David Wonschewski | Schriftsteller

Kulturjournalist – Romancier – bipolarer Bedenkenträger

Soeben ausgehört: Neil Young – “Homegrown” (2020)

homegr

von David Wonschewski

Woran erkennt man anno 2020 die wirklich großen Künstler? Nun, an einer eindrucksvollen Diskografie, legendären Konzerten in der mitunter jahrzehntelangen Vita, klar. Aber an noch etwas: am Bestreben, das eigene Wirken im digitalen Zeitalter umfassend zu katalogisieren, der ganzen Welt – wirklich der ganzen Welt – zugänglich zu machen. Radiohead und U2 sind da ziemlich gut drin. Neil Young auch. Ein Vielveröffentlicher war der Kanadier schon immer, aber was der, nun, sagen wir Folkrocker, was der Folkrocker seit einigen Jahren so alles aus der angestaubten Archivschatulle holt, das hat – und der Gedanke gefällt mir selbst am allerwenigsten – schon was von: besser jetzt und eigeninitiativ als später via dubioser Nachlassverwalter. Was seine Berechtigung hat, denn zu sehen, was im Namen beispielsweise eines Prince oder Bowie gerade noch so alles rausgejagt wird, nicht schön.
“Homegrown” ist, das vorneweg, keinesfalls Resteverwertung ehemaliger B- und C-Songs, sondern ein komplett eingespieltes Album, entstanden zwischen 1974 und 1975. Es hätte der Nachfolger von “On the Beach” sein sollen, aber irgendwas hielt die Veröffentlichung zurück, Young konntewollte das Ding einfach nicht rausbringen. Was zur Folge hatte – wir kennen das Phänomen vom Beach Boys-Album “Smile” – das dieses nicht veröffentlichte Album, Neugier und Gerüchteküche sei Dank, nicht weniger als mystisch wurde. Sternenstaub ansetzte. Freilich ohne das jemand auch nur einen Pling davon gehört hatte. Und jetzt, knapp 46 Jahre später, ist es also da. Einfach so.
12 Songs sind auf “Homegrown”, die – das ist immerhin keine Übertreibung, die musikjournalistisch faszinierende Verbindung zwischen “On the Beach” und dem Oberklassiker “Harvest” (das ist die Scheibe mit “Heart of Gold”) darstellen.

Zu den auf “Homegrown” mitwirkenden Musikern zählen, der Musik-Connaisseur schnalzt mit der Zunge, vor allem die The Band-Mitglieder Stan Szelest (Piano), Levon Helm (Drums) und Robbie Robertson (Gitarre).
Der Titeltrack “Homegrown” ist eine rockige Preisung des von Young so gerne gerauchten Marihuana. “Homegrown is the way it should be / homegrown is a good thing / plant that bell and let it ring” heißt es im Text. Wer mag Young da schon widersprechen.
Der akustisch gespielte Opener “Seperate Ways” hingegen stellt Youngs innere Zerrissenheit nach der Trennung seiner damaligen Freundin Carrie Snodgress dar: “I won’t apologize / the light shone from in your eyes / it isn’t gone / and it will soon come back again / we go our seperate ways / lookin’ for better days / sharing our little boy / who grew from the joy back then” sinniert er desperat über ein paar karg hingeworfenen Mollsprengseln. Helms sehr minimalistisches Schlagzeug und Keiths wehklagend trostlose Pedal-Steel-Gitarre unterstützen die desolate Melancholie des Tracks hervorragend.
“Try” und “Love is a rose” kommen im Country-Gewand daher, derweil “Florida” eine klirrende und sirrende Spoken-Word-Verstörung ist, dessen Lyrics im Übrigen im Coverinlay des seinerzeit anstelle von “Homegrown” veröffentlichten Albums “Tonight’s the night” auftauchten. Das daran anschließende “Kansas” führt aus dieser Zerrissenheit zurück in die Wonnen der Harmonie, den Wohlklang stiller Folk-Fantasien, wie nur Young mit seiner bekanntlich unterdurchschnittlichen Stimme sie überdurchschnittlich zu präsentieren versteht.

Young selbst begründete den damaligen Rückzug von “Homegrown” im Übrigen damit, dass ihm die sehr “persönliche und offene” Grundstimmung des Albums insgesamt zu depressiv sei. Wenig verwunderlich in diesem Fall. Viele der Songs handeln schließlich von der kurz vor Aufnahmestart in die Brüche gegangenen Beziehung zu Schauspielerin Snodgress, von der er offenbar damals selbst noch nicht so recht wusste, wie er sie finden sollte.
“Homegrown” gerät zu einem großartigen Young-Album, dessen einziges Problem vielleicht der eingangs erwähnte mystische Legendenstatus ist. Denn wie auch “Smile” von den Beach Boys Jahrzehnte später arg erfreute ohne zugleich vom Hocker zu hauen, ist auch “Homegrown” letztlich einfach eine weitere souveräne Young-Performance auf Erstliganiveau.

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3 Kommentare zu “Soeben ausgehört: Neil Young – “Homegrown” (2020)

  1. Bludgeon
    21. Juni 2020

    Der Witz is, das die jetzige HOMEGROWN als auch die verschollene CHROME DREAMS zwischen ON THE BEACH und AMERICAN STARS gehören würden.Also 3 Anläufe, um dann die zerruppte AMERICAN STARS rauszubringen, obwohl 2 verworfene Alben homogener gewesen wären? Das ist dann entweder dem damaligen Drogennebel geschuldet oder schlicht ne Marketinglüge.

  2. davidwonschewski
    21. Juni 2020

    War mir in dem Zusammenhang noch nicht bekannt. Kann aber natürlich öfters so, in ähnlichen Varianten, passiert sein. Ich hielt es früher immer für eine Phrase, wenn mir Musiker erzählen, dass sie ihr erstes, zweites etc. Album selbst nicht ertragen, egal wie erfolgreich es war. Hört man dauernd. Ist aber vielleicht was dran, genauo oft wie bereut wird, etwas rausgebracht zu haben wird bereut es nicht getan haben seinerzeit. Das Thema “Mehrfachverwurstung” ist aber natürlich so ein Thema, gerade bei Leuten, die es, behaupte ich mal frech, doch echt nicht nötig haben.
    Ach herrje, da sehe ich doch gerade, dass ich Neil Young als “Amerikaner” verunglimpft habe in meinem Text. Na, das habe ich aber mal sowas von geändert. Geht ja gar nicht, auha.

  3. Bludgeon
    21. Juni 2020

    Was mich an der Beipackzettelgeschichte stört ist die Tatsache, dass das dieselbe Geschichte ist, die bei Erscheinen der “Chrome dreams II” erzählt, geschrieben wurde. “Chrome dreams” war fertig. Carol King bekommt sie vorgespielt und lacht “Das ist doch keine Platte!” und Neil stampft sie ein und bringt die “american stars’N’Bars” raus – mit “homegrown” on it.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 17. März 2021 von in Musikrezensionen, Nachrichten und getaggt mit , , , , , , .
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