von David Wonschewski
Vorabfazit: 3 von 5 Sternen
So ein wenig kann ich Lucas, den Protagonisten in “Auf der anderen Seite des Flusses” ja verstehen. Auch auf mich übt das Land Uruguay seit jeher eine seltsame Fasziantion aus. Dabei lebe ich, im Gegensatz zu ihm, dem argentinischen Schriftsteller, nicht an der Grenze zu diesem südamerikanischen Land, sondern viele tausend Kilometer weit entfernt. Keine Ahnung woran das liegt. Vielleicht weil dieses Land so schwierig zu fassen ist, es zwischen den, nunja, Großmächten Brasilien und Argentinien in Sachen Wahrnehmung zwar nicht untergeht, aber doch seltsam nebulös wird. Uruguay – was ist das eigentlich?
Für Lucas ist Uruguay zunächst einmal so etwas wie das gelobte Land. In Uruguay, so empfindet er es, sind Drogen legalisiert, die Menschen ursprünglicher, die Frauen weniger verkopft, lebenslustiger, interessanter, Land und Wetter schöner. Alles in allem fühlt er sich bei seinen wenigen Stippvisiten “drüben” einfach freier. Für Argentinier scheint Uruguay so ein wenig das zu sein, was wir Deutschen mit den Niederlanden verbinden.
In erster Linie aber hat Uruguay einen entscheidenen Vorteil für Lucas. Es ermöglicht ihm, dem permanent am Hungertuch knabbernden Durchschnittsautoren, Steuerhinterziehung zu betreiben. Sich von Verlagen in Kolumbien und Spanien deren Vorschüsse auf ein in Uruguay eröffnetes Konto transferieren zu lassen, dort den ganzen zaster bar abzuheben und – an Zoll und Finanzamt vorbei – ins heimische Argentinien zurückzuschmuggeln.
Als sich Lucas also eines morgens von seiner Frau Catalina und seinem kleinen Sohn verabschiedet, ist das der Plan, in den seine kleine Familie eingeweiht ist. Zack, rüber über den Rio de la Plata, Kohle einsacken, am nächsten Tag zurück. Was hingegen nur er weiß: hinter der Grenze wartet nicht nur der holde Zaster, sondern auch eine uruguayische Liebschaft auf ihn, Guerra. Wobei hier, bereit bei der Begrifflichkeit, Lucas Definitionsprobleme beginnen. Kennengelernt hat der Mitvierziger die Endzwanzingern auf einem literarischen Event viele Monate zuvor. Es lag was in der Luft zwischen den beiden, aber es lief nichts. Trotzdem hat er nicht lassen können von dem Gedanken, dass dort, hinter der Grenze, mittels Geld und jüngerer Frau die Lösung all seiner Probleme wartet.
Womit wir erneut beim Definitionsproblem wären: welche Probleme eigentlich? Exakt hier erweist sich Pedro Mairal, Autor von “Auf der anderen Seite des Flusses” als sensibler Erzähler, dem es gelingt auf wenigen Seiten das Gefühl einer aufkommenden Midlife Crisis zu transportieren. Das keineswegs schlimme, aber in den letzten Jahren so seltsam leer gewordene Leben hinter sich, den potentiellen Fremdgang, das Geld, Träume von Dolce Vita vor sich hockt Lucas im Bus gen Uruguay und versucht sich selbst auf die Schliche zu kommen. Einerseits ist er nicht naiv genug, um zu glauben, dass in Uruguay und bei Guerra (noch besser: mutterseelenallein in Brasilien!) wirklich alles besser wäre. Andererseits fehlt seinem Leben in Argentinien etwas. Und er kommt einfach nicht drauf was das sein könnte.
“Ich ließ mein E-Mail-Postfach niemals offen. Nie. In dem Punkt war ich sehr, sehr vorsichtig. Mich beruhigte das Gefühl, dass ich einen Teil meines Gehirns nicht mit dir teilte. Ich brauchte meinen Schattenkegel, meinen Türstopper, meine Intimsphäre, und sei es nur, um zu schweigen. Diese Siamesische-Zwillings-Nummer einiger Paare erschreckt mich immer wieder: Sie haben die gleiche Meinung, sie essen das Gleiche, sie betrinken sich gleichzeitig, als ob sie einen Blutkreislauf teilten. Es muss einen chemischen Befund von Nivellierung geben, wenn man viele Jahre ständig diese Choreographie beibehalten hat. Derselbe Ort, die gleiche Routine, die gleiche Ernährung, simultanes Sexleben, identische Stimuli, Übereinstimmung von Körpertemperatur, finanziellen Verhältnissen, Ängsten, Anreizen, Wanderungen, Plänen…Welches zweiköpfige Monster wird auf diese Art erschaffen? Du wirst mit dem anderen symmetrisch, die Stoffwechsel synchronisieren sich, du funktionierst, spiegelbildlich; ein zweiteiliges Wesen mit einem einzigen Wunsch. Und das Kind wird diese Umarmung mit einem ewigen Band umschlingen und es für immer verknoten. Allein die Vorstellung schnürt mir die Kehle zu.”
Mairals großes literarisches Geschickt besteht darin, in einer im Grunde sehr kleinen Geschichte etwas Großes zu wagen: nämlich das Verpönte zu denken, ohne zugleich das Bekannte zu dämonisieren, das Unbekannte zu glorifizieren. Der traditionelle Narrativ geht bekantlich so: Familie ist hui, Fremdgehen und emotional flüchten ist pfui. Die Geschichte desjenigen, der loszieht sich zu entfremden, dann jedoch geläutert und um Vergebung flehend zurückkommt, ja, die ist schön. Sie ist nur schon tausendmal erzählt worden und so richtig realistisch und wahr dabei nie gewesen. In “Au fder anderen Seite des Flusses” gibt es keine Täter, keine Opfer, alle Beteiligten – Protagonist, Liebschaft, Ehefrau – sind hier gleichermaßen schuldig wie unschuldig. Alle drei möchte man anschreien und Seite für Seite mit gelb-roten Karten erst verwarnen, dann vom Platz stellen – um sie sich im gleichen Bewegungsradius auf die Schultern zu setzen und als kleine emanzipierte Helden jubeldn durch Gassen zu tragen.
Wie sich die Geschichte entwickelt, wie sie endet, das möchte ich hier nicht vorwegnehmen, das sollte jeder selbst nachlesen, die deutlich unter 200 Seiten sind zügig weggeschmökert. Dass ich es aber für eine literarische Leistung halte, ein deprimierendes Grundthema mit erhobenem Haupte zu verlassen, doch, das möchte ich schon festgehalten haben. Kein Buch, über das man allzuviel, geschweige denn noch lange sprechen wird. Mehr so ein kleiner persönlicher Erkenntnisgewinn an Text.
Was manchmal ja sogar mehr ist.
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Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.