von David Wonschewski
Die Tage bin ich auf meiner ersten Friedensparty gewesen. Gleich hier in der Nachbarschaft. Auf einem angrenzenden Feld haben wir ein Feuerchen entzündet, jeder hat seine heimischen Regale nach Tolstois, Bulgakows, Dostojewskis etc. durchforstet, eingesackt, mitgebracht. Und dann mit großem Hurra in die Flammen damit. War das schön. Zumal auch bildungsferne Haushalte mitmachen konnten. Die haben halt für Kartoffelsalat, Bier und Holzbänke gesorgt. Als dann die ersten Nachbarn anfingen, auch ihre SPD-Mitgliedsausweise ins Feuer zu werfen, glaubte auch ich Misanthrop an ein schöneres Morgen.
Im Mittelalter flagellierte man sich noch selbst, um zu einem Zustand von Katharsis zu gelangen. Wir erinnern uns an den Fettmönch im “Namen der Rose”. Der moderne Mensch ist dafür nicht geschaffen, zündelt lieber. Das Dumme an einem solchen Hexenfeuerchen ist, dass es – leider, leider – nicht ewig brennt. Am nächsten Tag hockt man in seiner Bude und überlegt, wie man weiter friedensstiftend wirken kann. Kleiner Tipp vom Experten: Anonyme Anrufe bei Unternehmen. Einfach aufs Geratewohl: “Entfernen Sie Igor Wassiljewitsch!”. Gibt es da mit Sicherheit gar nicht, aber es geht ja auch einfach darum, ein wokes Bewusstsein zu schaffen. Wer etwas talentiert ist, legt sich einen hölzernen osteuropäischen Akzent dafür zu. Das ist quasi the NSU-way, dadurch wird da so eine Skripal-Nummer draus. Die russische Community macht sich selbst den Garaus, so wird es nach offizieller Lesart heißen. Lohnt sich echt, die Nummer mit den Anrufen, habe ich einen ganzen Tag durchgezogen, ich hatte den Spaß meines Lebens. Zumal man da schnell in so eine humorige Bart Simpson-Schiene rutscht. Sie kennen das gewiss, dessen wiederkehrende Kinderstreich-Anrufe in Moe’s Taverne. “Entfernen Sie Igor Wassiljewitsch!” – “Hier arbeitet kein Igor Wassiljewitsch.” – “Na, dann entfernen Sie Wladimir Lubiljanskinowitschelewskij!” – “Den gibt es auch nicht hier.” – “Ja, was sind denn Sie für ein xenophobes Unternehmen, dass bei Ihnen keine Russen angestellt sind, die sie nun entfernen können?! Sie zeig’ ich an!!” – “Wir sind kein xenophobes Unternehmen, wir haben unseren Mustafa Benoglu. Können wir den vielleicht für Sie entfernen?”
Was Sie dann antworten, bleibt ihrem eigenen Gewissen überlassen. Da mir viel an Ihrem Wohlergehen liegt, prüfen Sie aber bitte vorher, ob es sich hier wirklich um einen waschechten Erdoğanesen handelt oder nicht um einen Kurden. Sonst hocken Sie ratzfatz da mit Ihrem hochnotpeinlichen Friendly Fire. Und peitschen sich die verkommene Mönchsseele aus dem eigenen Leib.
Ja, ich weiß. Ich kann manchmal eine richtige Pissnelke sein. Guter Katholik, der ich bin, bitte ich Sie dennoch weiterzulesen. Denn ganz unten gebe ich Ihnen eine Lösungsmöglichkeit. Und da 80 Prozent meiner Leser meine Ironie nicht verstehen, bekenne ich hiermit: Das da oben war eine solche. Ich verabscheue moralinsaure Boykotts. Egal in welchem Bereich. Wenn ein Regisseur sich fragwürdig verhielt, eine Firma einen wenig zeitgemäßen Videoclip produziert oder ein Comedian mit nicht belegbaren Vorwürfen konfrontiert wird, ist mir das so was von egal, was deren “Erzeugnisse” betrifft. Genaugenommen sind moralinsaure Boykotts das einzige, was ich moralinsauer boykottiere. Ich finde Boykottse ungehörig, jawollja! Manchmal führt so ein moralinsauerer Boykott sogar erst dazu, dass ich mich für etwas zu interessieren beginne. Und erst recht zugreife.
Wie bei Viktor Martinowitsch. Dessen Roman “Revolution” stand seit über einem Jahr ungelesen in meinem Regal. Es war das letzte Werk, das ich mir auf PR-Anfrage hin zusenden ließ, für Umme. Auf so Zeug hat man dann oftmals irgendwie doppelt keinen Bock, sobald erst einmal eingetroffen. Dank Putin war mir die Tage dann aber doch sehr danch mal hinein zu schmökern, spielt der Stoff doch in Moskau. Und Martinowitsch selbst ist gebürtig aus Belarus. Ha, besser geht es doch gar nicht, ein Traum! Da brauche ich gar kein Feuerchen, um ein Lodern in mir zu spüren. Und um im verkappten Bild zu bleiben: Ein solches brennt der Geschichts- und Politikwissenschaftler in “Revolution” von selbst ab. Rückwirken betrachtet sicherlich einer der besten Romane des Jahres 2021.
Das Buch hat aber auch einfach alles, um mich zu kriegen. Da ist zunächst der etwas langweilige Protagonist Michail German, der als Lehrkraft an einer Moskauer Universität arbeitet, während seine Freundin Olja kellnert – und wenig Lust verspürt, an so etwas wie einer eigenen Karriere zu werkeln. Doch es läuft gut zwischen beiden, bis Michail in einen fingierten Verkehrsunfall gerät. Ja, ein mächtiger Geheimbund, der in Russland unsichtbar Stricke zieht, hat ihn auserkoren, Teil seines Kreises zu werden. Und Michail lässt sich einspannen, fängt an, Aufträge zu erfüllen – von kleineren Geldübergaben bis hin zu Mord.
Diese “Revolution” ist eine Story so ganz nach dem Geschmack von beispielsweise David Lynch-Fans. Martinowitsch tänzelt gekonnt auf der Grenze zwischen gesunder Wahrnehmung und Paranoia, dem Wunsch, ein rechtschaffener Mensch zu bleiben und den Verlockungen der Macht. Da ich ungern die vielen schönen Ideen aus dem Roman ausplaudern will, hier ein fiktives Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie laufen die Straße entlang, ein Fremder stellt sich plötzlich vor Ihnen auf, grinst. Und sagt: Wir brauchen Sie, machen Sie es heute richtig! Und Sie, weil keine Ahnung wer das ist, was der will: Häh?! Und der Fremde: Sie wissen schon. Und weg isser. Sie begehen Ihren Alltag, vergessen den Knaben fast, da steht er drei Tage später wieder plötzlich vor Ihnen, raunt: Gut gemacht, wir melden uns. Und ist wieder weg. Und Sie so: Häääh?! What the f….! Am Nachmittag dann klingelt das Telefon, sie werden zu einem tollen Bewerbungsgespräch eingeladen, obschon Sie sich nie beworben haben dort. Sie gehen hin, das Gespräch verläuft seltsam, auch wie fingiert, aber egal, Sie kriegen die Stelle. Doppeltes Gehalt ab jetzt, Führungskraft. Und Sie sitzen in Ihrem neuen Büro, freuen sich zwar, kommen aber eben weiter nicht raus aus dem: Häääh?!! Und dann erhalten Sie eine SMS: “Gehen Sie um 15 Uhr in den Zeitschriftenladen in der Rosenthaler, kaufen dort eine Schachtel Zigaretten und werfen diese dann in den Papierkorb Mollnauer Ecke Broselska.” Belohnung folgt. Und Sie fangen an zu überlegen, was denn das wohl werden soll, wenn es groß ist. Und ob es nicht genaugenommen sogar schon so groß ist, dass Sie schon keine andere Wahl mehr haben als diese blöden Zigaretten zu kaufen, sie dann wegzuwerfen.
So in etwa ist “Revolution”, es ist spannend, es kitzelt unsere dunkle Seite und ist immer wieder lustig. Dazu zeichnet Martinowitsch ein düsteres Moskauer Lokalkolorit, das zumindest mich alten Ost-eopologen erfreut. Dass Martinowitsch mein Jahrgang, 1977, ist, erkennt man zudem daran, dass der elektronischen Prügelcombo The Prodigy hier eine entscheidende Rolle zukommt. War zwar nie meine Musik, doch mit diesem Roman an der Seite lauschte ich diversen Tracks, drehte laut auf wie der Protagonist, erfreute mich an der radikalen Wut. Und mitten drin immer wieder wunderbare Liebesbeschreibungen, neue, noch nie so gelesene Romantikbilder, am Ende war ich gar kurz davor, mir ein emotionales Tränchen verdrücken zu müssen.
Lesen Sie dieses Buch. Und wenn Sie das getan haben, warten Sie bitte, wir melden uns via SMS mit dem neuen Befehl. Teilen Ihnen mit, wer entfernt werden muss. Und wie Sie mit einer vermeintlich geringfügigen Tat Gutes tun können. Friedensfestfeuer? Lachhaft. Nur Deutsche machen Friedensfestfeuer. Wollen applausheischend beobachtet werden dabei. Profis hingegen boykottieren nicht, Profis entfernen. Unsichtbar, geräuschlos. Je weniger Applaus, desto effektiver das Verschwinden.
Entfernen Sie David Wonschewski.