(* aus dem legendären, feministischen Die Ärzte Song “Manchmal haben Frauen” (2000))
Nikoletta Kiss und David Wonschewski, Autorin und Autor sehr unterschiedlicher Bücher, lesen gemeinsam Romane – und streiten. Das Konzept ist denkbar einfach: Sie mailen sich hin und her. Der eine reagiert auf die Äußerungen des anderen, Missverständnisse und aneinander Vorbeireden inklusive. Einfach laufen lassen. Schauen wohin es führt. Ob es überhaupt irgendwohin führt.
In der dritten Ausgabe von „Tanz auf Buchrücken“ haben sich die beiden auf den Roman „Liberdade” von Theresa Rath geeinigt. Der Roman hat, wie sich zeigt, beide aus sehr unterschiedlichen Gründen überzeugt. Wie gut, dass Autorin Theresa Rath Zeit gefunden hat sich dem Gespräch hinzuzugesellen. Und vor allem David zu aufzuzeigen, dass sein Lob zwar gerne genommen, er vieles aber offenbar reichlich anders verstanden hat als von der Autorin gemeint.
Zum Buch:
Die angehende Medizinerin Anna flieht aus ihrer vermeintlich heilen Welt nach Brasilien. Die ersten Wochen, die sie in Rio de Janeiro verbringt, übertreffen all ihre Vorstellungen. Sie lernt neue Menschen und Lebensweisen kennen und beginnt ihr bisheriges Leben zu hinterfragen. Gabriel führt sie in eine Welt, die ihr frei und leicht erscheint. Und so merkt sie nicht, wie aus anfänglichen Vergnügungen Gewohnheit wird und der Mann, in den sie sich verliebt hat, sich schleichend verändert. Unaufhaltsam verstrickt Anna sich in ein Geflecht aus Gewalt, Drogen und Kriminalität. Was ihr zu Beginn als Freiheit erschien, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Als ihr schließlich klar wird, dass sie sich ihren Dämonen stellen muss, die sie in diese Situation getrieben haben, ist es womöglich schon zu spät. Theresa Rath analysiert in „Liberdade“, was uns antreibt, sie schreibt über die Allgegenwärtigkeit der Sehnsucht nach Liebe und einem Zuhause und über Selbstwert. Und sie erzählt über Männer, Frauen und Gewalt.
Theresa Rath (geb. 1999 in Dormagen) ist eine deutsche Juristin, Schriftstellerin und Klimaschützerin. 2009 erschien im Berliner Verlag Periplaneta ihr Gedichtband „Kleines Mädchen mit Hut“ und 2012 die Kurzgeschichtensammlung “Die Ketten, die uns halten.”
Nikoletta: Schön, dass du da bist, liebe Theresa. David, nimm dich in Acht, die Frauen sind heute in der Überzahl.
David: Keine Sorge, bin ich aus Privat- wie Berufsleben gewohnt.
Nikoletta: Theresa, du hast einen wichtigen Roman geschrieben. Physische häusliche Gewalt ist ein Thema, das viel Aufmerksamkeit bekommt. Du aber sprichst in „Liberdade“ Aspekte der häuslichen Gewalt an wie emotionale Abhängigkeit und psychische Gewalt, die auch deine Protagonistin Anna erlebt. Sie steckt in einer langjährigen, inzwischen lieblos gewordenen, sie dominierenden, erniedrigenden Beziehung mit Philipp. Auch ihre Beziehung mit dem Argentinier Gabriel in Rio de Janeiro verläuft nach ähnlichen Mustern. Oft bleibt diese Form der psychischen Gewalt unerkannt, wird selbst von Betroffenen bagatellisiert, weil sie für normal oder gar für Liebe gehalten wird. Was hat dich bewogen, den Roman zu schreiben?
Theresa: Ich denke, dafür gibt es mehrere Gründe. Sicherlich sind da meine eigenen Beziehungserfahrungen zu nennen – nicht nur die romantischen. Darüber hinaus war da mein Bedürfnis, der Frage auf den Grund zu gehen, was es ist, das dazu führt, dass manche Menschen immer wieder in ähnlichen Beziehungen enden: Was sind die dahinterstehenden Muster, was ist das Konzept von Liebe? Natürlich kann man das nicht generalisieren, aber ich habe quasi an meiner Protagonistin Anna ein Exempel statuiert. Letztlich setzt sich das Buch auch, wenn auch nicht ausdrücklich so benannt, stark mit dem Phänomen des Narzissmus, und damit meine ich narzisstische Persönlichkeitsstörungen und nicht das im Alltag leichthin verwendete Wort „Narzisst“ auseinander. Narzissten können bei den Partnern, die sie wählen, ernsthafte Schäden hinterlassen. Mich hat unter anderem interessiert, ob es da nicht auch ein Schlüssel-Schloss-Prinzip gibt, das bestimmte Menschen als Partner von Narzissten prädestiniert.
Nikoletta: David, du hautest so gegen Seite 120 raus, du verstündest nicht, was so schlimm an diesen Männern sei. Ja, sagtest du nicht sogar, du seist guter Hoffnung, dass dieser Anna mal jemand eine haut, damit sie endlich aufwacht und sich von diesen Idioten trennt? Echt jetzt? Ich hoffe, du meintest das nicht wörtlich, sondern wolltest mich nur aufstacheln.
David: Na, so habe ich das gewiss nicht gesagt. Aber gerne erläutere ich, was ich gesagt habe und wie ich das meine. Lass mich aber vorab sagen, dass ich auch finde, dass Theresa Rath ein sehr wichtiges und verdammt gutes Buch geschrieben hat, das Frauen wie Männer lesen sollten. Ich lese ja, auch durch dich, Nikoletta, seit einiger Zeit vermehrt feministische Literatur. Und stelle leider fest, dass 90 Prozent dieser oftmals ja gehypten Werke sehr an mir vorbeigehen. Gut, darauf legen es manche natürlich auch bewusst an, das wird ja nicht geschrieben, um meinen Applaus zu kriegen. Wenn man als männlicher Leser so gar nicht mitgenommen wird, bleibt aber halt die Frage, wie effektiv derartige Literatur ist. „Liberdade“ ist da anders, das ist aus meiner Sicht konstruktiver Feminismus, der natürlich – warum auch nicht – subjektiv und einseitig ist, sein kann, sein darf und vielleicht sogar sein muss. Der aber mir als Mann eben Freiraum lässt, mir selbst zu überlegen, welchen Schuh ich mir nun anziehen will und welchen nicht. Und darum reden wir ja darüber.
Nikoletta: Und wie war das nun gemeint mit dem Hauen?
David: Okay, das mit dem Hauen ist zunächst rein dramaturgisch gedacht. Das Gute an „Liberdade“ ist ja, dass die wenigen aus meiner Sicht eher ungelenken Stellen einfach zu erkennen sind: an der Kursivschrift. In kursiv wird zumeist ein großer Rahmen gezogen, den der Stoff aus meiner Sicht nicht hergibt und den er auch nicht nötig hat. Die Erzählung spricht deutlich genug für sich. Das Buch geht aber nun einmal gleich kursiv los und bringt generelle, plotferne physische Gewalt an Frauen ins Spiel. Und wir lernen dann ja auch sofort Anna kennen und ihre zwei latent diabolischen Männer. Dramaturgisch ergibt dieser heftige kursive Beginn für mich nur Sinn, wenn zumindest einer dieser beiden Kerle dann im Laufe des Buches auch handgreiflich wird. Trifft das nicht ein, ist das bei dem Thema natürlich desaströser als eine einfach nur nicht eingelöste Leseerwartung. Es ist niemandem geholfen, wenn man am Ende des Buches denkt, dass die Typen ja doch anständiger waren als anfangs gedacht. Ein klassisches Eigentor, das ich diesem Buch definitiv nicht wünsche, auch in moralischer Hinsicht fragwürdig. Wenn es um psychische Gewalt geht, hat physische Gewalt da nur was drin zu suchen, wenn sie stattgefunden hat. Auch der allerbeste Zweck heiligt keine kruden Mittel. Wie und ob Theresa Rath das löst, sage ich bewusst nicht, selber lesen.
Nikoletta: Interessant, ich habe den Roman auch nach dem kursiven Beginn nicht mit der Erwartung gelesen, dass es unbedingt handgreiflich werden muss. Im Gegenteil, relativ schnell wurde mir klar, dass es die physische Gewalt gar nicht mal braucht, dass psychische Gewalt wie Erniedrigung, Beschimpfung, Liebesentzug – oft kleingeredet, nicht einmal als solche wahrgenommen – auch tiefe Wunden erzeugen kann. Und dieser pauschale, oft gehörte Satz: „Na, der hat doch nicht mal die Hand gehoben, was ist denn so schlimm an dem?“ wird in dem Roman ad absurdum geführt. Ich glaube das ist genau die Message des Romans. Theresa, wie siehst du das?
Theresa: Genau darum geht es mir auch. Ich möchte emotionale, verbale, psychische und sexuelle Gewalt sichtbarer machen: Vom Gaslighting über Beleidigungen bis zur Einschüchterung oder zum Catcalling. Physische Gewalt ist schrecklich, ganz ohne Frage. Aber sie ist nicht die einzige Gewalt, die existiert, und genau diesen Zusammenhang will ich aufzeigen. Deshalb auch der Einstieg in den Roman. David, dein „Wo (physische) Gewalt draufsteht, muss auch physische Gewalt drin sein“ finde ich da wesentlich zu kurz gedacht. Im Übrigen kommt sie ja stellenweise auch vor. Der andere Strang ist dann natürlich die Auseinandersetzung meiner Protagonistin mit ihren eigenen Motiven bzw. Vorprägungen: Warum endet sie immer wieder in ähnlichen Beziehungen? Sie hat damit selbstverständlich etwas zu tun. Anna bringt mit ihrer Unsicherheit, ihrer Empathiefähigkeit, ihrem geringen Selbstbewusstsein und dem Gefühl, nicht liebenswert zu sein, gerade Qualitäten mit, die sie für z.B. narzisstisch veranlagte Männer interessant machen.
David: Absolut, letztlich bestätigst du damit ja mein eigenes Empfinden. Mit physischer Gewalt wedeln, wo im Grunde keine exakt solche drin ist, bleibt für mich in vielerlei Hinsicht zwar schwierig und darf nicht toleriert werden. Aber ansonsten, ja, genau deswegen ist mir diese Anna ja durchaus sympathisch, eben weil sie mir zuvorderst unsympathisch ist. Wunderbar vielschichtig, selten eindeutig. Genau das ist für mich auch das Effektive an dieser Figur, eben weil da nicht jemand „Gutes“ dargestellt wird, der dauernd in die Fänge von „Schlechten“ gerät. Sondern weil dort eine Frau ist, die gewiss das Beste will, sich auch nach Kräften daran versucht – aber genauso wie an den Männern und Frauen ihres Lebens eben auch an sich selbst scheitert. Und das macht ja lebensechte Figuren aus, gut sein wollen die meisten von uns, theoretisch wissen, wie es gehen könnte, klappt auch bei einigen noch. Aber in der Praxis, tja, schießt man sich selbst dennoch ein Ei nach dem anderen. Die Frage, die über allem steht, ist ja: Wie kommt sie da raus? Ich finde, wenn man auch als Leser permanent denkt „Wach auf!!“ oder „Kehre um!“ hat man als Autorin sehr viel erreicht.
Nikoletta: Einen wichtigen Aspekt finde ich aber auch zu verstehen, wie Anna da „hineingekommen“ ist. Wie ist sie zu dem geworden, was sie ist? Erst wenn man die Ursachen begreift, kann man an sich arbeiten, diese zu überwinden. Annas große Herausforderung und auch eine der Kernaussagen des Romans ist nach meiner Lesart, dass sie die Erniedrigungen, die ihr nach gleichem Muster immer wieder entgegenschlagen, nicht verdient, dass es nicht ihre Schuld ist, so behandelt zu werden. Anna kommt aus einem nach außen intakt wirkenden Elternhaus. Sie selbst ist zielstrebig und erfolgreich. In Wahrheit wirken zerstörerische Kräfte in der Ehe ihrer Eltern, die gleichen erfährt sie in ihren Beziehungen. Anna kämpft mit tief sitzenden Minderwertigkeits- und Schuldkomplexen. Sie sagt an einer Stelle, sie hätte einen Großteil ihres Lebens damit verbracht, sich zu verabscheuen, denn sie hätte immer geglaubt, nicht liebenswert zu sein. Trotzdem sehnt sie sich nach Liebe und glaubt, um diese zu bekommen, müsse sie von anderen alles aushalten. Dass sie sich also immer wieder an Kerle bindet, die sie dominieren und unterdrücken, hat seine Ursachen.
David: Definitiv. Aber das ist der Punkt, vielleicht ist Anna nicht schuld. Aber wer dann? Die Kerle, die sie sich auswählt? Auch nur in sehr begrenztem Maße. Ich finde es – keine Ironie – richtig toll, wenn junge Frauen, so wie Anna im Roman, vor 30 noch mal dem Korsett entfliehen. Dann aber erbost auf den Ex zu zeigen, obschon doch zuvorderst man selbst sich verändert hat, funktioniert für mich halt selten. Natürlich spielen da viele eigene Erfahrungen mit rein, aber daran erkennt man aus meiner Sicht gute Literatur: am wiederholten „ja, aber..!“ im Kopf. Gute Literatur muss sich am eigenen Leben reiben und das tut „Liberdade“. Natürlich leide ich mehr mit Anna, ich komme aber auch nicht dran vorbei, sehr viel Verständnis für die beiden Kerle zu entwickeln, noch mehr für den enorm negativ dargestellten Vater. Was daran liegt, dass auch ich solche Ehemänner und Väter kenne und darum weiß, dass das vermeintliche Drecksverhalten manchmal Aktion ist, klar, oft aber auch Reaktion auf eine Ecke, in die sie sich selbst haben drängen lassen. Bei der ziemlich mies dargestellten Vaterfigur dachte ich zum Beispiel die ganze Zeit, der ist wie seine Tochter Anna. Steckt in einer schwierigen Beziehung mit einer Frau, die ihn genauso kaputt macht wie er sie, aber anstatt abzuhauen, bleibt er aus Moral, Anstand, Korsett eben. Finanziell abhängig sind sie auch noch von ihm, das liest sich so privilegiert und mächtig, ist aber die pure Ohnmacht, arme Sau der Typ. Dass der in dem Umfeld irgendwann erstickt und dann freidreht, war doch zu erwarten. Das entschuldigt sein mieses Verhalten kein Stück, zeigt aber, dass auch er sich viel früher hätte befreien müssen. Sein „Liberdade“ kam zu spät und wurde dadurch natürlich umso ätzender. Ist schon ganz anderen Leuten mit depressiven Partnern so gegangen. Mit deutlichen Einschränkungen gilt das auch für Gabriel und Philipp. Ich meine, was sind die von Anna am öftesten für sich in Anspruch genommenen Begriffe im Roman? Tränen und Party. Eigentlich geht es vom einen ins andere und wieder zurück, auf und ab und ab und auf. Ich kenne solche Frauen und Männer, war selbst auch mal so, bin es latent noch immer, das ist Zerrissenheit par excellence, ein Hauch von bipolarer Verlorenheit, die dicke Suche nach dem Ich. Mit solchen Leuten wie mir oder Anna zusammen zu sein, ist einfach mal ein Schuh. Das hat dann auch nichts mit dem Geschlecht zu tun, wenn der wankelmütige Part plötzlich ab- und freidreht und dem anderen diverse toxische Begriffe unterpflügt, dann ist es absolut berechtigt, dass die- oder derjenige zumindest mal maximal konsterniert aus der Wäsche glotzt. Natürlich ist es Annas gutes Recht zu denken, dass sie doch immer nur das Beste will und wollte und der andere Part der drangsalierende Teil ist – es stimmt halt nur selten bis nie. Zerrissene Individuen mit Fernwehdrall suchen sich sehr oft durchsetzungsstarke und durchstrukturierte Partner, das zieht sie an. Gerade aus dieser eigentlichen Schieflage ergeben sich viele gut funktionierende, tiefe, feste innige Beziehungen. Es fährt halt vor die Wand, wenn einer sich entschließt, die Koordinaten zu wechseln. Dann verkehrt sich der Charakterbonus des starken Partners ratzfatz in einen Malus. Dass man sich selbst genau nach dem sehnte, was man nun offensiv verteufelt, tja, wird dann gerne unterschlagen. Bis die nächste vermeintlich starke Frau, der nächste vermeintliche Fels in der Brandung kommt, man wieder ganz hin und weg ist. Für drei Monate.
Theresa: Ich finde das Konzept von Schuld per se verfehlt. Ich denke, es bringt uns nicht weiter, in Schuldzuschreibungen zu verharren. Klar sind sie oft ein Teil des Erkenntnisprozesses, so wie Wut und Verzweiflung zum Trauerprozess gehören. Aber man sollte dort nicht stehen bleiben. Das unter anderem versuche ich darzustellen. Wie schon oben gesagt: Es gibt tausend gute (und schlechte) Gründe, einander dieses oder jenes anzutun. Der beste Weg führt sicherlich in so einem Fall aus der Beziehung hinaus. Was aber nicht bedeutet, dass es in toxischen Beziehungen nicht immer wieder auch einen gibt, der hauptsächlich die Rolle des Aggressors einnimmt. Denn diese Beziehungen sind ja wie so oft gekennzeichnet von „Gegensätze ziehen sich an“. Eine unsichere Person mit Angst vor dem Verlassenwerden plus eine Person mit Megalomanie, weil eigentlich auch ganz kleines, zerbrechliches Ego, aber andere Lösungsstrategie, macht eine wunderbare toxische Beziehung. Sehr vereinfacht gesagt. Wie im Theater haben da eben nicht beide dieselbe Rolle. David, deine Interpretation für den von seiner Frau missbrauchten Vater meiner Protagonistin finde ich dann aber bei aller Offenheit doch sehr kreativ. Das kann ich absolut nicht teilen, auch nicht aus deiner Erfahrung heraus, dass du Männer kennst, die… Ich finde, dass mein Buch für diese Interpretation wenig bis nichts hergibt und unterstelle da schon fast den Wunsch, die Dinge in ihr offensichtliches Gegenteil zu verkehren. Klar ist ein depressiver Partner eine ganz schöne Herausforderung. Gewalt in jedweder Hinsicht – insbesondere gegen die Kinder – rechtfertigt das aber noch lange nicht. Und im Übrigen stellt sich natürlich auch die Frage, was ich ja auch im Buch andeute, was zuerst da war: Die Gewalt oder die Depression?
David: Da bin ich bei dir, auch die Frage habe ich mir natürlich gestellt. Ich rede natürlich von meinen Erfahrungen, die realistisch und prägend waren, leider nicht nur kreativ. Mit dieser Realität im Kopf haut dein Buch direkt in diese Erfahrung, die ich damals, weil das für mich als knapp 30jähriger echt ein Erwachen war, etwas später sogar in meinem ersten Roman habe einfließen lassen. Denn ich ging ja mit der Ansicht ran, dass der Typ irgendwie ein Arsch ist, die arme Frau, all das. Monate später, ich war regelmäßig im Haushalt zu Gast, merkte ich aber, dass es leider nicht so einfach ist, er ein überfordertes Opfer der Verhältnisse ist und sie das sich selbst zugeschriebene Opfersein (sie hatte nach einem Unfall eine gemäßigte geistige Beeinträchtigung) auslebt, instrumentalisiert, ihm fast genüsslich täglich ins Gesicht schmiert. Mit deiner Erfahrung, deiner Brille mag das seltsam sein, mit meiner passt es. Wird wohl oder übel bedeuten, dass es – Überraschung – beides gibt.Da es aber dein Roman ist und nicht meiner nehme ich natürlich in Kauf, dass meine Wirklichkeit deine Intention überlagert hat und mich so, zumindest für den Roman, falsche Schlüsse ziehen lässt.
Nikoletta: Natürlich ist immer alles eine Frage der Perspektive. Auch ich habe den Vater als dominant und narzisstisch wahrgenommen, und ob sein Verhalten nun Aktion oder Reaktion ist, die ganze Konstellation ist zum Heulen. Annas psychische Versehrtheit kommt genau daher. Mich nervte auch ihre schreiende Naivität, mit der sie sich so offensichtlich ins Verderben stürzt. Dabei ist sie eine intelligente, kluge, eher schüchterne Person mit sehr hohen Ansprüchen an sich selbst. Nach dem Liebesabenteuer in Rio gelingt es ihr, sich aus ihrer toxischen Beziehung mit dem Philipp zu befreien, sie bewegt sich Schritt für Schritt aus ihrer Komfortzone heraus, überschreitet eigene Grenzen, wie sie es sich nie erhofft hätte, bis sie in das andere Extrem verfällt, in einen Sog aus Drogen, Kriminalität und emotionaler Abhängigkeit. Die ganze Zeit über ist Anna dieser Prozess intellektuell bewusst, sie analysiert sich selbst und kann sich dennoch dem Sog nicht entziehen. Theresa, woran liegt das?
Theresa: Ich finde das Konzept von Schuld per se verfehlt. Ich denke, es bringt uns nicht weiter, in Schuldzuschreibungen zu verharren. Klar sind sie oft ein Teil des Erkenntnisprozesses, so wie Wut und Verzweiflung zum Trauerprozess gehören. Aber man sollte dort nicht stehen bleiben. Das unter anderem versuche ich darzustellen. Wie schon oben gesagt: Es gibt tausend gute (und schlechte) Gründe, einander dieses oder jenes anzutun. Der beste Weg führt sicherlich in so einem Fall aus der Beziehung hinaus. Was aber nicht bedeutet, dass es in toxischen Beziehungen nicht immer wieder auch einen gibt, der hauptsächlich die Rolle des Aggressors einnimmt. Denn diese Beziehungen sind ja wie so oft gekennzeichnet von „Gegensätze ziehen sich an“. Eine unsichere Person mit Angst vor dem Verlassenwerden plus eine Person mit Megalomanie, weil eigentlich auch ganz kleines, zerbrechliches Ego, aber andere Lösungsstrategie, macht eine wunderbare toxische Beziehung. Sehr vereinfacht gesagt. Wie im Theater haben da eben nicht beide dieselbe Rolle. David, deine Interpretation für den von seiner Frau missbrauchten Vater meiner Protagonistin finde ich dann aber bei aller Offenheit doch sehr kreativ. Das kann ich absolut nicht teilen, auch nicht aus deiner Erfahrung heraus, dass du Männer kennst, die… Ich finde, dass mein Buch für diese Interpretation wenig bis nichts hergibt und unterstelle da schon fast den Wunsch, die Dinge in ihr offensichtliches Gegenteil zu verkehren. Klar ist ein depressiver Partner eine ganz schöne Herausforderung. Gewalt in jedweder Hinsicht – insbesondere gegen die Kinder – rechtfertigt das aber noch lange nicht. Und im Übrigen stellt sich natürlich auch die Frage, was ich ja auch im Buch andeute, was zuerst da war: Die Gewalt oder die Depression?
Nikoletta: Natürlich ist immer alles eine Frage der Perspektive. Auch ich habe den Vater als dominant und narzisstisch wahrgenommen, und ob sein Verhalten nun Aktion oder Reaktion ist, die ganze Konstellation ist zum Heulen. Annas psychische Versehrtheit kommt genau daher. Mich nervte auch ihre schreiende Naivität, mit der sie sich so offensichtlich ins Verderben stürzt. Dabei ist sie eine intelligente, kluge, eher schüchterne Person mit sehr hohen Ansprüchen an sich selbst. Nach dem Liebesabenteuer in Rio gelingt es ihr, sich aus ihrer toxischen Beziehung mit dem Philipp zu befreien, sie bewegt sich Schritt für Schritt aus ihrer Komfortzone heraus, überschreitet eigene Grenzen, wie sie es sich nie erhofft hätte, bis sie in das andere Extrem verfällt, in einen Sog aus Drogen, Kriminalität und emotionaler Abhängigkeit. Die ganze Zeit über ist Anna dieser Prozess intellektuell bewusst, sie analysiert sich selbst und kann sich dennoch dem Sog nicht entziehen. Theresa, woran liegt das?
Theresa: Ja, mich hat Anna beim Schreiben auch immer mal wieder genervt. Aber ich glaube, wir alle – seien wir real oder lediglich fiktive Charaktere – gehen uns in unserer Entwicklung manchmal auf die Nerven. Davon eben lebt Entwicklung, Bewegung, Wachsen. Anna hat ein ganz konkretes Problem: Kopf und Herz arbeiten bei ihr nicht zusammen. Sie ist ausgestattet mit einem scharfen Verstand, hat aber nicht gelernt, auf ihre Intuition zu hören und das zu tun, was ihr guttut. Sie schafft es immer wieder, sich das Offensichtliche rational wegzuerklären. Das wiederum hat natürlich Gründe, die im Buch auch ansatzweise herausgearbeitet werden. Ich habe allerdings versucht, keine psychologische Abhandlung zu schreiben.
David: Theresa hat unbewusst etwas Wunderbares getan, sie hat mir einen lange nicht gehörten Lieblingssong zurück ins Ohr gezaubert: „Common People“ von Pulp. Im Song geht es um eine intelligente und kultivierte Frau aus besseren Kreisen, die mal das wirkliche Leben der echten Menschen spüren will. Es gibt, im tollen Videoclip von Pulp auch dargestellt, da sogar eine Supermarktszene, die hat Theresa letztlich auch im Buch. Der fiese Gabriel ist Südamerikaner und klaut, weil er nicht anders kann. Die olle Trulla Anna mit ihrer VISA-Karte holt sich einfach nur einen Kick, in dem sie mit auf Diebestour geht und hat dann noch die Frechheit, mir erzählen zu wollen, er hätte einen toxischen Einfluss auf sie. Dabei hat er wenigstens einen schalen Grund für sein Tun, sie nicht, sie hat nur überhebliche Lebenslust in petto, dazu noch mit sozialem Rettungsanker. Aber die Subjektivität ist so schonungslos, dass es eben lesenswert ist. Nahezu alles, was Anna Gabriel vorwirft, macht sie selbst. Mit zweierlei Maß messen zum Beispiel. Ich empfinde es ungelenk, dass sie Gabriels Zweifel an ihrer Treue so mir nichts dir nichts unter Kontrollwahn und Latino-Machismo abheftet. Natürlich gibt es sowas und die Kultur ist dort natürlich eine andere, dennoch ist das eben auch sich selbst glorifizierende Klischeereiterei, wenn sie ihren eigenen Kontrollwahn frech als begründet, seinen aber als mies abtut. Aber genau darum ist der Roman wertvoll, weil er diesen maskulinen Gedankenfreiraum gestattet. Wenn Anna, berechtigt, auf das Üble im anderen hinweist, demaskiert sie immer auch ein bisschen ihre eigene Widersprüchlichkeit.
Theresa: Klar, also das Buch ist aus einer, was den sozialen Status angeht, privilegierten Perspektive geschrieben. Intersektionelle Fragestellungen werden vernachlässigt und ich konzentriere mich hier ausschließlich auf die Frage der Geschlechterdiskriminierung. Ich möchte daher auch noch mal klarstellen, dass ich damit keine der anderen Formen der Diskriminierung, oder andere Formen von Missbrauch minimisieren will. Zu dem sozialen Rettungsanker insofern also: Ja, David, vollkommen richtig. Was das Messen mit zweierlei Maß angeht, teile ich deine Ansicht nicht so wirklich. Ich finde, du hast das sehr vereinfacht dargestellt, z.B. gibt es eine längere Episode, in der sich Anna mit Gabriels Eifersucht einfühlsam auseinandersetzt, bis es eben irgendwann zu viel wird. Und natürlich kann sie seine Eifersucht in gewisser Weise auch „abtun“, bzw. als nicht in der Realität begründet identifizieren, eben weil sie als Ich-Erzählerin weiß, dass sie ihn nicht betrügt, was sie von ihm natürlich nicht weiß, weil sie nicht in seinem Kopf steckt.
Nikoletta: Ein einziges Mal wird Gabriel Anna gegenüber handgreiflich und streift sie schmerzhaft mit seinem T-Shirt am Bein. Zuvor hatte ihn Anna selbst in einer Szene geohrfeigt. Anna glaubt, der schwerwiegende Unterschied zwischen seiner (männlichen) und ihrer (weiblichen) Gewalt läge darin, dass ein gewalttätiger Mann Angst einflößt, andersherum belächelt er sie höchstens, Angst vor einer Frau muss Mann wohl nicht haben. Ich kann diese Angst der Frau sehr gut nachvollziehen.
David: Warum muss man keine Angst vor einer Frau haben? Sorry, aber ist nicht genau diese Ansicht der Tod des Feminismus? Ich finde es (menschlich, nicht literarisch) lächerlich, dass Anna letztlich auch nur eine Ausrede für sich selbst sucht. Auch deswegen sind Verbrechen diverser Art nicht aus unserer Gesellschaft zu kriegen: Wir verstecken uns moralisch so gerne hinter den vermeintlich „richtig dicken Fischen“.
Nikoletta: Ich behaupte keineswegs, dass weibliche Gewalt minder verwerflich ist, sondern dass sie einem Mann weniger Angst macht. Du hast sicherlich nicht Angst vor der Ohrfeige einer Frau, die dreißig Kilo leichter ist als du, sondern vor der Erniedrigung, die mit dieser Ohrfeige einhergeht. Frauen sind ohnehin gewiefter mit Psychospielchen. Das ist keineswegs besser, halt nur seltener tödlich. Wenn aber Frauen geschlagen werden, geht es neben der psychischen auch um die unter Umständen schwere körperliche Verletzung.
David: Natürlich muss Mann – zumindest im bürgerlich-zivilen Raum – zumindest genauso viel Angst vor weiblicher wie vor männlicher Gewalt haben. Einfach weil Mann nicht adäquat darauf reagieren kann. Zurückwüten fällt aus, mit körperlicher Stärke, so die Situation es denn überhaupt hergibt, das Gegenüber festhalten, da raten dir Juristen dringend von ab. Polizei rufen endet in der Regel damit, dass ausgerechnet du dir einen anderen Schlafplatz suchen darfst. Das ist eine andere Art von Angst, natürlich, fühlt sich aber nur bedingt besser an. Und mal echt, wenn es bei einer Ohrfeige bliebe, okay. Das, was an häuslicher Gewalt von Frauenseite in die Statistik findet, hat aber eben auch nur selten mit Ohrfeigen zu tun. Aber das ist ein breites und tiefes Unwasser, das hier natürlich auch wenig zu suchen hat. Wenn Theresa aufzeigen wollte, dass Anna eine gewisse Berechtigung zur Gewalt hat oder diese per se nicht so schlimm ist wie die von Gabriel, dann haben die Argumente bei mir anders gefruchtet als beabsichtigt.
Theresa: Hm. Das Ding ist ja, dass Anna ihre Gewalt gegenüber Gabriel gerade nicht rechtfertigt. Ihr ist völlig klar, dass das scheiße war. Aber sie fragt sich eben auch, ob es trotzdem einen Unterschied zwischen Gewalt durch Männer und Gewalt durch Frauen gibt. Das reflektiert sie auch recht ausführlich, gerade, weil sie sich die Frage ehrlich selbst stellt. Und neben der Tatsache, dass Gewalt durch Männer wie oben bereits diskutiert unter Umständen krasse körperliche Auswirkungen mit sich bringen kann, kommt sie zu dem Schluss, dass Gewalt durch Männer gegenüber Frauen strukturell in unserer Gesellschaft verankert ist, was andersherum nicht gilt. Ich behaupte überhaupt nicht, dass es keine Männer gibt, die Opfer von weiblicher Gewalt werden. Das zu behaupten wäre auch dumm, denn es stimmt nicht. Allerdings ist das Ausmaß doch ein anderes: In einer Studie vom BMSMFJ aus dem Jahr 2019 heißt es, dass Partnerschaftsgewalt sich in über 80 Prozent gegen Frauen richtet, klar, die Dunkelziffer immer mitgedacht, aber eben in beide Richtungen, also sowohl für Männer, die aus Scham oder was auch immer ihre Frauen nicht anzeigen, genau so sehr aber für Frauen, die aus Angst z.B. ihre Männer nicht anzeigen. Das Gefälle kriegt man also auch durch Dunkelziffern nicht weg. Und wie viele Femizide gibt es pro Jahr? Wie viele Männer hingegen sterben, nur weil sie Männer sind? Natürlich muss man auch immer überlegen, über welche Art von Gewalt man spricht. Gewalt an Jungen und männlichen Jugendlichen ist z.B. nochmal ein Thema für sich, ebenso Gewalt gegen Homosexuelle und Transmänner. Aber das führt jetzt zu weit.
David: Das ist natürlich genau die Komplexität des Themas und ja, es ist leider kaum möglich, das in so einem Format hier umfassend zu erörtern. Da du aber fragtest: Es sterben seit jeher deutlich mehr Männer, nur weil sie Männer sind als Frauen, nur weil sie Frauen sind. Männer bilden in nahezu allen Gewaltstatistiken nicht nur die größte Täter-, sondern auch die größten Opfergruppen (muss man mir nicht glauben, aber der UN, die das Jahr für Jahr bestätigt). Ist aber auch nicht schwierig in einer konfliktbeladenen und weiterhin durchmilitarisierten, in Sachen Konfliktbewältigung macho-maskulinen Welt, in dem der geplante und mitunter sauber durchgeführte Maskuzid Teil der Grundidee, das „Verschonen“ von Frauen (was immer zynisch darunter auch zu verstehen ist) schon immer perfider Teil des moralischen sich Reinwaschens war. Müssen wir jetzt nicht weiter ausführen, Armenier, Srebrenica, Kongo, Stalingrad – die letzten 120 Jahre sind ein einziger fetter gesellschaftlich weithin komplett tolerierter Maskuzid. Nur ein Bruchteil dieser Männer ist mit fliegenden Fahnen und Heldengelüsten in den Untergang gerannt, die meisten waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und hatten das Pech, Männer zu sein, hätten als Frauen weiterleben dürfen. Das männliche Geschlecht bildet seit jeher einen formidablen Grund, schuldlos das eigene Todesurteil zu erhalten. Kommt aber eben, richtig, auf den Fokus an. Auch ich habe lange Zeit argumentiert, dass das aber doch was Anderes sei, wenn zudem Männer Männer töten, da doch auch irgendwie zumindest ein Hauch von, tja, Fairness und Augenhöhe ist und überhaupt Kriegssituationen und Uniformen noch einmal eine ganz andere Sache sind etc. Mache ich inzwischen nicht mehr, das war wahrlich zu kurz gedacht, war auch Ausflucht meinerseits. Und darum halte ich auch wenig davon, es numerisch zu betrachten und noch hübsche Schubladen und Unterschublädchen aufzumachen. Für mich sind Maskuzid und Femizid gleich heftige Probleme, für die es unterschiedliche Lösungen braucht. Häusliche Gewalt an Männern ist für mich genauso schlimm wie häusliche Gewalt an Frauen, aber auch das kriegt man wohl nicht deckungsgleich vom Tisch.
Nikoletta: Wenn es um das doppelte Maß geht, müssen wir auch über die Vergewaltigung sprechen. Anna nimmt diese erstmal gar nicht als solche wahr. Ich fand es großartig, wie Theresa diese Szene aus Annas und Gabriels Perspektive so unterschiedlich darstellt. Gabriel begreift gar nicht, dass etwas passiert ist, Anna fühlt sich in der Situation extrem unwohl, aber auch sie versteht erst im Nachhinein im Gespräch mit ihrer Therapeutin, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt, dass es beim Missbrauch um Hilflosigkeit und das Übertreten sehr intimer Grenzen geht. David, du wirst vermutlich sagen, na was hat sie denn, bisher haben sie gemeinsam gekokst, Pornos geguckt und dann hatten sie Sex. Und plötzlich will sie nicht mehr. Sie hat noch nicht mal nein gesagt. Und dennoch ist es Missbrauch? Missbrauch und keiner kann was dafür. Gibt es das? Ich denke, eindeutig ist dieser Fall nicht. Vielleicht kann man es ihm tatsächlich nicht vorwerfen, aber ein Weckruf für Anna, sich schleunigst in die Flucht zu schlagen, ist es allemal.
David: Das ist für mich einer der sensibelsten Punkte der modernen Menschheit. Was mich daran ärgert ist, dass ich das alles so heikel finde, dass ich fast schon wieder für „Sex erst ab Ehe“ bin. Macht es nicht besser, hegt aber ein, vielleicht. Ich habe tatsächlich dutzende Protokolle zu dem Thema gelesen und bin es mittlerweile irgendwie gewohnt, das seufzend zur Kenntnis zu nehmen. Natürlich hätte ich viele kritische Nachfragen an Anna und Gabriel, die haben sie sich ja nun auch wahrlich verdient. Ich meine, die Beziehung ist ja nicht das große Glück, das wie aus dem Nichts widerwärtig wird. Das ist ein schleichender Prozess abwärts, literarisch gut dargestellt. Aber da sind wir vielleicht bei einer unterschiedlichen Leseweise des Romans: Ich finde den Roman so gelungen, weil ich so, wie Theresa es schildert, beide einfach nur in den Senkel stellen will. Im Nachhinein Moralklugscheißern hat aber noch nie geholfen.
Nikoletta: Na ja, im Roman wird aber Anna von ihrer Therapeutin erklärt, dass sie vergewaltigt wurde. Damit wird bewertet, es werden Fakten geschaffen, die ich hier hinterfrage.
Theresa: Also erstmal: Sex erst nach der Ehe würde leider überhaupt nichts an dieser Lage ändern. Denn auch in einer ehelichen Beziehung kann es ja sein, dass der eine Partner gerade keine Lust hat, sich von dem anderen anfassen zu lassen. Da hat man dann genau dasselbe Problem. Wenn ich heirate, kaufe ich schließlich nicht den Körper meines Ehemannes ein mit dem Recht, in jeglicher Form und zu jeglicher Zeit frei darüber zu verfügen. Meines Erachtens macht Anna deutlich genug, dass sie an diesem Abend nicht mit Gabriel schlafen will, aber um hier nicht zu sehr zu spoilern, lest diesen Teil bitte selbst. An dieser Stelle wird dann immer gerne vorgebracht, man müsse eben beidseitig aufklären. Ich weiß allerdings nicht, wozu beidseitige Aufklärung hier nützen soll. Wir Frauen werden seit jeher „aufgeklärt“ und zwar im Sinne von: Wenn du das anziehst, dann werden die Männer dich belästigen, also tu es lieber nicht. Trink nicht so viel, sonst machen sie mit dir, was sie wollen. Und wenn es dann doch passiert, dann heißt es: Na klar, schau mal was die anhatte und wie besoffen sie war. Aufklärung heißt in diesem Falle für mich nicht, den jungen Mädchen zu sagen, wie sehr sie aufpassen müssen, dass niemand ihre physischen und emotionalen Grenzen überschreitet, sondern den Jungs zu erklären, dass man sich nicht einfach nehmen kann, was man haben will. Ich glaube, die Situationen, in denen wirklich nicht klar war, wer was wollte oder nicht, sind relativ selten. Man kann sich aber natürlich auch taub und blind stellen, aber das hat ja oft auch System. Im Übrigen genauso blöde (und leider wahrscheinlich noch immer notwendig): „Meine Tochter schicke ich zum Kampfsport, damit sie sich in solchen Situationen verteidigen kann.“ Ja, und wo verdammt noch mal ist das Seminar für die Jungs, wo sie lernen, dass man auch rotzevoll einer Frau nicht einfach an den Arsch greift? Und eine Sache noch zu den Femiziden, da ich Davids Aussage dazu unmöglich stehen lassen kann. Bei Femiziden geht es darum, dass eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist. Das was du, David, oben schilderst und als „Maskuzid“ betitelst, entspricht dem in keinster Weise. Die Männer werden nicht wegen ihres Geschlechts umgebracht, sondern – und auch das ist ein Teil des patriarchalischen Systems – weil nur ihnen bestimmte Rollen zugesprochen werden, die man oft den Frauen nicht zutraut. Nicht jeder Mord an einer Frau ist ein Femizid, und so sind die von dir angesprochenen Todesfälle unter Männern, etwa im Krieg, keine „Maskuzide“. Wenn ein Bankräuber bei einer Geiselnahme ein paar Frauen und ein paar Männer erschießt, dann ist das ein schreckliches Verbrechen, hat aber eben mit Femiziden nichts zu tun. Ganz anders ist es aber, wenn ein verletzter Ehemann seine Frau umbringt, weil sie nicht mehr mit ihm zusammen sein will. Denn dahinter steht das überkommene Konzept, dass der Mann die Frau in gewisser Weise „besitzt“ und ihr, wenn sie nicht mehr tut, was er will, das Recht zu leben nehmen kann. Der Kniff an der ganzen Sache ist ja genau das: Normalerweise sind Männer in acht von zehn Fällen die Opfer von Gewaltverbrechen. Diese Statistik dreht sich nur in Partnerschaften um: Bei Gewalt in Beziehung sind acht von zehn Opfern Frauen. Dahinter steckt System und dieses System ist die patriarchalische Sozialisierung.
David: Ich weiß zwar nicht aus welchem Jahrzehnt vor meiner Geburt diese ein wenig sehr gestrig wirkende Erläuterung stammt, ich nehme sie aber gerne wieder zur Kenntnis, auch wenn sie mich natürlich nicht überzeugt. Auf die Weise kann man auch die Femizidrate leicht Gen null rechnen, zum Beispiel durch den Hinweis darauf, dass eine Beziehungstat per Definition nur selten zugleich ein Femizid sein kann. Auch zur Kenntnis nehme ich, dass noch viel Gedankenarbeit notwendig ist, bis ein Umdenken in den Köpfen stattfindet und ein Wort wie Maskuzid nicht nur bekannter wird, sondern auch ohne Anführungsstriche gesagt werden kann. Prinzip Hoffnung.
Nikoletta: Theresa, deine Protagonistin kriegt es wirklich ganz dick ab, sie hat ein Drogen- und Alkoholproblem, eine Essstörung, eine Depression, da ist ihre Abhängigkeit von Männern (ich sage mal, von den falschen Männern), ihre vermeintliche Schuld an dem Unfall der Schwester, und sie wird zudem auch noch missbraucht. Die Liste ist lang. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass du mit diesem Roman so viel ansprechen willst wie nur geht, um aufzuklären. Wie schon gesagt, ich halte das für ein ganz wichtiges Buch. Wenn Aufklärung die Intention war, warum hast du die Form eines Romans gewählt? Hätte es auch ein Sachbuch werden können?
Theresa: Ich habe immer viel aus Romanen gelernt. Da ist die Identifikation viel stärker und außerdem bietet das die Gelegenheit, komplexe Zusammenhänge anhand von Beispielen darzustellen. Anna ist ja in keinem dieser Bereiche „extrem“. Sie spritzt sich kein Heroin, steht morgens früh nicht am Kiosk, um sich eine Pulle Wodka zu kaufen, und wurde auch nicht als Kind an einen Pädophilenring verkauft. Es ist die Mischung all dieser Probleme, die zu ihrer Geschichte führt. Das finde ich in Romanform besser darstellbar und außerdem liebe ich es einfach, Geschichten zu erzählen.
Nikoletta: Im hinteren Teil des Romans erleben wir heftige Drogentrips, Kriminalität, und auch hier emotionale Gewalt, Erpressung, Eifersucht – wie hast du zu dem Roman recherchiert?
Theresa: Ich würde sagen, ich habe in meinem Leben schon sehr viel gelesen zu den unterschiedlichsten Themen. Ich habe viele Menschen aus vielen verschiedenen sozialen Kontexten kennengelernt und mich immer gerne unterhalten. Da lernt man viele Geschichten kennen. Und zu guter Letzt habe ich natürlich auch persönlich schon eine ganze Menge erlebt.
David: Das merkt man dem Buch auch an, dass das nicht irgendwie aus der Luft gegriffen ist. Gefällt mir sehr, auch wenn es persönlich natürlich weniger schön ist.
Nikoletta: Du bist studierte Juristin, hast als Anwältin gearbeitet, promovierst zum Thema Klimaschutz und engagierst dich auch in diesem Bereich. Das klingt, als würden zwei, ja drei Herzen in deiner Brust schlagen. Wie lässt sich das Leben der Juristin mit dem der Schriftstellerin vereinbaren?
Theresa: Oft wünsche ich mir, der Tag hätte mindestens 48 Stunden. Es gibt so viele Dinge, die ich gerne machen möchte, und mir fehlt die Zeit. Ich langweile mich so gut wie nie. Mein aktueller Job und die Schriftstellerei liegen allerdings gar nicht so weit auseinander. Ich habe immer gesagt, ich möchte meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben verdienen. In meinem Job schreibe ich wissenschaftliche Aufsätze, als Schriftstellerin fiktive Geschichten. Diesen Traum habe ich mir also für den Moment erfüllen können.
Nikoletta: Das wünschen wir Dir auch für die Zukunft. Vielen Dank, liebe Theresa, für das Gespräch!
David: Auch von mir einen herzlichen Dank. Komplett gleicher Meinung sein ist Stillstand, immerhin den haben wir also umschifft – super.