David Wonschewski | Schriftsteller

Kulturjournalist – Romancier – bipolarer Bedenkenträger

Schuster, bleib’ bei deinen Leisten. Soeben ausgelesen: Stendhal – “Rot und Schwarz” (1830)

stenrot

von David Wonschewski

Vorabfazit: 2 von 5 Sternen.

Wer ein wenig in seinem Balzac, ein wenig in seinem Flaubert geblättert hat, der erkennt in Stendhals “Rot und Schwarz” schnell ein sehr beliebtes Sujet des französischen Romans der Restaurationszeit wieder: Ein blutjunger Mann aus niederen Verhältnissen macht sich auf, hinaus in die Welt zu treten, sie sich anzueignen. Seiner Klassenzugehörigkeit zum Trotz nach Karriere, Macht und Ruhm zu streben. Und es damit nicht zuletzt aus der tiefsten bäuerlichen Provinz nach Paris zu schaffen, es in Paris zu schaffen.

Wie Flauberts Frederic Moreau (“Erziehung des Herzens”, 1869) und Balzacs Lucien Chardon (“Verlorene Illusionen”, 1837) ist auch Stendhals Julien Sorel nicht nur äußerst begabt, sondern enorm gut aussehend. Nicht zu unterschätzende Eigenschaften, die allen drei Protagonisten enorm weiterhilft, wenngleich – für den heutigen Geschmack – auch immer etwas schablonenheft. Die mächtigen Männer aus Adel, Klerus und wohlhabendem Bürgertum wissen die Talente auszunutzen, derweil deren Ehefrauen und Töchter sich reihenweise in die Knaben verlieben, die mitunter noch keine 20 Lenze zählen. Und die, als strippenziehende Maitressen im Hintergrund, den jungen Männern letztlich den Aufstieg erst ermöglichen – um sie schlussendlich dann ins Verderben zu jagen mit ihrer Herztümelei, ihrer Unentschlossenheit, ihrer Empfindsamkeit und immer wieder, ja, Rachsucht.

Wie erwähnt ist es mit Sicherheit der Luxus des spätgeborenen Lesers, sich bei derart eintönigen Klassen- und Geschlechtsbeschreibungen ab und an ein wenig überheblich zu amüsieren oder aber genervt die Augen zu rollen, da alle drei Seiten jemand verhuscht zur Seite schaut, errötet, Wangen und Arme des Geliebten in einem schattigen Winkel des Gartens schnell und hastig, mit glühenden (immer glühenden) Küssen bedeckt. Derweil der Tonfall der Männer untereinander in Höflichkeit und Ehrerbietung erstarrt, bis es einem zu viel wird, der Kragen platzt, zum Duell aufgefordert wird. Bei meiner Ehre, Monsieur! – und so weiter und so fort.

Das ist 200 Seiten lang ganz charmant, vielleicht (ganz sicher) waren die Zeiten damals halt auch einfach so. Es würde auf 700 Seiten auch in Stendhals “Rot und Schwarz” jedoch in entsetzlichem, schwer erträglichem Kitsch enden, wenn es sich – wie auch bei Flaubert und Balzac – um lupenreine Gesellschaftsromane handeln würde. Und im Fall von Stendhal: Politik. Denn diesem Julian Sorel bedeutet sein gutes Aussehen wenig, er ist weit davon entfernt ein eitler Gockel zu sein. Im Gegenteil, von seinem Vater, einem grobschlächtigen Zimmermann, und seinen älteren Brüdern eine Jugend lang verprügelt, sinnt der sensible, schmächtige Julien nach Vergeltung. Und bildet einen Argwohn, um nicht zu sagen Hass gegen jegliche Autoritäten aus. Obwohl früh von Priestern und Äbten intellektuell gefördert, ist ihm der Klerus zutiefst zuwider, sodass er ihn zu nutzen, nicht jedoch zu schätzen vermag. Ebenso verhält es sich mit dem schwerreichen Fabrikanten Rênal, in dessen Wohnsitz er eine erste Stelle als Hauslehrer antritt. Um es, beseelt von seinem großen geheimen Vorbild Napoleon, auf dessen Ehefrau abgesehen zu haben:

“Gewisse Dinge, die Napoleon über die Frauen sagt, verschiedene Erörterungen über den Wert von Romanen, die unter seiner Herrschaft in Mode waren, brachten ihn zum ersten Mal auf den Gedanken, die jeder andere junge Mann seines Alters längst gehabt hätte.

Die heißen Tage kamen. Man gewöhnte sich an, die Abende unter einer mächtigen Linde zu verbringen. Hier war es stockdunkel. Eines Abends redete Julien besonders angeregt; hingebungsvoll genoß er das Vergnügen, so gut zu reden und noch dazu vor jungen Frauen; im Gestikulieren berührte er Madame de Rênals Hand, die auf der Lehne eines jener lackierten Holzstühle lag, wie sie in Gärten aufgestellt werden.  Die Hand wurde blitzschnell zurückgezogen; aber Julien dachte nun, es wäre seine Pflicht zu erreichen, dass diese Hand nicht zurückgezogen wurde, wenn er sie berührte. Der Gedanke, eine Pflicht erfüllen zu müssen und sich lächerlich zu machen oder sich vielmehr einem Gefühl der Unterlegenheit auszusetzen, wenn es ihm nicht gelang, vertrieb au der Stelle jedes Vergnügen aus seinem Herzen.”

Es ist Stendhals großes Verdienst, dass er seinen Protagonisten Julien als äußerst ambivalenten Charakter zeichnet, mit dem der Leser bis zum Romanende nicht recht warm werden kann, der ihm – wie auch vielen Nebenpersonen, die es an verschiedenen Stellen auch so formulieren – eine Menge Rätsel aufgibt. Gleichermaßen berechnend wie hochemotional, gleichermaßen brutal wie hochsensibel stolpert Julien nach oben. Gelangt, nachdem die unzulässige Beziehung zu Madame de Rênal ein Verbleiben unmöglich macht, in noch höhere, ja höchste Pariser Kreise – um dort mit der Tochter des Hauses, Mathilde, anzubändeln, die er, heiter wechselnd, mal als wenig reizvoll, dann wieder als sehr reizvoll beschreibt. Die Krux an der Geschichte: Wie auch schon die Vertreter des Klerus, erweist sich auch die Aristokratie als Juliens Förderer, begegnet ihm nur selten schlecht, lässt ihn in keine Hinterhalte und Fallen tappen, auch wenn Julien solche sieht, immer und überall. Und so scheint es tatsächlich, als hätte Julien, auch wenn er es sich nicht eingesteht, als einzelner Revolutionär den Kampf gegen ein ganzes Klassensystem aufgenommen. Indem er es, und das ist die einzige Eitelkeit, die er sich erlaubt, es mit seinen Mitteln schlagen zu können denkt.

“Diese Dame, die offenbar so empfänglich war für die Freuden des Besitzes, hatte gerade eben beim Essen einem Dienstboten eine gräßliche Szene gemacht, weil er ein Kelchglas zerbrochen und eines ihrer Dutzend ruiniert hatte; und dieser Dienstbote war auch noch unverschämt geworden. Feine Gesellschaft! sagte sich Julien selbst wenn sie mir die Hälfte gäben von allem, was sie stehlen, möchte ich bei ihnen nicht erleben. Eines schönen Tages würde ich mich verraten; die Verachtung, die sie mir einflößen, könnte ich nicht unterdrücken.”

Nein, dieser Sorel lässt sich keinesfalls vergleichen mit Balzacs Lucien oder Flauberts Frederic. Denn wo diese beiden qua Naivität zu Opfern von Verhältnissen, Intrigen und Vertrauensbrüchen werden, zurück in die Provinzlöcher geschickt werden, denen sie entstammen, agiert Stendhals mehr wie, tja, wie eine Kriemhild, von Sinnen, wie blind den eigenen Untergang geradezu ansteuernd, das eigene Ende forcierend.

Wo Flauberts Roman meiner Ansicht nach zu vernachlässigen ist, Balzac einen sehr empfehlenswerten Einblick in die eitlen Gelüste und schiefen Egos einer Künstlergeneration liefert, betreibt Stendhal Klassenkampf par excellence. Da sind ihm die paar Situationen aus Schmonz und Kitsch, derer es zu viele gibt in diesem Roman, schnell verziehen.

Unterstützen Sie den Autor der obigen Zeilen, indem Sie sich sein “eigenes Zeug” reinziehen – zwei erste Videoeinblicke sind untenan einzuhaschen. Vielen Dank.

Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski.  Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.

5 Kommentare zu “Schuster, bleib’ bei deinen Leisten. Soeben ausgelesen: Stendhal – “Rot und Schwarz” (1830)

  1. davidwonschewski
    24. Mai 2020

    Gibt es auch in der Musik. Hier, im heimischen alemannsichen Musikregal, da liegen zwischen Hannes Wader und Herbert Grönemeyer Welten. Wäre in GB und USA kaum denkbar. Wader ist hier Spezialfreak bitte den Gang runter, hinten rechts. Als ich mal in New York war, da fand ich in einem gut sortierten CD-Laden Dylan und Jackson in einem Fach. Als Musikjournalist tat ich meine Verwunderung kund, zumal ich kurz danach auch Elton John dort fand. ich habe meinem amerikanischen Begleiter versucht zu erklären, warum sich Jackson und Dylan unmöglich ein Regal teilen können. Hat er aber nicht verstanden. Und hatte wohl recht damit.

  2. Bludgeon
    24. Mai 2020

    Ich glaube da eher an das deutsche Nachäff-Gen. Immer erstmal ins Ausland gucken, bevor man an eigene Kulturzündungen glaubt.
    War schon nach dem 30jährigen Krieg so, als alle Bildungsbürger und Adelsnasen Möchtegern-Franzosen wurden.
    Als die Engländer Kolonien hatten und vom Imperium schwätzten, gab es prompt in Deutschland den gleichen Spleen.
    Und andererseits handhaben wir dann einige Abkupferungen päpstlicher als der Papst und betreiben Haarspalterei. Mir hat mal ein Literaturwissenschaftler erzählt, dass der englischsprachige Raum keinen Unterschied zwischen Anekdote, Novelle und Roman kennt, dass Goethe und Schiller german romantic poets sind usw. Sprich: Alle diese Glaubenskriege “hie Realismus “- “hie Naturalismus” – nö – ” hie Expressionismus” usw. – Schmuck am Nachthemd.

  3. davidwonschewski
    24. Mai 2020

    Hm, also ich kenne ihn nicht, in der Tat. Empfehlenswert? Tja, gewiss hat das auch mit Moden zu tun. Gibt einfach so Zeiten, da haben gewisse Gegenden einen Standortvorteil. Ist in der Rockmusik z.B. ja auch so. Wenn da als Herkunft Manchester, London, Seattle, Los Angeles steht, gaanz evtl noch Hamburg, dann ist das halt was anderes als wenn da steht: Erlangen. Ich ahne, dass ist dieses genetische Schubladendenkererbe, dass wir alle mehr oder weniger in uns tragen. Ganz interessant. Krimiserien haben seit einigen Jahren bestenfalls aus Schweden zu kommen und die abgegriffene TV-Idioten-Comedy unserer Tage ist sehr Köln-abhängig.
    Hammer und Amboss. Der Titel kickt mich ja, offen gesagt….; – )

  4. Bludgeon
    23. Mai 2020

    Hm. Warum nur blieb der Ruf der franz. Autoren unbeschadet erhalten und die deutschen, die ganz ähnlich schrieben, wurden in Kulturkritikasterei verdammt und hinterher brav vergessen.
    Mir scheint, dass Spielhagens “Hammer und Amboss” (1869 erschienen und in hoher Auflage bis ca 1925 verkauft) ein sehr gutes Pendant zu Stendahl wäre, aber wer kennt den schon noch.

  5. Klausbernd
    13. Januar 2020

    Lieber David,
    tolle Rezension! Ich empfinde “Rot und Schwarz” genauso: hart am Kitsch und dennoch wegen des komplexen Charakters des Protagonisten und seiner politischen Einstellung lesenswert – obwohl ich häufig meine Augen verdrehte.
    Herzliche Grüße vom Meer
    Klausbernd
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

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