hatte er sein eigenes Blut von seinem eigenen Fingernagel gezutscht. Und dann begonnen, sich mit der anderen Hand zwischen seinen Beinen herumzuspielen. Und dann hatte er wieder Aaahhh und Oooohh gemacht. Und ich hatte als heimlicher Beobachter dieses Vorgangs hinter einem Vorsprung nicht näher zu beschreibender Art gekauert und gedacht: Schau an, schau an, der politische Klassenkämpfer Frankenfelder, die Zierde bundesdeutscher Verweigerungs- und Entsagungskultur – ereifert sich an sich selbst, ereifert sich an seiner eigenen Menschlichkeit!

Und dann hatte ich lautlos kichern müssen. Damit aber sofort aufgehört, als ich mich zu fragen begann wie das, was Frankenfelder dort treibt, sich wohl anfühlt.

So nackt. So in Scherben. So blutend. So Aaahh. Und so Ooohhh.

Das war einige Wochen zuvor gewesen. Nun aber, in dieser letzten Frankenfelder-Erinnerung in meinem Kopf, ist er notdürftig bekleidet und schwitzt. Ich bin mir nicht sicher, wovon er schwitzte, war die Wohnung doch gut gekühlt. Wie auch Cristina gut gekühlt war in ihrer angeborenen Ernsthaftigkeit. Steht in meiner letzten Erinnerung dort an der einen Wand des Zimmers, derweil Frankenfelder und Cosmin ihr gegenüber stehen, an der anderen Wand, auf der Matratze. Keiner spricht ein Wort, alle drei sind die Beherrschung in Person, anfangs. Sieht man einmal von Frankenfelder ab, der schwitzt, als gelte es in der Stille und der Kargheit seiner Wohnung und unter den intensiven Blicken Cristinas und Cosmins ein Geheimnis zu bewahren. Ein letztes, ein allerletztes Geheimnis, etwas, das nur er kennt, nur er weiß, nur er versteht – und von dem Cristina und Cosmin, die ansonsten alles über ihn wissen und die in ihm lesen können wie in einem Buch, keinen Schimmer haben.

So wie Frankenfelder in jenem Moment, so denke ich noch heute, schwitzt nur einer, der entgegen aller Erwartung doch noch ein letztes Stück Würde, einen letzten Rest Anstand, einen kleinen verbliebenen Funken Verstand und Vernunft in sich trägt. Genau das alles nun aber, in einen Hinterhalt gelockt und umzingelt von Feinden, zu verlieren fürchtet.

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5 Kommentare zu “Bipolares Leben. Auszug aus: David Wonschewski – „Blaues Blut – Eine Biedermeiersehnsucht“ (2022)

  1. Pingback: Bipolares Leben. Auszug aus: David Wonschewski – „Blaues Blut – Eine Biedermeiersehnsucht“ (2022) – Der weise Rabe

  2. davidwonschewski
    7. September 2022

    Hallo, Jan,

    verzeih die verspätete Antwort, ich war mal vorübergehend wo, von wo ich – wir ahnen es fast – just zurückkehrte;-)
    Ehm, wie, also du willst ein Buch „für Einsteiger“? Aus meiner Feder oder von berühmten Autoren? Und wenn ja, was meinst du mit Einsteiger, also überhaupt ins Bücherlesen oder in eine spezielle Thematik? Viele Grüße!

  3. Jan
    25. August 2022

    Hi.
    Ich bin schon langzeit Follower ihres Blogs, da ich mich schon für Literatur empfehle, aber ich bin nicht der Vielleser. Würde das gerne ändern, weshalb ich nach Empfehlungen suche. Welche Bücher können Sie einem Einsteiger empfehlen? Habe bislang bisschen was von Zweig, Bernhard und Hemingway gelesen. Würde mich über eine positive Rückmeldung freuen.

    Beste Grüße

  4. Pingback: Anzeichen für Depressionen. Textauszug aus: David Wonschewski - "Schwarzer Frost". - David Wonschewski | Autor

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 5. Januar 2024 von in Nachrichten.

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