David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

The Ghost of Tom Joad. Oder: Und, was lest ihr gerade so? 11. Dezember 2020

Bekanntlich freut sich das geschundene und vielfach gescheiterte Ego, wenn es etwas findet, worauf es sich auch mal was einbilden darf. Bei mir ist das mein monströs bis schamhaft breites Hintergrundwissen zu Pop- und Rockmusik. Erworben in 15 Jahren hauptberuflicher Tätigkeit als Radio-Musikredakteur. Nicht, dass dieses Wissen dort jemals gebraucht, geschweige denn gefördert worden wäre, Himmel, nein. Aber wenn man beginnt Kylie Minogue-Texte ins Deutsche zu übersetzen und philosophisch abzuklopfen (Warum singt jemand über die Komplikationen des Lebens, fordert ein Recht auf Glück ein, Glück-Glück-Glück, klingt dabei aber derart komplikationsbefreit und längst überglücklich? Hapert es da mit der Selbstwahrnehmung? Und wenn das schon diese miesepetrige und vom Leben geknechtete Kylie Minogue ist, wie aufgedreht mag sie denn dann klingen, wenn es endlich da ist, das Glück-Glück-Glück, auf das sie per definitionem einen Anspruch erhebt??) – nun, wenn man an dem Punkt erst mal angekommen ist, wird einem klar, dass man vom eigenen Job offensichtlich gleichermaßen unterfordert wie gelangweilt ist. Und schwupps schlägt man sich ins und durchs Archiv als wären es jene sprichwörtliche Rabatten. Zwölf dicke Ordner Musikinformationskrams aus aller Herren Quellen habe ich mir seinerzeit ausgedruckt und einverleibt. Auch eine Art von Flucht, die Angst vor Kylie Minogue-Texten wurde zum Motor meines Strebens.

Das Problem an einem solchen Hintergrundwissen ist – wie bei allen anderen Spartenbegabungen auch – dass man sich ziemlich schnell zum Oberlöffel machen kann, die Fallhöhe ist immens. Weil man etwas erfährt, was jede/r halbwegs begabte Musikschlingel*(Pause, dreh im Kreis, hüpf hoch und klatsch in die Hände)_In seit immer weiß. Und da lese ich gerade erstmalig den John Steinbeck-Klassiker „Früchte des Zorns“ und Fall erst mal hintenüber. Der Protagonist heißt ja quasi wie meine zweitliebste Bruce Springsteen-CD: Tom Joad. Heftig! (Jaja, für was Freaks sich so begeistern können …) Die Verbindung kannte ich noch gar nicht, ist mir komplett neu.

Ich finde, da sieht man Steinbecks Genialität. Ich meine, „The Ghost of Tom Joad“ von Springsteen wurde 1995 veröffentlicht. Wie konnte Steinbeck das 1939 schon wissen?? Klar, als künftiger Nobelpreisträger wird er gewiss Visionen gehabt haben und konnte antizipieren, dass Anfang der 70er-Jahre ein neuer Rockstar die Weltbühne betritt, der dann 25 weitere Jahre später dieses unfassbar intensive Trostlosalbum aufnehmen wird. Steinbeck wird da gesessen und gewusst haben, dass er da soeben einen Klassiker geschrieben hat. Ihm fehlte aber noch ein griffiger Name für seinen Protagonisten. Er wird dann, stelle ich mir so vor, zur heiligen Madonna gebetet haben, die jedoch gerade verhindert war und dann eben, ehm, Springsteen schickte.

Hm. So logisch durchdacht und clever recherchiert meine Geschichte rund um die Namensgebung des Protagonisten aus „Früchte des Zorns“ auch ist, sie wackelt natürlich an einer Stelle ganz gewaltig. Wenn Steinbeck schon gebetet hat und wenn er schon visionstalentiert war – warum zum Henker hat er seinen Protagonisten dann nicht Ziggy Stardust genannt? Wo „Staub“ auf den ersten Seiten doch eines der am meisten genutzten Worte ist?

Hach, Fragen über Fragen.

Ein Kommentar zu “The Ghost of Tom Joad. Oder: Und, was lest ihr gerade so? 11. Dezember 2020

  1. Bludgeon
    11. Dezember 2020

    Mehr Steinbeck in the Rock-Circus gefällig?
    Camel – Dust and dreams; der Soundtrack zum Buch; allerfeinst!
    The grapes of whrat – feine Band, kenne allerdings nur ihr Debut von 1990; ein Rezensent schrieb damals, das wäre Crosby, Stills and Bohnham sozusagen – das war für mich der Kaufanreiz. Nun, die Rezi ist quatsch gewesen, denn der Drummer fällt gar nicht weiter auf im Mix; aber der Sound war genau der richtige für weite Fahrten im Herbst und schneelosen Wintern. Mag ich heute immer noch.

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