von David Wonschewski
Vorabfazit: 4 von 5 Sternen
Da haben sie in einer groß angelegten Studie doch herausgefunden, dass es unter den 83,02 Millionen Deutschen nur einen einzigen gibt, der den Film “Forrest Gump” (1994) mit Tom Hanks nie gesehen hat: mich. Obwohl der doch noch immer ein dutzendmal jährlich ausgestrahlt wird. Und obwohl der doch so viele Oscars gewonnen hat. Wobei, was heißt hier “obwohl” – oscarprämierte Filme sind ja gerne mal die nur schwer erträglichen Moralkeulenstreifen. “Forrest Gump” aber soll, so versicherten mir Leute, auf deren Geschmack ich was gebe, ein tatsächlich besonderer Film sein. Der zweitbeste, den Tom Hanks je gemacht hat. Nach “Scott & Huutch” (1989), vermute ich mal forsch. Wenige Gestalten der Filmgeschichte haben sich mir derart eingeprägt wie der sabbernde Hund.
Doch nicht davon will ich künden. Künden will ich davon, dass ich mir “Forrest Gump” wohl auch nicht mehr ansehen werde. Denn ich trage jetzt “Kalmann” mit mir herum. Und ahne, da Joachim B. Schmidt in seinem Roman ziemlich zu Beginn selbst die Parallele zu “Forrest Gump” zieht, dass ich in dieser Tom Hanks-Paraderolle immer nur einen Abklatsch von dem sehen würde, was ich nun in der isländischen Version im Kopf habe. Ich würde Tom Hanks im Vollsprint durch Georgia sprinten sehen und denken: Zeckt ja mal so gar nicht, ohne Schnee und Eis. Und ich würde ihn auf dieser Bank hocken sehen und befürchten, dass da die nächsten 140 Minuten gewiss kein Haifisch vorbeikommt.
Will ich aber. Ist ein Protagonist – und hiermit öffne ich die diskriminierungsverdächtige political correctness-Synonymetruhe, die mich bis zum Ende dieser Rezension begleiten wird – ist ein Protaganist also, ehm, “lernschwach”, dann muss es ab jetzt weiß sein. Und kalt. Und nach Gammelhai riechen. Das ist Gesetz. Und Gesetze muss man einhalten.
Kalmann ist Anfang 30 und wohnt im äußersten Nordosten Islands, in Rauferhöfn, einem Kaff von nicht einmal 200 Einwohnern. Ich gebe ja selten den ratschlag sich vor einer Lektüre im Internet umfassen zu informieren (was auch diese vorabinformierende Rezension ein wenig absurd macht), aber hier mache ich einmal eine Ausnahme. Ruhig mal die Bildersuche bemühen, “Rauferhöfn” eingeben, “Arctic Henge” oder “Melrakkaslétta”. Wer, wie ich, eh schon seit Jahren von einem Islandurlaub träumt, wird durch die Ansicht des Schauplatzes von “Kalmann” gewiss nicht abgehalten, sich ab jetzt ein wenig emsiger zu bemühen. Einen besseren Abschreckungsjob machen da schon Eisbären. Die sind auf Island eigentlich nicht beheimatet, aber schaffen es manchmal von Grönland herüber. Ach ja, und “Kalmann”. Wenn der mit seinem Cowboyhut, seinem Sheriffstern und seiner echten, aber ungeladenen Pistole, einer “Mauser”, durch Rauferhöfn marschiert, dann können die Einwohner des Ortes prima damit umgehen, ist halt ihr Dorftrottel (ey, das Wort steht so im Buch!), den sie liebevoll “Sheriff von Rauferhöfn” nennen. Cowboyhut, Sheriffstern und “Mauser” sind Geschenke seines Vaters. Einem GI, der in Island stationiert war, wo er mit Kalmanns Mutter…sich dann aber entschied…ach, egal. Mann kennt es. Vater futsch, Mutter nervig. Nicht ganz einfach für einen jungen Mann erwachsen zu werden. Schon gar nicht, wenn man wie Kalmann ein wenig, ehm, verhaltensauffällig ist. Er ist ein wahnsinnig lieber, sehr kräftiger Tappsebär. Der mit Sicherheit andauernd Frauen umarmen und kuscheln würde. Wenn denn sichergestellt wäre, dass diese das auch überleben. Kalmann hat manchmal Aussetzer diverser Art. Gerade spricht er noch mit dir, plötzlich ist er weg, wie in einer anderen Welt, schaut stumpf vor sich hin. Und was er gar nicht abkann, ist, wenn jemand mit ihm schimpft, er mit den vielen Informationen, die auf einen Menschen so einprasseln, nicht klar kommt, ihn alles überfordert. Dann wirft er mit Stühlen um sich oder zerschlägt sich ein Glas auf dem eigenen Schädel. Und dazu noch diese Pedanterie. Das kennen wir, ehm, Gesunden, von derlei, ehm, Mentalsuboptimierten. In einer überfordernden Welt versucht man sich an Fixpunkten entlang zu hangeln. Ist wichtig. Wenn im Burgerrestaurant noch zig Tische frei sind, aber ausgerechnet Kalmanns Tisch ist von einem Touristenpaar besetzt, na da kann er schonmal unwirsch werden, der Kalmann. Weil, wo kämen wir denn da hin, wenn jeder sich einfach so frei für einen Sitzplatz entscheiden würde und könnte? Wenn ein Tisch bekannt ist als Kalmann-Tisch, dann ist das der Kalmann-Tisch. Das ist Gesetz. Und muss eingehalten werden. Das Touristenpaar jedenfalls wäre wohl lieber einem hungrigen Eisbär begegnet als einem Kalmann in Rage. Last but not least hat Kalmann, der als Haifischjäger arbeitet, aber auch unglaubliche Spartenbegabungen. Alles, was mit Erdkunde und Natur zu tun hat. Mal eben mit Kreide eine detailgetreue Islandkarte an eine Tafel malen, mitsamt Bergen, Gletschern, Orten. Sich den Himmel ansehen, die Nase in die Luft halten und wissen, wie das Wetter in sechs Stunden sein wird. Oder eben seinen Nachbarn gebetsmühlenartig zu erklären, dass Eisbären die paar Hundert Kilometer von Grönland ganz einfach schwimmend zurücklegen. Ja, das können die! Dass das keiner außer ihm weiß, lässt ihn manchmal an seiner Dorftrottelrolle verzweifeln. Aber nicht nur das. Auch das mit dem Autofahren, was er nicht darf. Und den Frauen, die er nicht kriegt. Wobei eine ihm ja reichen würde, aber es gibt halt nicht so viele dort in Rauferhöfn, am Hinterteil der Welt. Und die, die es gibt, die binden sich lieber an Typen, die sie bewusst verletzen als an ihn, der für seine, ehm, geistige Disposition nichts kann. Für den Frauen auf eine reine und naive Art schlichtweg wunderbar sind. Warum die Frauen Idioten lieber mögen als ihn, das begreift Kalmann nicht. Er bemüht sich, es zu verstehen, doch es gelingt ihm nicht, dafür ist der IQ denn doch zu niedrig. Denkt er zumindest, der, ehm, arme Tropf.
Achso, die Handlung. Dass es so lange dauert, bis ich darauf zu sprechen komme, liegt daran, dass Joachim B. Schmidt seinen Kalmann derart einnehmend zeichnet, dass mir – mit meinen subjektiven Lesebedürfnissen – die Dramaturgie fast etwas egal ist. Solange ich nur weiter mit Kalmann durch tiefstes Weiß stapfen darf. Er mir – das gute alte “Fool on the Hill”-Phänomen – meine Welt dadurch ein wenig begreiflicher macht, dass er seine eigene kaum versteht. Róbert McKenzie ist verschwunden, ein amerikanischer Investor trump’schen Auftretens. Großspurig genug, um von allen Dorfbewohnern gehasst zu werden. Reich genug, um dringend benötigt zu werden dort, wo es quasi nichts gibt und daher mit viel zu viel Respekt behandelt zu werden. Kalmann, auf Fuchsjagd, findet in den Weiten der Tundra eine große Blutlache. Später stößt man noch auf eine Socke, viele Tage später, im Magen eines gefangenen Hais, auf eine einzelne Hand. Und schon fallen die Polizisten aus Rejkjavík ins Dorf ein, im Schlepptau die Journalisten. Kurz darauf eine zweite Leiche, eine Frau, erstickt an Gammelfleisch – das ausgerechnet Kalmann ihr geschenkt hatte. Alles aus Nettigkeit, aber hilft nichts, plötzlich steht er doof da. Bei einem wie ihm weiß man ja nie, ob der seine Emotionen immer so im Griff hat. Da kann ein womöglich gehässiger Kommentar eines arrogant-großspurigen Investors schon mal ratzfatz dessen eigenes Ableben einleiten. Wer sich Gläser auf dem eigenen Kopf zerdeppert, der kann gewiss noch ganz andere Dinge.
“Kalmann” ist ein Roman, der im Gewand eines Krimis daherkommt, ein Pageturner, der spannend geschrieben ist. Ihn als lupenreinen Krimi sehen möchte ich jedoch nicht, dafür ist die Charakterstudie eines, ehm, intellektuell Aufholbedürftigen, die Joachim B. Schmidt hier auffährt, einfach zu faszinierend. Da ist die tiefe Einsamkeit dieses Jungen – man ist wirklich geneigt ihn trotz seines Alters so zu betiteln – die traurig macht, da sie so ehrlich ist, so naiv empfunden undd aher so bedrückend. Ich kann mich nicht erinnern jemals einem Prtagnisten sos ehr die grße Liebe gewünscht zu haben wie diesem Kalmann. Und wie er mit und über Frauen spricht, dieser Nullchecker, dieser Mentalmongo, dieses Intelligenzwürstchen (sorry, die diversen “ehm” reiche ich später nach) – definitiv besser, aufrichtiger, ehrlicher als ich. Der Simple schlägt den um 24-Ecken Denkenden um Längen, man schämt sich beim Lesen ab und an sogar, was für ein verhirnt-verstellter Oberspacko man selber ist. Der eigene akzeptable IQ ein Wert ist, den Mann mit McKenzies Hand den Haien zum Fraß vorwerfen kann, damit die Evolution des geistes wenigstens irgendeinen nützlichen Zweck erfüllt.
Vor allem aber: der Humor. Klar, da ist ein amüsantes Gefälle zwischen dem, der nicht alle Latten am Zaun hat und denen, die alle Tassen im Schrank haben. Und von daher angewiesen sind auf Tratsch, auf Suff, sogar Xenophobie. Denen, die sich mit Führerschein besoffen ans Steuer setzen und jenen, die das voller Respekt und stocknüchtern tun, nur halt ohne Führerschein. Wie Kalmann einmal, als man ihn drum bittet. Der das erst nicht will – das ist gegen das Gesetz – bis man ihm erklärt, dass er nicht bestraft werden kann, denn einen Führerschein, den man ihm abnehmen könnte, den hat er ja gar nicht. Das leuchtet Kalmann ein. Wie kunstvoll Joachim B. Schmidt die vielen humorigen Stellen in seinen Roman einwebt, lässt sich auch daran erkennen, dass es unmöglich ist, eine solche lustige Stelle hier zu zitieren. Ich habe mir eine Menge Stellen angestrichen, doch ich merke, der feine Humor ergibt sich nur im Zusammenhang. Nicht eines einzelnen Absatzes oder Kapitels, sondern des ganzen Romans. Schmidt agiert hier gerne mit kurzen nachgeschobenen Satzsprengseln, die Kalmanns absurde Richtigfalsch-Denke illustrieren. Der, man ahnte es gewiss längst, “das ist Gesetz”-Spruch gehört dazu. Lustig wird es auch immer dann, wenn der, der allgemein wenig kapiert, denen, die generell viel kapieren, logisch kommt. So wird für McKenzies-Tochter, nachdem immerhin die Hand ihres Vaters gefunden und selbiger für tot erklärt wurde, ein Begräbnis ausgerichtet. Alle ganz pikiert und schiefköpfig und krokodilstränig und so. Nur Kalmann nicht. Wie man denn einen Menschen für tot erklären kann, wenn man nur eine Hand von demjenigen hat. Und was sie denn machen, wenn McKenzie übermorgen ganz normal zur Tür reinkommt, nur halt mit einer Hand weniger. Die anderen bedeuten Kalmann, den Mund zu halten, die arme, trauernde Tochter ist im Raum, Pietät ist angesagt. Aber Kalmann wird ganz fuchsig, er will es ja nur verstehen. Was denn ist, wenn sie übermorgen die zweite Hand finden oder das rechte Bein – machen sie dann den Sarg wieder auf und schmeißen alles nach und nach auch noch rein? Ist das nicht irgendwie dämlich?
Ja, Kalmann. Verdammt dämlich sogar. Aber das ist wohl die große Paradoxie unseres Lebens, die du uns hier aufzeigst: Je schlauer wir sind, desto weniger begreifen wir. Und je tiefer wir etwas durchdringen, desto rudimentärer gerät unsere Ahnung davon.
“Kalmann” ist ein tolles Buch, ein Roman, der die ganze Gefühlspalette bedient, einfach zu lesen, dennoch intensiv. Und Joachim B. Schmidt daher der erste Autor, der von mir etwas als Kompliment zu hören bekommt, was ich Schriftstellern sonst als Negativkritik vor den Latz knalle. Und zwar das Prädikat “allerbeste Schmökerliteratur”. Wer “schmökern” per se positiv besetzt, kann bei meiner Gesamtbewertung (4 von 5 Sternen) durchaus noch einen Stern hinzufügen.
Und, kriege ich jetzt noch den Bogen zurück zu “Forrest Gump”? Ein wenig durchaus. Denn der Zufall wollte es, dass ich während der Schmökerei Bruce Springsteens 1982-Album “Nebraska” laufen hatte.Wer in musikalischen Dingen nicht so bewandert ist, dieses stille Album verkaufte sich für Springsteen-Verhältnisse nicht besonders, gilt vielen jedoch als Wegbereiter einer Musikrichtung namens “Americana”. Eine Mischung aus Country und Indie, dabei zurückgenommen in allerbester Singersongwriter-Tradition. Die unermesslichen Weiten der USA, die Verlorenheit, die Einsamkeit, die menschliche Nichtigkeit angesichts einer überwältigend schönen, uns nicht immer wohlgesonnenen Natur – alles das ist “Nebraska”. Ein Gefühl, das auch in “Kalmann” transportiert wird, durch Cowboyhut und Sheriffstern ja sogar eine direkte Verbindung erhält. Es hat mich mitunter sprachlos gemacht, wie gut “Nebraska” als Soundtrack zu diesem Roman tagt, der überhaupt sehr nach Verfilmung schreit. Der isländische Sheriff Kalmann, wie er einsam durch die schneegetrnkten Weiten der Tundra stapft – und das Ganze zu Springsteens “Highway Patrolmann”. Himmel, das passt. Nicht wie Hinterteil auf Eimer, aber wie Hand in Hai. Und wenn Kaurismäki (ja, der ist Finne, passt trotzdem) keine Zeit hat, Wenders würde bestimmt.
Den Eindruck, dass Schweden die USA Europas ist, habe ich vorerst nicht mehr. Island ist es.
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