David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Feministische Literatur für Männer. Soeben ausgelesen: Orhan Pamuk – „Cevdet und seine Söhne“ (1982)

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von David Wonschewski

Vorabfazit: 4 von 5 Sternen

Die Midlife Crisis des Mannes beginnt, so ehrlich wollen wir sein, schon mit 15 Jahren. Er spürt, dass er für Großes geschaffen ist, schwappt schier über vor Kraft und Selbstvertrauen, ab und an kommen hervorragende Grundvoraussetzungen – Neusprech: Privilegiertheit – noch dazu. Entdecker, Rebell, Revolutionär, in alle Richtungen stößt der junge Mann vor, probiert und tobt sich aus. Findet in der Regel jedoch nichts, auf was sich ein großer Name, Berühmtheit gar gründen ließe, mäandert mehr, als dass er denn zielgerichtet auslotet. Naja, und dann ziehen die Jahre ins Land, das ewige Überschreiten der eigenen Grenzen beginnt auszulaugen, die Unmöglichkeit die eigene Großartigkeit irgendwo sinnstiftend zu verankern schlaucht. Es kommt, was kommen muss: die Frau. Zack Heirat, zack Kind, Stecker raus, aus die Maus.

In die Jahre kommender Mann, dein Name ist Ikarus.

Das in etwa ist eine der Geschichten, die Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem Debütroman „Cevdet und seine Söhne“ erzählt. Die drei Freunde Refik, Ömer und Muhittin lernen sich während der Ingenieursausbildung kennen. Entschlossen und tatkräftig ziehen sie ihr Studium durch – später wird ein Mitschüler konstatieren, dass viele Studenten regelrecht Angst vor den dreien hatten – starten ins Erwachsenenleben. Ausgestattet mit allem, was es braucht, um sich in der Istanbuler Gesellschaftshierarchie Anerkennung und Wohlstand zu sichern, erkennen sie jedoch schnell, dass nichts sie so sehr langweilt und kein Anzug ihnen derart zu klein ist wie der eines Ingenieurs. Der besonnene Refik – Sohn des titelgebenden Cevdet – sieht einen Rousseau in sich, der hochintelligente und attraktive Ömer bezeichnet sich selbst permanent als „Eroberer“ und, nach Balzac, Rastignac. Derweil der sensible, zugleich jedoch leicht cholerische Muhittin sich in den poetischen Fußspuren eines Baudelaire wähnt.

Nun verfügen alle drei, wie erwähnt, über beste Voraussetzungen, aus diesen Träumereien Realitäten werden zu lassen. Beziehungen, Geld, mitunter sogar echtes Talent, alles da. Und kriegen doch kein Bein auf den Boden. Scheitern zuvorderst an sich selbst, an ihrem eigenen sich Verzetteln. Es ist eine qualvolle Lust den drei privilegierten Jüngelchen dabei zuzuschauen, wie sich nicht vom Fleck kommen. Wie Refik einen Wälzer zur Reform des türkischen Dorfwesens vorlegt, der bestenfalls sozialromantisch zu nennen ist, Ömer sich seine überbordende Kraft beim Eisenbahnbau in der Provinz abarbeitet, weil ihm sonst nichts Konkreteres einfällt. Derweil Muhittins Poesieband nach zig Jahren zwar endlich rauskommt, aber sang und klanglos untergeht.

An exakt diesem Punkt wird „Cevdet und seine Söhne“ fulminant. Refik, früh verheirateter Vater, der sich als Spross einer mittelgroßen Unternehmerdynastie keine finanziellen Sorgen machen muss, türmt zu Ömer in die Provinz, zeigt seiner Familie und der Familienfirma fast ein Jahr lang einfach den Mittelfinger. Ömer selbst verdient sich zwar dumm und dämlich, weiß seine Verlobung mit der Tochter eines hochrangigen Politikers jedoch nicht in eine Heirat münden zu lassen, zieht es vor, ein abgewracktes Bauernhaus in der Provinz zu erwerben und mit sich selbst Schach zu spielen, lethargisch und fett zu werden. Der ewig mit sich hadernde Muhittin schließlich, der sich ganz literaturromantisch geschworen hatte, mit spätestens 30 Selbstmord zu begehen findet doch einen besseren Weg als den Tod für sich: Er wird türkischnational, also quasi rechts. Für eine Ehe – laut eigenem Bekunden – zu schlau und zu hässlich, fühlt er sich in der radikalen Agitation als intellektueller Vordenker endlich respektiert, endlich anerkannt…

Das Werk ist, jeweils getrennt durch Zeitsprünge von 31 Jahren, in drei Teile gegliedert: Der erste spielt 1905 und erzählt von einem Tag im Leben des Kaufmanns Cevdet Işıkçı, der zweite setzt den Schwerpunkt auf die Jahre 1936–1939 (hier stehen die drei Freunde im Mittelpunkt) und behandelt die Reformvorstellungen der nächsten Generation, im Mittelpunkt des dritten Teils (1970) stehen die Enkel. Pamuk selbst hat zugegeben seinerzeit einfach nur eine türkische Version der Buddenbrooks vorlegen zu wollen. Geworden ist es, wie immer bei Pamuk, jedoch viel mehr, zeigt der Roman doch vor allem, auf welch heftigen Zerreißproben die türkische Gesellschaft in den vergangenen 120 Jahren unterworfen gewesen ist. Welche Schwierigkeiten der gutmütige Patriarch Cevdet zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Kaufmann tätig zu sein – der Beruf wurde selbst in Istanbul nur von Christen und Juden ausgeübt – wie kompliziert es war sich als gläubiger Mensch politisch opportun zu verhalten, ohne gleich zum charakterlichen Unhold zu mutieren, Pamuk gelingt es uns einen tiefen Einblick in die Istanbuler Gesellschaft vor Atatürk zu verschaffen. Und dann natürlich eben jener Atatürk, der Kemalismus, der die Hintergrundmusik zum zweiten Teil spielt. Wer sich bis heute fragt, was die Türken eigentlich in der EU wollen oder wollten und warum bis hinaus zu Erdogan eine gewisse – von uns ganz gern belächelte – Beleidigtheit vorherrscht, wenn wir Europäer den Türken mal wieder dieses und jenes vorhalten: Pamuk macht alles das derart sichtbar, dass man Lust bekommt einfach mal ein Sachbuch zur Geschichte der Türkei gleich hintendran zu lesen. Ich gebe zu, abgesehen von wirtschaftlichen Interessen habe auch ich, trotz jahrelangen Zeitungsstudiums, nie verstanden was denn die Türkei in der EU will. Und warum uns eben hier und da eine aufwallende Empörung entgegenschlägt, die wir gerne als „hitzköpfig orientalisch“ abtun. Seit ich Pamuk lese, raffe ich es besser.

Last but not least ist das große Kunststück, das heftigste Pfund von „Cevdet und seine Söhne“ jedoch etwas, was Pamuk zwischen dein Zeilen serviert, durch die Hintertür. Auch wenn – oder gerade weil! – es hier in erster Linie um Kerle geht, Frauen nur als Nebenfiguren auftauchen, ist dieses Buch eines der am wirkungsvollsten feministischen Bücher, die ich je gelesen habe. Denn Pamuk zeigt auch die Wandlung weiblicher Rollenbilder über die Jahrzehnte, von Cevdets etwas trutschiger Hausmütterchen-Ehefrau Nigân über seine bereits recht bockige Tochter Ayşe bis hin zu Refiks Frau Perihan und İlknur, die Freundin seines Enkels Ahmet. Nigân kennt nur die Tradition und ihre Pflichten, Ayşe ist ein depressiver Teenager mit Essstörungen, der „zur Strafe“ in den Sommerferien in die Schweiz geschickt wird und als, man kann es nicht anders sagen, freier Mensch zurückkommt, während Perihan die Eskapaden ihres Mannes Refik viele Jahre dudelt – und dann einfach geht. İlknur schließlich ist viel fokussierter als ihr als erfolgloser  Maler vor sich hin daddelnder Freund Ahmet, der glaubt als antikapitalistisch und unverheiratet in seiner Mansarde lebender Künstler ein Statement für sonst was abzugeben. Ahmet ist keineswegs dumm, kein Stück unsensibel und doch ist es ganz klar İlknur, die in Diskussionen die Oberhand hat, Ahmet ist ihr qua Orientierungslosigkeit komplett unterlegen. Dass İlknur ihm die Tagebücher seines Vaters Refik vorlesen muss, da er die alte arabische Schrift schon nicht mehr beherrscht, ist bereits ein starkes Statement für die männliche Boden- und Wurzellosigkeit, zusammengehalten allein durch Frauen. Dass İlknur zudem eine gewisse Freude besitzt, ihn über ihren geplanten Studienaufenthalt in Europa im Dunkeln zu lassen, sich fast daran ergötzt wie sehr ihm allein der Gedanke daran zu schaffen macht, setzt dem ganzen den feministischen Deckel auf.

Die Männer in „Cevdet und seine Söhne“ sind allesamt keine üblen Typen, doch es wundert nicht, dass sie an Herzschlag, Tuberkulose und Krebs sterben. Alt werden hier nur Frauen.

Was viele Autorinnen (und vereinzelt Autoren) aktuell mit der Brechstange versuchen – die Zukunft muss weiblicher werden! – spukt Pamuk doch tatsächlich wie Bonusmaterial aus, als wäre es nichts, als handelte es sich dabei um ein zufälliges Abfallprodukt eines 650-seitigen Debütkrachers. Und das mit gerade einmal Anfang 20, so alt war Pamuk, als er das Buch in den siebziger Jahren schrieb.

Naja, an irgendetwas muss man einen künftigen Nobelpreisträger ja erkennen.

Lesen Sie auch die Rezension zu: Orhan Pamuk – „Das stille Haus“ (1983): HIER.

Weitere Literaturbesprechungen gibt es: HIER.

Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.

Ein Kommentar zu “Feministische Literatur für Männer. Soeben ausgelesen: Orhan Pamuk – „Cevdet und seine Söhne“ (1982)

  1. tala2019
    25. Januar 2021

    Ich fürchte die Tragödie, die du im ersten Abschnitt skizzierst, erleben ziemlich viele Leute, ich inklusive. Was man mit 15 dachte, was man alles im Leben noch erreichen kann 😉 Entscheidend ist dann, wie man mit der persönlichen Niederlage umgeht … Liebe Grüße, Tala

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