von David Wonschewski
Es ist eine der ältesten Fragen der Menschheit: Warum ziehen vornehmlich junge Männer so gerne mit Waffe los und ballern andere Menschen über den Haufen? Sind es die Gene, falsch verstandenes Ehrgefühl, gesellschaftlicher Druck oder ist es, eine halbwegs moderne Idee, doch nur die Nummer mit den kruden Computerspielen und den noch kruderen Actionfilmen? Nun, wir müssen wohl damit leben, dass sich dieses Problem schon deswegen nicht aus der Welt schaffen lässt, da die Antwort darauf vielfältig ist.
In den USA entbrennt gerade, mal wieder, eine Diskussion darüber, ob strengere Waffengesetze nötig sind. Zumindest in Europa bezweifelt niemand, dass das jüngste Aufflammen immer neuer Amokläufe in den USA genau darauf hinweist. Aber ist es so einfach? Hören die Leute auf Drogen zu konsumieren, nur weil es verboten ist? Oder hören sie auf, rechtsradikal zu denken, nur weil eine entsprechende Partei verboten wurde? Verbote sind Symbolpolitik par excellence, durchaus wichtig als Kompass zwischen richtig und falsch. Der Effekt aber ist fraglich. Wenn jemand vorhat, im Rahmen eines erweiterten Suizids möglichst viele Menschen mit sich in den Tod zu reißen, dann wird er es tun. Dem ist doch das Verbot egal und Waffen finden sich genug, immer. In einem recht langen Artikel wurde ich dieser Tage darauf hingewiesen, dass man zunächst verstehen muss, dass keiner dieser Amokläufe junger Männer, die in den letzten 20 Jahren über uns kamen, ein solcher war. Egal ob Paris, Christchurch oder Erfurt. Hinter allen Taten stand ein ausgefeilter Plan, eine Agenda. Wer diese Tat im Internet ankündigt oder sogar live streamt, liefert damit den Beleg eben nicht Amok gelaufen zu sein. Denn beim Amok wird der Täter gewissermaßen selbst von seiner Tat überrascht, plötzlich hakt was aus, er sieht rot.
Psychologen weisen seit einiger Zeit auf Gemeinsamkeiten bei allen “Amokläufern” hin, die über irgendwie jung, irgendwie männlich, irgendwie verroht hinausgehen. Etwa 80 Prozent dieser Männer haben ein Vaterproblem, die meisten davon sind komplett ohne aufgewachsen. Nahezu alle waren Einzelgänger und nahezu alle hatten zuvor vergeblich versucht, Anschluss zu finden bei irgendwem, irgendwas. Teil von etwas zu sein. Und noch etwas: Die meisten waren in Sachen therapeutischer Hilfe oder emotionaler psychologischer Unterstützung links liegen gelassen, komplett auf sich allein gestellt. Richtig ist, dass man sich eine solche Hilfe selbst suchen können und wollen muss. Richtig ist aber auch, dass Angebote speziell für Männer per se kaum vorhanden sind, auch die öffentliche Ansprache zuvorderst an hilfesuchende Frauen geht. Wer, wie ich persönlich vor 15 Jahren in das Vorlesungsverzeichnis seiner Uni schaute, fand im hinteren Teil immer einen Abschnitt mit Anlaufstellen für alles Mögliche. Frauen wurden fast erschlagen mit Angeboten für dieses und jenes, Migranten, Homosexuelle fanden einiges. Für jemanden wie mich gab es nichts. So wahnsinnig viel hat sich bis heute nicht geändert daran, viele Hilfstelefone weisen Männer noch immer explizit ab und wer als Mann Gewalt zuhause erlebt wählt die Brücke als erste Anlaufstelle, sei es um davon herunterzuspringen oder um darunter zu nächtigen. Weil Einrichtungen, die einen Mann nicht sofort wieder wegschicken (müssen), rar gesät sind in diesem Land.
Ein wenig Respekt. Ein wenig Achtung. Nicht viel mehr als einen kleinen Platz in der Gesellschaft, etwas Teilhabe – ein in öffentlichen Diskussionen sträflich vernachlässigter Punkt, die bevorzugt im vermeintlich “toxisch Männlichen” wühlen, sich irritiert fragen, warum privilegierte Menschen derart über-beleidigt reagieren können. Ganz einfach: Offensichtlich sind die nicht so privilegiert wie wir es uns in unsere gesellschaftlichen Schwarzweißmalerei ausmalen. Gilt nicht nur für “Amokläufer”, gilt in der Summe auch für all die vielen jungen Männer, die sich in Mittelamerika üblen Banden oder Guerillabewegungen anschließen, in Afrika mal hier, mal dort mitmarodieren. Oder aber ganz einfach in Armeen landen, freiwillig. Natürlich gibt es viele, die für eine spezielle Sache kämpfen, sehr entflammt sind. Aber auch hinter einer solchen Entflammung steckt genau das. Auch wenn es für die verwöhnte Gesellschaft schwierig nachzuvollziehen ist: Irgendwie eine Uniform am Leib haben, irgendwie eine Wumme in der Hand, dafür von irgendwem respektiert werden. An diesen Punkt gerät man, wenn dem eine lange Zeit der gesellschaftlichen Demütigung vorausging. Respekt ist ein hoher Begriff, Würde reicht. Geht die einem verloren, dann tut man so einiges, um einmal im Leben gesehen, wahrgenommen zu werden. Warum meldet sich ein junger amerikanischer Familienvater freiwillig für einen Irak-Einsatz? Genau darum. So zynisch es klingen mag, einen sichereren Arbeitsplatz finden viele nicht. Schief angesehen für so etwas wird man ja auch nur in Deutschland – wobei wohl nicht mehr lange. Zeitenwende und so.
Letztlich ist genau das die Geschichte, die uns Szczepan Twardoch in “Demut” erzählt. Sein Protagonist Alois Pokora wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Oberschlesien auf, ist somit von Geburt an zerrissen und zerrieben zwischen polnischen und deutschen Einflüssen. Die deutsche Seite hat es ihm, der aus einer bettelarmen Bergwerksarbeiterfamilie kommt, mehr angetan, repräsentieren doch gerade die das oben. Dort will er hin, was gar nicht so einfach ist bei dem Namen, mit dem Akzent. Schon zu Hause hat er schwer, denn er ist intelligenter als seine vielen Brüder, was seinem grobschlächtig-brutalen Vater nur Verachtung entlockt. Im Gegensatz zu seinen Brüdern, die schon mit 12 im Bergwerk zu schuften beginnen, kommt er auf das Gymnasium in der Großstadt. Der Anfang der Entfremdung von seiner Familie. Dort erträgt er schwerste Demütigungen von seinen deutschen Mitschülern, die ihn aufgrund seiner niederen Herkunft und aus ihrer Sicht Polnischstämmigkeit nicht akzeptieren. So sehr er sich auch bemüht, er kommt nicht an. Verliebt sich in Agnes, die Tochter einer gut situierten bürgerlichen Familie. Die zwar einen gewissen Narren an ihm frisst, ihm jedoch jederzeit zu verstehen gibt, dass er zu niedrig für sie ist. Sie verlobt sich, natürlich, mit einem richtigen Mann, einem erfolgreichen, einem Deutschen. Und Alois, mit seinem Philosophiestudium in der Tasche, landet beim deutschen Heer, dem einzigen Ort, wo er gebraucht wird, wo er angesehen ist. Und wo in den Wirren des Ersten Weltkriegs doch seine bettelarme Herkunft und sein Akzent komplett egal sind. Er macht ein wenig Karriere, dient sich hoch, geht sprichwörtlich über Leichen, um ein guter Deutscher zu werden, der beste aller Deutschen. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihm, der Krieg geht verloren, bettelarm und mit zerschlissener Uniform landet er nach Kriegsende in Berlin. Nicht nur ganz unten, sondern erneut Demütigungen und auch Gewalt ausgesetzt, gilt er doch plötzlich als Vertreter einer alten, widerlichen Elite, die das deutsche Volk hirnlos ins Feuer geführt hat. Dann aber werden die Spartakisten auf ihn aufmerksam, wenn man so will die ideologische Gegenseite. Seine militärische Erfahrung können sie gut gebrauchen für ihre sozialistische Revolution, seine Wut auf sein Land und alle Obrigkeiten und Eliten sowieso. Und Alois, der weder nationalistisch noch sozialistisch ist, ja überhaupt keinen Bock mehr auf Waffen und Krieg hat, schließt sich ihnen an. Einen anderen Platz hat er nicht, niemand erwartet ihn, nirgends gehört er hin …
Es stellt sich zwar zunehmend die Frage, ob Szczepan Twardoch jemals in der Lage sein wird, einen Roman mit Handlung im Hier und Jetzt zu schreiben und ohne Militär – vermutlich nicht – doch man muss konstatieren: Er hat erneut voll zugeschlagen. “Demut” ist sprachlich brutal wie seine intensiven Vorgänger, die allesamt in ähnlichem Milieu verortet sind. Und doch trotzt er seinen Lieblingsthemen – die Geschichte Oberschlesiens in den Wirren der Weltkriege – noch einmal neue tiefpsychologische Facetten ab. Mein eigener Großvater, von ähnlicher Herkunft wie dieser Alois Pokora, wurde aus fast den deckungsgleichen Gründen zum glühenden Nationalsozialisten. Von nahezu keinen Optionen, die ihm das Leben bot, war das eben die eindeutig attraktivste, die einzig Vielversprechende.
Ich erlaube mir zwar zu behaupten, dass diese “Demut” nicht ganz an die Vorgängerromane herankommt, was vermutlich nur daran liegt, dass Twardoch dort die ganz heißen literarischen Eisen bereits abgefackelt, er seine bemerkenswert-besorgniserregende militaristische Neugier längst durcherzählt hat. Und doch gelingt ihm ein weiteres Mal der Balanceakt, einen kriegslüsternen Friedensroman vorzulegen wie es nur einem Autor von Weltrang gelingen kann. Dass er zwischen all den Handgranaten, Maschinengewehren und Eisernen Kreuzen auch noch Luft findet, ein Zeichen für sexuelle und identitätspolitische Toleranz zu setzen setzt dem Ganzen die Pickelhaube auf. / Bewertung: 4 von 5 Sternen