Kennen Sie diese Bücher, bei denen Sie schon vor der Lektüre wissen, dass diese Sie total auf die Palme bringen werden? Ich lese so was ja gerne, ab und an. Auch Wutbürger brauchen Nahrung, Treibstoff, Entflammungsmaterial. Wenn ich mir ein solches Buch vornehme steige ich darum – in einer besonders feinen Form von vorauseilendem Gehorsam – mittlerweile vorab und selbst auf die Palme. Dann bin ich schon mal oben, wenn die Empörung kommt, kann schneller losbrüllen, unflätig losbolzen. Selbst wenn das Buch es dann vielleicht gar nicht hergibt, egal, einfach loszetern, dafür bin ich ja da oben. “Ein Mann auf seiner Palme” ist das neue “ein Mann und sein Schwert”.
Und nun schaue sich einer dieses “Identitti” von Mithu Sanyal an. Der Roman ist nahezu komplett durchgegendert, es geht um, ehm, woke PoCs, die an der Uni in ihren Postcolonial Studies sitzen und über das diskutieren, für das man mal Wort und Worte hatte, was aber mittlerweile perdu ist (nicht, weil es Sprechverbote gäbe, sondern weil es kein Begriff noch so richtig und vor allem allumfassend auf den Punkt bringt). Ich verlege mich daher darauf lediglich zu sagen: Es geht um ihr wisst schon was. Martin Luther King, Malcolm X, Olympische Spiele 1968. Und so. Kommen zwar nicht drin vor, das ist aber in etwa der Themenrahmen. Dingsbumms halt. Nun habe ich nichts gegen derlei oder ähnlich gelagerte Stoffe, ich lese ja viel davon in letzter Zeit, dummerweise sind die meisten davon geschrieben wie schlechte Krimis, in denen der Täter – das bestenfalls schwammig definierte kapitalistische Patriarchat – schon auf Seite 1 genannt wird. Stichhaltige Beweise für dessen Existenz und Schuld an allem werden zwar selten geliefert, dafür wird mit Inbrunst ins Abstrakte hineinverurteilt.
Kurzum: Ich wähnte so richtig feinen Palmen-Stoff. Ich also rauf auf mein Südseegewächs, schön Bemme und Teekanne dabei, fertig machen zum Daueraufregen, Festtag. Doch was soll ich sagen, wenige Seiten vor Schluss stelle ich fest, dass ich “Identitti” richtig, aber richtig gut finde. Hocke auf meiner Brüll- und Zornespalme und rufe allenfalls: “Ganz genau, so isset nämlich!”. Fühle mich ganz fürchterlich abgeholt von Mithu Sanyal. Ein nicht nur hell-, sondern auch einsichtiges Buch, das nicht den billigen Weg geht sich plump in der Gegend umzuschauen, wer denn so als Auslöser der eigenen Identitätsmisere herhalten könnte. Sondern das zuvorderst im eigenen Denk- und Gesinnungslager ordentlich aufräumt, Grenzen nicht nur auslotet, sondern erweitert, über Schmerzgrenzen hinweggeht. Wohlgemerkt aber: Nicht über Mann-auf-Palme-Grenzen, genau das wäre einfach, jemanden wie mich kriegt man eben nicht mehr so leicht auf die Pame mit sowas, ich hocke ja schon dort. Nein, Mithu Sanyal macht letztlich das, was auch Frau Wagenknecht jüngst tat, nur das Mithu Sanyal dabei, die Romanform gibt es her, weniger konfrontativ vorgeht. Gerade durch das Einsetzen einer arg schulmeisterlichen Uni-Professorin interessanterweise nie schulmeisterlich daherkommt, viele kleine philosophische Ansätze dahin haucht und gerade durch die hemmungslos zur Schau gestellte Verlorenheit ihrer jungen Protagonistin, einer indischstämmigen Studentin viele widersprüchliche und dadurch letztlich auch amüsante Situationen erschafft. Und da Mithu Sanyal es sogar hinbekommt von mir durchaus geschätzte Männer wie Jordan Peterson und Arne Hoffmann einzubauen (sie blöde zu bashen wäre im Gesamtzusammenhang einfacher und üblicher gewesen), bleibt mir, sehr angetan von diesem “Identitti” nur eines: Langsam runterklettern von meiner Palme. Zugeben, dass dieser Roman eben nicht nur aus vermeintlich idelogischen, sondern auch aus philosophisch-literarischen Gründen absolut zurecht auf der Spiegel-Bestsellerliste stand und nun auch für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Eingestehen darf ich mir auch, dass das Lesen dieses Romans – mein erster der fast durchgängig gegendert daherkommt – überhaupt nicht in/an den Augen weh getan hat, ich für Gendersprache in Schriftform offenbar bereiter bin als gedacht (über das Sprechen in Gendersprache unterhalten wir uns aber nochmal auf Palmenhöhe). So leistet man literarisch Überzeugungsarbeit, so bezieht man ein, anstatt auszuschließen.
Tolle Buchnummer. Eine ausführliche Besprechung wird im Rahmen des Dialogprojekts “Tanz auf Buchrücken” mit der Autorin Nikoletta Kiss in wenigen Tagen folgen.
Und so würde ich gerne, da auch der Begriff “Coconut” im Roman eine Rolle spielt, als Friedensangebot an alle Menschen und Identität gerne mit Ihnen den Beach Boys-Hit “Kokomo” von 1989 anstimmen. Auch auf die Gefahr hin, dass das beweist, dass ich nichts, aber auch überhaupt nichts verstanden habe. Kapitalistische Patriarchatstypen allesamt gerne auf Palmen hocken bleiben, “Kokomo” plärren, auf den Ozean hinausblicken und auf die Ankunft der Spanier können bis sie dingsbumms sind. Hauptsache man hat sie für den Moment mal aus den Füßen.
Aruba, Jamaica, oh I want to take ya
Bermuda, Bahama, come on pretty mama
Key Largo, Montego, baby why don’t we go, Jamaica