David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Freaksichtung in Moskau. Soeben ausgelesen: Michail Bulgakow – „Meister und Margarita“ (1966)

meisma

von David Wonschewski

Vorabfazit: 4 von 5 Sternen

Ein Roman, in dem fast alle Protagonisten entweder spurlos verschwinden oder aber im Irrenhaus landen – oh doch, ein solches Büchlein kann mir gefallen. Dann aber: ein sprechender Kater, Foxtrott tanzende Vögel, durch die Gegend latschende Leichen, ein fleißig agierender Anzug ohne Mensch darin, fliegende Besen, von der Decke regnendes Geld, telepathische Kunststücke en masse, garniert mit sich bewahrheitenden Todesvoraussagen – ein bisschen viel Fantastik, so für meinen Geschmack.

Oha, Bulgakows kultisch verehrten Roman „Meister und Margarita“ zu lesen stellt keine Herausforderung dar, geradezu fluffig schlittert man durch den Stoff, permanent schmunzelnd trägt es den Leser durch das Geschehen. Nicht aber durch die Handlung, denn ob es eine solche überhaupt gibt und wenn ja, wie sie verläuft, was hier aufeinander aufbaut, wo A zu B führt, das ist gleich eine ganz andere Hausnummer. Nicht grundlos beißen sich enthusiastische Verehrer gleichermaßen die Zähne daran aus wie studierte Literaturkenner. Oder um es salopp zu sagen: An Bulgakow deutet man sich ’nen Wolf.

Dabei ist der Kern des Geschehens schnell erzählt: Ein teufelhafter Magier landet mit seiner verschrobenen, jahrmarkthaften Freak-Sippe in Moskau. Verschreckt und begeistert die Moskowiter, fasziniert sie und hilft Ihnen zugleich die Schwelle vom Leben zum Tod zu überschreiten. Brennt Gebäude nieder und entfacht Schießereien. Damit kommt nicht jeder klar, manch einer nimmt – einmal mit der Sippe in Kontakt gekommen – Reißaus. Manch anderen drängt es schnurstracks in die Nervenheilanstalt des noblen Herr Strawinski. Auch ein namen- und erfolgloser Schriftsteller ist dort gelandet, nachdem es ihm nicht gelungen weder seinen groß angelegten Pilatus-Roman, noch seine minder groß angelegte Beziehung zur verheirateten Margarita zu retten. Irgendwann gibt es dann noch einen Satansball mit noch mehr hübsch-pittoresk verschrobenen Gestalten und schlussendlich sausen alle schiedlich friedlich durch die Nacht, treffen dabei sogar noch auf Pontius Pilatus, den ollen Griesgram. Und sind nach 500 prallen Seiten: weg.

Und die Moskowiter so: Was zum Teufel war das denn? Und der Leser so: Keine gottverdammte Ahnung! Nur das Wissen darum, hier einer herrlich wilden Mixtur aus Faust und E.T.A. Hoffmann beigewohnt zu haben. Alice im Wunderland meets Harry Potter meets Freddy Krüger. Rätselhaft, erschreckend und immer wieder, ja wirklich, kindgerecht, drollig und süß.

In 99 von 100 Fällen landet ein solcher Roman in den tiefen Tälern von Spott und Nichtbeachtung. Nicht so „Meister und Margarita“. Als der Roman 1966 in der UDSSR erschien – 26 Jahre nach Fertigstellung, posthum und auf Betreiben von Bulgakows Witwe – sorgte er sogleich für ein Erdbeben. Russland merkte schnell, dass das hier nicht weniger als Jahrhundertliteratur ist. Und tat sich doch verdammt schwer damit, was in erster Linie den kräftigen religiösen Aspekten zu verdanken ist, die der Roman immer wieder aufgreift. Gerade dissident eingestellte Leser trugen das Buch daher schnell in seinen Kultrang, gibt doch auch das persönliche Lebensleid Bulgakows (Berufsverbot, krankheitsbedingtes Dahinsiechen bis zum Tod, blindes Arbeiten am Roman) manch guten Anlass zur Mythenbildung. Wie auch die Tatsache, dass das Buch viele Jahre nur zensiert zu bekommen war, als recht förderlich erachtet werden kann.

In den 1990er-Jahren schließlich breitete sich das nunmehr unzensierte Werk millionenfach aus und erreichte Kultstatus unter allerlei Vertretern des Undergrounds: Hippies, Mystikern, Frommen, Satanisten, von denen es jeder auf seine eigene Art zu lesen und zu interpretieren wusste. Nicht wenige Literaturkritiker sprechen heute daher davon, dass „Meister und Margarita“ das wohl überinterpretierteste, zugleich aber noch immer unterschätzteste Meisterwerk der Literaturgeschichte sein dürfte.

Ich selbst tendiere dazu, dem Buch eher einen Mangel als ein Übermaß an Tiefsinn und Doppelbödigkeit zu attestieren. Zu konfus der Plot, zu billig der Trick immer dann, wenn es dramaturgisch zum x-ten Male nicht weitergeht, zum x-ten Male eine abstruse Gestalt zu entwerfen, die zwar nicht zur Handlung beiträgt, aber – huuuiii! – durchs Fenster in die bei Bulgakow permanent „mondene“ Nacht hinauszuflattern. Was dem unfassbaren Charme seiner Ideen jedoch keinen Abbruch tun soll, denn genau darin besteht das für mich wahre Genie Bulgakows: ihm ist es gelungen, hier eine Schar charmanter Weirdo-Bösewichte zu kreieren, die den Menchen den Idioten- und Spießerspiegel vorhalten. Und auf deren Seite man sich Seite für Seite schlagen will, über deren kecken (ja, „kecken“!) Wortwitz man sich freut, die man begleiten und herzen (ja, verdammt: „herzen“!) will. Bösgute Gestalten, die man ganz sicher niemals vergessen wird. So wie Behemoth, den großen, sprechenden schwarzen Kater, der sich einfach weigert sich ab und an mal nicht wie ein Mensch aufzuführen:
Textauszug:

„Ich ersuche Sie dringlichst darum, mir eine Bescheinigung auszustellen-, brachte Nikolaj Iwanowitsch, wild um sich blickend, aber doch recht überzeugend hervor, – darüber wo ich die vorige Nacht verbracht habe.

Zwecks Vorlage bei? -, fragte streng der Kater.

Zwecks Vorlage bei der Miliz und bei meiner Gattin-, beharrte Nikolaj Iwanowitsch.

Im Regelfall stellen wir keine Bescheinigungen aus-, versetzte der Kater stirnrunzelnd. Aber sei’s drum, wir machen eine Ausnahme.

Nikolaj Iwanowitsch schaffte es nicht einmal, zu Besinnung zu kommen, als die nackte Gella bereits an der Schreibmaschine saß. Und der Kater diktierte: Hiermit wird bescheinigt, dass der Überbringer des vorliegenden Schriftstücks, Klammer auf: im Folgenden Nikolaj Iwanowitsch genannt, Klammer zu, die oben angeführte Nacht auf dem Ball beim Satan verbracht hat, aufgrund seiner Vorladung zu demselbigen in der Eigenschaft als Beförderungsmittel…Klammer auf: Mastschwein. Klammer zu. Gezeichnet: Behemoth.

Und das Datum? -, piepste Nikolaj Iwanowitsch.

Verstößt gegen unsere Statuten. Mit dem Datum verliert das Papier seine Gültigkeit -, informierte der Kater, packte das Blatt, schnappte urplötzlich nach einem Stempel, behauchte ihn nach allen regeln der Kunst, drückte die Aufschrift „Betrag erhalten“ aufs Dokument und händigte es Nikolaj Iwanowitsch auf, worauf dieser spurlos verschwand.

Vielfach ist zu vernehmen, man müsse den Roman vier oder fünfmal zu lesen, erst dann offenbare sich, nach und nach, die Bedeutung. Um ehrlich zu sein: Glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass Bulgakow angesichts des nahenden Todes einfach Bock darauf hatte sich an nichts mehr zu halten, an was sich Schriftsteller seinerzeit noch glaubten halten zu müssen. Dass er sich, schon auf dem Sterbebett, schief lachte bei dem Gedanken wie die Nachwelt eine Nuss zu knacken versucht, die nie Nuss gewesen ist. Sondern ein Konglomerat aus Dingen, für die Bulgakow selbst keine Zeit mehr hatte, um sich ihnen stringenter widmen. Historienroman. Glaubensroman. Fantasyroman. Liebesgeschichte. Künstlernovelle. Und nicht zuletzt, auch und besonders, bitterböse Abrechnung mit seinem Land und seiner Zunft.

Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.

2 Kommentare zu “Freaksichtung in Moskau. Soeben ausgelesen: Michail Bulgakow – „Meister und Margarita“ (1966)

  1. davidwonschewski
    17. Januar 2021

    Ja, ist genau die Übersetzung. Viele Grüße!

  2. Xeniana
    17. Januar 2021

    Ist die Neuübersetzung von Nitzberg? Liebe dieses Buch, hab es in drei unterschiedlichen Übersetzungen gelesen, fand Nitzberg einfach nur grandios.

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