Ich bau dir ein Schloss (zu faul, den Text zu lesen? Lieber anhören? Gerne: HIER)
“Ich bau dir ein Schloss“, sagte ich zu dir. „So wie im Märchen. Da kannst du drin wohnen. Und glücklich sein.“
Du lachtest. Stupstest mit dem Zeigefinger auf meine Nase und antwortetest: „Ach du, du Spinner – du kannst doch nicht einmal eine Lampe an die Decke bringen. Wie willst du da ein ganzes Schloss für mich bauen, hm?“
Dann umarmtest du mich, fuhrst mir mit deinen Zauberhänden durch mein Haar, küsstest mich. Und während wir uns küssten, du so nah bei mir warst und ich so nah bei dir, spürte ich bereits den Wahrheitsgehalt deiner Worte. Spürte die tiefe Ernsthaftigkeit deiner so scherzhaft ausgesprochenen Sätze. Denn es stimmt. Ich bin ein Spinner. Lebe mit dir in einer Deckenfluter- und Kerzenwohnung, bringe nicht eine Lampe vom Boden hoch an die Decke.
Stehe ich im Flur und schaue ich hinauf zu den Kabeln, die dort aus der Decke ragen, so stehe und schaue ich stets mit schlaff an meinen Körperseiten herabhängenden Armen. Und lasse ich dann, nach Sekunden, nach Minuten, mein Kinn ein wenig sinken, wende meinen Blick fort von der Decke und stattdessen nach links an die Wand, so nehme ich den großen Fotokalender wahr. Den mit den Ansichten von Manhattan im Schnee. Der, den wir uns kauften, da ich den Anblick unseres tief in die Wand eingelassenen silbrig grauen Sicherungskastens nicht ertrug.
‚Und doch‘, so dachte ich, während wir uns küssten, ‚gehört das alles zusammen, ergibt das alles ein Bild. Es ergibt exakt unser Bild. Du und ich, all die Kerzen und Deckenfluter, all die lose aus der Decke ragenden Kabel, Manhattan im Schnee und der so sorgsam vor meinem Blick verborgene Sicherungskasten. Das alles‘, so dachte ich, während wir uns küssten, ‚sind wir.‘
Und ich umschlang deine Hüften, zog dich fester an mich heran.
„Doch, sicher, ganz, ganz sicher: Ich bau dir ein Schloss“, sagte ich erneut zu dir, ja rief es fast. „So wie im Märchen! Da kannst du drin wohnen! Und glücklich sein!“
Du sahst mich an, lächeltest, nahmst meine Hand und sagtest: „Ach, du Spinner. Weißt du denn überhaupt, was Glück ist?“
Ich schwieg, dachte lange nach, wich ihm aus, deinem Blick, und sagte irgendwann: „Nein. Das weiß ich nicht.“
„Na also“, sagtest du, strichst mir mit deinen Zauberhänden durch das Haar, fuhrst mit deinem Zeigefinger meine Lippen entlang und fügtest hinzu: „Dann sag doch so was nicht.“
Draußen vor unserem Küchenfenster ging die Sonne unter. Der Tag begann sich in erste Schatten zu legen, und du und ich wir standen in unserem Flur, hielten uns. Der Deckenfluter spendete ein wenig Licht, das Flackern der Kerzen erhellte und verdunkelte dein Gesicht. Und über deine Schulter hinweg konnte ich Manhattan sehen, wie es im Schnee versank. Und meinen Sicherungskasten verbarg.
„Gut“, sagte ich. „Dann bau ich dir eben einfach nur ein Schloss. So wie im Märchen, da kannst du drin wohnen – und Schluss.“
„Und Schluss?“, fragtest du.
„Ja“, sagte ich. „Und Schluss.“
Still lächeltest du in dich hinein, langtest mit deinen Zauberhänden nach meinen Haaren und strichst durch sie hindurch, wie nur du – nur du – durch sie hindurch zu streichen vermagst.
Unsere Zeit verrann und denke ich heute daran zurück, wie es so war mit dir und mir, deinen Zauberhänden und meiner diffusen Angst vor unserem Sicherungskasten, so kommt mir unsere gemeinsame Zeit schon gar nicht mehr vor wie Monate, schon gar nicht wie Jahre. Denn sehe ich dich und sehe ich mich, so sehe ich uns, zur Bewegungsunfähigkeit verdammt, wie eingefroren in einem einzigen Augenblick. Dem Augenblick, in dem du und ich in diesem Flur standen, uns nahe waren wie nie, uns liebten, wahrhaft und aufrichtig. Und doch hilflos unserer diffusen Angst vor der Dunkelheit ausgeliefert waren.
Ich bot an, einen Freund zu fragen. Die Welt ist doch voll von Männern, die umzugehen wissen mit ihren Händen, die Tag für Tag ihren Frauen Schlösser bauen. Doch das interessierte dich nicht. Erinnerst du dich, wie wenig Gefallen du an meinen hilflosen Versuchen fandest, doch noch für ausreichend Licht in unserer Wohnung zu sorgen? Doch anstatt es mir zu gestatten, einen Freund oder gleich einen Elektriker in die Wohnung zu holen, lachtest du immer nur, strichst mir mit deinen Zauberhänden durch das Haar, flüstertest schmunzelnd: „Ich liebe dich so, wie du bist. Ja, ich liebe dich so, wie du bist.“
Das sagtest du. Und musstest dabei doch bereits die Augen ein wenig zusammenkneifen, um mich überhaupt noch zu erkennen in unserem dunklen Flur.
Derart zerrann uns die Zeit. An unserer Wand im Flur hing der Fotokalender, der mit all den Ansichten von Manhattan im Schnee. Doch wir schauten schon gar nicht mehr hin, schauten auch nicht mehr an die Decke, mieden den Fotokalender gleichermaßen wie die lose aus der Decke ragenden Kabel. Sahen nicht mehr an unsere Wände und betrachteten auch nicht mehr die Decke. Unterließen es tunlichst, auf den Weg zu sehen, der direkt vor uns lag, der noch gegangen werden wollte. Strichen uns lieber mit Zauberhänden durch das Haar, hielten uns lieber fest und küssten uns lieber so lang und so innig, wie alle Paare sich küssen, die nicht wissen, wie und ob es noch weitergehen darf.
Warst du nicht da, so stand ich oftmals unschlüssig dort im Flur, allein, eingezwängt zwischen Sicherungskasten und den lose aus der Decke ragenden Kabeln. Ich weiß, ich hätte einfach hinaufsteigen sollen. Denn verspricht einer, ein ganzes Schloss zu bauen, fürchtet jedoch den Stromschlag, so gerät schon die Grundsteinlegung zu Heuchelei.
„Ich bau dir ein Schloss“, sagte ich daher irgendwann nur noch zu dir. Längst war die Bestimmtheit aus meiner Stimme gewichen, hatte sich einer Niedergeschlagenheit ergeben. „So wie im Märchen“, fügte ich dennoch hinzu. Brachte es soeben noch einmal heraus.
„Wie im Märchen?“, fragtest du.
„Ja“, sagte ich. „Wie im Märchen.“
Du sahst mich an, schlugst die Augen nieder und schlugst die Augen wieder auf. Und während du das tatest, sah ich hinter dir an der Wand Manhattan weiter und immer weiter im Schnee versinken.
Ich hoffte auf dein Schweigen. Hoffte auf deine Antwortlosigkeit. Doch anstatt zu schweigen, wie es für unsere Rettung nötig gewesen wäre, sagtest du: „Märchen, ja? Ach du, du Spinner. Schau dich doch um hier bei uns. Hier gibt es niemanden, dem wir Märchen erzählen könnten.“
Ich konnte dich kaum noch sehen und sehnte mich nach deinen Zauberhänden. Doch du verweigertest sie mir, strichst mir lediglich kurz und ein wenig ungelenk über den Handrücken. Schnell versuchte ich noch, einen letzten Blick von Manhattan im Schnee zu erhaschen, um ihn dir zuzuwerfen, um dich und mich vor unserem Fall in die Realität zu retten. Doch während mein Blick nach dem Fotokalender mitsamt meinem so feige dahinter verborgenen Sicherungskasten tastete, bemerkte ich, wie recht du hattest. Und wie sehr ich einem Irrtum erlegen war.
Nicht das Fehlen von Licht hatte uns all unsere Jahre hindurch gehemmt und verängstigt, nicht die Dunkelheit hatte uns ausgezerrt, sondern diese Stille um uns herum.
Wie seltsam das ist. Das Fehlen von Licht, das bemerken wir Menschen sofort, sticht uns die Dunkelheit doch ohne Umschweife direkt in die Augen. Die sich zwischen zwei Menschen ausbreitende Stille aber, die bemerken wir nicht. Zur Gewohnheit wird sie uns, noch während sie uns aufzuzehren beginnt. Einsam sind dabei niemals diejenigen, die in ihrer Wohnung stehen und nichts sehen. Sondern immer nur die, die dort stehen, und nichts haben außer sich selbst, nichts hören außer sich selbst.
„Ich bau dir ein Schloss“, sagte ich zu dir, als du gingst.
Du lachtest. Fragtest: „Und weiter?“
„Nichts weiter“, sagte ich. Nichts weiter.
„Spinner“, sagtest du da. Und gingst.
Ließest mich zurück mit niemandem als mir selbst, den Deckenflutern und Kerzen, den so lose aus der Decke ragenden Kabeln, den Fotokalender mit Manhattan im Schnee. Und bis zum heutigen Tage, feige dahinter verborgen, meinem Sicherungskasten.
Diese Geschichte entstammt dem Hörbuch „Das Seufzen und das Schweben“. Zu bestellen ab sofort in der Buchhandlung und dem Internet-Marketender Ihrer Wahl. So auch, klar: HIER.
Über die nervenzermürbende Lachhaftigkeit psychischer Schräglagen: Lesen Sie auch „Schwarzer Frost“, „Geliebter Schmerz“ und „Zerteiltes Leid“ – die bisher erschienen drei Bücher von David Wonschewski. Mehr Informationen dazu gibt es: HIER.
Zum Autor:
David Wonschewski, Jahrgang 1977, wuchs im Münsterland auf und ist seit 18 Jahren als Musikjournalist für Radio, Print & Online tätig. Als leitender Redakteur gestaltete er viele Jahre das Programm landesweiter Stationen, führte Interviews mit internationalen Künstlern, verfasste knapp 450 Rezensionen sowie PR-Texte für u.a. Reinhard Mey. Er ist Begründer (und nach aktuellem Stand auch Totengräber) des Liedermachermagazins „Ein Achtel Lorbeerblatt“ und saß von 2013 bis 2015 in der Jury der renommierten Liederbestenliste. Sein von der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft empfohlener Debütroman „Schwarzer Frost“ brachte ihm 2013 erste Vergleiche mit Autorengrößen wie David Foster Wallace, Bret Easton Ellis oder eben Thomas Bernhard ein. Der Nachfolger „Geliebter Schmerz“ erschien Anfang 2014, der Roman „Zerteiltes Leid“ wurde im Mai 2015 veröffentlicht.
„Wonschewski zieht alle Register der Vortragskunst bis hin zur schrillen Verzweiflung, die sich in drastischen Stimmlagen widerspiegelt. Ironie, Sarkasmus und Zynismus – der Autor versteht es vortrefflich, diese Stilmittel zu einem höchst amüsanten Cocktail zu mixen.“ (Rainer Nix, „Westfälische Nachrichten“, 10. Juni 2015).
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Sehr gut. Bitte mehr davon.
Vielen Dank. Versuche mich regelmäßig an derlei Strukturen. Ein Musikerfreund sagt, es sind Texte gestrickt wie Lieder. Ab und an gelingt es- ab und an nicht;-)
Wer Glass mag, wird von mir gemocht;-))
Erinnert mich an Philip Glass minimal music oder so – gefällt mir gut!!!
Sehr geschickt gestalteter Text…! Geschichte in drei wiederkehrenden Bildern..