von David Wonschewski
Vorabfazit: 4 von 5 Sternen
Vom russischen Meisterliteraten Iwan Turgenjew ist überliefert, dass er, als er in den 1830er-Jahren in Petersburg Geschichte studierte, auf einen Dozenten traf, von dem er nicht so recht wusste, was er von ihm zu halten habe: Nikolai Gogol. Gogol war 1834 zum Adjunktprofessor für Allgemeine Geschichte berufen worden, schon das auf verschnörkelt-seltsamem Wege. Um dann, wie Turgenjew berichtete, in der Regel zwei von drei Lesungen ausfallen zu lassen. Sodass unter den Studenten (da es vermutlich nur Kerle waren, verzeihe man mir die un-gegenderte Wortwahl) der Eindruck herrschte, der gebürtige Ukrainer habe keinen blassen Dunst von Geschichtswissenschaft. “Beim Abschlussexamen seines Fachs saß er da mit einem Kopftuch, angeblich wegen Zahnschmerzen, mit einem desolaten Gesichtsausdruck und machte den Mund nicht auf…Ich sehe noch wie heute seine magere, langnäsige Figur vor mir mit den wie zwei Ohren hochstehenden Zipfeln des schwarzen Tuches”, so Turgenjew. Im Dezember 1835 wurde Gogol folgerichtig aus dem Dienst entlassen – nicht seine erste, nicht seine letzte Kündigung.
In akademischer Hinsicht mag diese kleine Episode aufzeigen, was, bis heute, so alles schief läuft in unseren ehrwürdigen Bildungsinstituten. In literarischer, vor allem russisch-literarischer Hinsicht, aber zeigt es, was alles so verdammt richtig lief im Kulturbetrieb des Zarenreiches ab etwa 1830. Gogol, wir ahnen es bereits, schrieb nicht nur über absonderliche Durchschnittsfiguren, bei denen man nie so recht wusste, ob sie einem nun leidtun sollen oder ob einer gewissen Teilzeitcleverness doch eher anerkennend mit der Zunge zu schnalzen ist. Er war selbst eine solche Figur. Ganz zu schweigen vom humoristischen Faktor, man schaue sich Gogols Vita an und lese dann seine wenigen Werke – und man lacht sich tot.
Ja, Gogol kommt zurecht das Verdienst zu neben – und auch durch – Puschkin als Begründer der großartigen russischen Literatur gelten zu dürfen. Liest man Gogol, so merkt man schnell, wer einen Dostojewski einige Jahre später aufs rechte Pferd geholfen hat. Wie irre Gogol im besten und im schlechtesten Sinne des Wortes war, erkennt man auch daran, dass er seinen großen Roman “Tote Seelen” von 1842 zwar vollendete, dieser aber nur unvollendet vorliegt. Warum? Nach einem ersten Erfolg mit der Komödie “Der Revisor” erkrankte er an einer Psychose, fiel in die Hände eines dubiosen Priesters und verbrannte in einem Anfall von Wahnsinn den zweiten Teil von “Die toten Seelen”. Doch starb er nicht an seiner Krankheit, sondern an den Folgen strengen religiösen Fastens im Alter von 42 Jahren. Halleluja!
Dem nicht minder komischen Roman “Tote Seelen” liegt eine Idee zugrunde, die heutzutage erläutert werden muss: Leibeigene wurden damals in Russland von der staatlichen Verwaltung als “Seelen” geführt. Auf diese Seelen mussten Steuern entrichtet werden. Diese Steuerregister wurden erst nach längerer Zeit erneuert. Es konnte also einem Großgrundbesitzer geschehen, dass er für einen bereits verstorbenen Leibeigenen noch Jahre über dessen Tod hinaus Steuern zahlen musste. Exakt hier setzt der Geschäftsplan des Roman-Protagonisten Tschitschikow ein: Er kauft für einen lächerlich geringen Preis die Namen verstorbener Leibeigener – “toter Seelen” – ein und überträgt sie in seine eigenen Geschäftsbücher. Die Gutsherren sind froh, die Toten losgeworden zu sein, schließlich mindert das ihre Steuern. Aber Tschitschikow wird durch diese toten Seelen zu einem scheinbar wohlhabenden Mann und kann bei den Banken Kredite geltend machen.
Wir erleben also diesen (wie wir später erfahren mehrfach gescheiterten) “Geschäftsmann” Tschitschikow wie er durch die russische Provinz eiert, um den Leuten die toten Seelen abzukaufen, was, wie man sich denken kann, die unterschiedlichsten Reaktionen hervorruft. Nun mag es am fehlenden zweiten Teil liegen, dass der Roman auf seinen über 500 Seiten irgendwie nicht richtig rund wird und als eine Art Gaukler-Roadmovie strandet. Das aber tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, ich selbst habe das Buch meine zehn bis fünfzehn Mal lauthals lachend weglegen müssen, weil Gogol – dafür wurde er berühmt – eine unfassbare Gabe dafür hat, die Schwächen der anständigsten und wohlmeinendsten Menschen hervorzukehren. Was dazu führt, dass man nicht selten an “unseren” Loriot denken muss bei der Lektüre, so feinsinnig, elegant und doch abstrus vollbringt Gogol das. Zum Beispiel bei Tschitschikows Besuch beim Kleingutbesitzer Manilow, den er vor seinem Haus antrifft und dessen überambitionierter Freundlichkeit sich Tschitschikow anzupassen versucht, um ihn für sich einzunehmen. Gogol schildert (nachdem er sehr ausführlich und lustig über weibliche Manierismen hergezogen hat)…
“…aber ich gestehe, ich scheue mich sehr, über Damen zu reden, auch ist es höchste Zeit, zu unseren Helden zurückzukehren, die schon seit einigen Minuten vor der Tür des Salons standen und einander den Vortritt gewähren wollten.
‘Seien Sie so gut und machen Sie meintwegen keine Umstände, ich gehe nach Ihnen’, so Tschitschikow. ‘Nein, Pawel Iwanowitsch, nein, Sie sind der Gast’, sagte Manilow und deute mit der Hand zur Tür. ‘Das ist doch nicht nötig, ich bitte Sie, das ist doch nicht nötig. Bitte, gehen Sie voran’, sagte Tschitschikow. ‘Nein, Sie müssen schon entschuldigen, ich lasse nicht zu, dass ein so angenehmer, gebildeter Gast nach mir eintritt.’
‘Wieso denn gebildet?..bitte gehen Sie voran.’
‘Und ich bitte darum, dass Sie vorangehen.’
‘Aber warum denn bloß?’
‘Na, darum eben!’, sagte Manilow und lächelte angenehm. Schließlich traten beide Freunde seitlich durch die Tür, wobei sie einander leicht quetschten.”
Das Buch ist pickepacke voll mit derlei Schilderungen, erheiternden Beschreibungen negativer Eigenschaften und der verbalen Zerstörung vermeintlich positiver Tugenden. Das ist gleichermaßen zynisch wie charmant und man kann sich gut denken, warum Gogol sich, kaum hatte er das Mnuskript abgeliefert, erst einmal in die Provinz verzog, aus gar nicht einmal so unberechtigter Sorge von seinen Landsgenossen gelyncht zu werden. Denn das war seinerzeit wahrlich neu, literarisch revolutionär: anstatt Heldenstories vorzulegen nun erstmalig stolpernde Mittelschichtler in den Mittelpunkt zu rücken. Und den eigenen Leuten, dem eigenen Volk, der eigenen Nation qua Entlarvung derart nahe zu treten, sie vor der ganzen Welt der Lächerlichkeit preiszugeben. Mehrfach geht Gogol im Roman rechtfertigend darauf ein, warum er keinen Sinn darin sieht über erfolgreiche tolle Menschen und tolle Tugenden zu schreiben, warum sowas stets zu gar nichts führt. Liest sich heutzutage natürlich super, aber im historischen Zusammenhang gedacht, oh doch, kann man sich denken, dass Gogol, wie es so heißt, ganz schön der Stift ging. Und auch wenn er nicht gelyncht wurde, Anfeindungen bekam er viele für seine “Tote Seelen”. War er doch der größte Unpatriot seiner Zeit.
Oh, ich gestehe: Sehr gerne gebe ich zu Protokoll, wenn ein Klassiker 150 bis 180 Jahre später kaum noch zu ertragen ist. In guter altrussischer Tradition gibt Gogol mir aber leider keinerlei Anlass dazu. Passte 1842, passt 2020. Und so trifft zumindest auf ihn, Gogol, eine weitere schöne Beobachtung aus “Tote Seelen” nicht zu, die er bei der Betrachtung eines Trauerzugs zu Ehren eines verstorbenen Staatsanwalts macht:
“Den zu Fuß gehenden Beamten folgten Kutschen, aus denen die Damen in Trauerhauben herausschauten. An ihren Lippen- und Handbewegungen konnte man sehen, dass sie in angeregte Gespräche vertieft waren; vielleicht redeten sie auch von der Ankunft des neuen Generalgouverneurs und stellten Vermutungen über die Bälle an, die er geben würde. Den Kutschen folgten schließlich im Gänsemarsch einige leere Droschken, und dann kam gar nichts mehr und unser Held konnte fahren. Er machte die Ledervorhänge auf, seufzte und sagte aus tiefstem Herzen: ‘Ja, der Staatsanwalt! da hat er nun gelebt, und dann ist er gestorben! In den Zeitungen wird es heißen, zum Kummer seiner Untergeben und der gesamten Menschheit sei ein geachteter Bürger dahingegangen, ein selten guter Vater und mustergültiger Gatte, und noch alles Mögliche wird man schreiben; und vielleicht auch hinzufügen, das Weinen der Witwen und Waisen habe ihn begleitet; wenn man die Sache aber genauer betrachtet, bleibt doch nichts weiter haften, als dass du dichte Brauen hattest.’ “
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Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.
Oh, das freut mich sehr. Dann war mein Wirken nicht für die Tonne, sehr schön! Und viele Grüße, Maria.
Ich habe dieses Buch geschenkt bekommen. Durch diesen Artikel kann ich es besser verstehen. Danke.