Ich sage es ungern, aber wie selten zuvor benötige ich gerade eure moralisch-sittliche Hilfestellung. Denn während ihr diese Zeilen lest, springtanze ich um ein großes Gebäude in unserer Innenstadt herum. Singe dabei aus lautestem Halse: “Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot!”. Ja, meine lieben Freunde wahrer Werte, liebe Freundinnen der Dinge, die noch wirklich wirklich zählen, es stimmt: Hier bei uns macht dieser Tage der SATURN dicht. Trägt sich nicht mehr, verkauft nicht mehr, Amazon und Corona killed the Elektrofachmarkt-Superstar.
Das ist selbstredend erst einmal doof. Es hängen Arbeitsplätze dran, jeder geschlossene “echte” Laden beschleunigt eine Entwicklung, die wir alle zu verantworten haben, derweil wir sie – bigottes Wunderwerk Mensch – zugleich verdammen. Verödete Innenstädte als Folge, auch der Zankapfel mit den autofreien Zonen erledigt sich auf diese Weise bald von selbst. Andererseits aber erinnern wir uns gewiss daran, dass bevor wir dem bösen Internethandel und Corona die Teufelskarte in die Schuhe schieben konnten (alles, hauptsache wir müssen sie nicht selbst halten), jemand anderes exakt diese Karte in die Galoschen gequetscht bekam. Ganz genau, Großmärkte, die diverse Sparten auf zwei oder mehr Etagen unter einem Dach vereinten, Ware in großer Stückzahl billiger abnehmen konnten und, ach, egal, ihr kennt die Geschichte. Die ersten uns so ans Herz gewachsenen, aber eben selten frequentierten Kleinhändler sind ja nicht an CoronAmazon verreckt. Sondern an uns und Großmärkten. Thalia ist so ein Großbuchladen, Saturn so ein Großelektrofachmarkt. Es gibt bekanntlich noch weitere. Noch. Harharhar. (Oder nicht Harharhar?)
Nach reiflicher Überlegung, welche Empfindungsweise hier den zu wählen ist, habe ich mich für Freude entschieden. Für Party, knallende Sektkorken. Tanzen, Wolf-ist-tot-Gesinge, vielleicht auch irgendeine Joan Baez- oder Pete Seeger-Nummer hintendran, das ganze bBessere-Welt-Biedertum, mitsamt Klampferei. Ich bin zwar des Gitarrespielens unverdächtig, aber wenn es den Weg zu einer besseren Welt ebnet bin ich verdammt schamlos. Und so nervtötend singen wie die Baez kann ich allemal. Meine pro Abgesang-Position beruht dabei, das will ich erwähnen, auch darauf, dass ich vorher noch mal drin war im Laden. Also so richtig rein, volle Kanne wagemutig über die 90er-Jahre Teppiche, latschend nahm ich meinen Kurvenparcours durch dieses an Versicherungsvertretungen erinnernde Interieur. Habe mich, siehe Foto, sogar beteiligt an der “alles-muss-raus”-Leichenfledderei. War überrascht – ich war ewig nicht in einem Saturn – dass die ja echt eine gar nicht mal schlechte Vinyl-Ecke haben. Beziehungsweise hatten, ha. Aber wer kauft schon seine Plattendarlings bei Saturn? Das ist ja wie in Baggy Pants bei Essmann’s frühstücken. Oder koksen im Seniorenstift. Wobei Letzteres immerhin Charme hat. Beziehungsweise, öhem, hätte.
Ich weiß schon, was ihr nun denkt: Wer 2021 noch CDs kauft, muss aufpassen, nicht selbst bald als nicht mehr zeitgemäßer Dinosaurier aussortiert zu werden. Schließlich ist das mit dem Aussortieren keine punktuelle Marotte mit klar definiertem Anfangs- und Endpunkt, sondern ein humanes Perpetuum mobile. Die Jäger von heute sind immer die Gejagten von morgen. Homo hominis lupem. Dies hier ist die Geschichte von einem, der als Lamm in einen Saturn ging, als Wolf heraus kam.
Und jetzt hör’ ich sie, sie kommen, kommen um mich zu holen. Weil ich dem Saturn nochmal 12 zum Preis von 4-Kohle in den Rachen warf. Das untrendigste Musikformat der Welt am Leben halte. Ich, wie das Bild belegt, Musiker höre, die im Rahmen politischer Correctness als nicht mehr tragbar gelten.
Die Nummer mit den in den Bauch eingenähten Steinen kann man sich bei mir immerhin sparen. Joan Baez trällern reicht, dann springe ich freiwillig in jede dunkle Untiefe, selbst wenn ich mich als unschuldig erwähne.
Nur mal interessehalber, hatten die etwa auch noch leere Kassetten? Ich hab gestern erst überlegt, wie ich meiner Oma eine CD auf KASSETTE überspielen könnte, weil deren Radio nur letzteres kann. Meins wiederum kann beides, ich muss es gut pflegen, damit es noch viele Jahre hält 😀 Aber ansonsten geb ich dir völlig recht. Es weckt ambivalente Gefühle. Ich zähle zu den Menschen, die zum Einkaufen kaum noch aus dem Haus gehen.