von David Wonschewski
Erklären – kann man das nicht. Warum ausgerechnet Thomas Pigor für mich die Personifizierung des „Kleinkunst“-Begriffes ist. Warum ich noch vor Mey, Wader, Wecker oder Hoffmann ihn, den studierten Diplom-Chemiker, Buchautor und Komponisten im Sinn hatte als ich vor knapp 3 Jahren „Ein Achtel Lorbeerblatt“ gründete. Und beschloss mich noch tiefer einzubuddeln in eine Szene, deren größte gemeinsame Klammer wohl darin besteht, dass sie als zu verkopft gilt, um noch im Radio gespielt zu werden. Um kommerziell erfolgreich bestehen zu können, Massen zu ziehen, auch nur im Ansatz attraktiv vermarktet zu werden.
Doch ist dem wirklich so? Oder ist auch das nur ein weiterer hilfloser Versuch eine Medienignoranz zu erklären, die im Grunde unerklärlich ist? Einen Flächenbrand der Nichtbeachtung, der kaum noch zu löschen ist? Pathetische Bilder – und mit Thomas Pigor ein Gesprächspartner, der sich vielleicht wie kein Zweiter ein wirkliches Urteil erlauben kann, hat er mit seinen Chansons doch immerhin eine feste Rubrik bei einem der größten Radiosender des Landes ergattert. Und der, es lässt sich nicht anders sagen, ein seltenes Kleinkunst-Talent besitzt: Der Mann schreibt Hits. Ja, echte Hits!
Ein Gespräch über die Lorbeerblatt-CD des Monats Oktober, „Volumen 8“, über die Liederbestenliste und, ja wirklich: Joints, Baggerseen und das Dschungelbuch.
David Wonschewski (DW): Thomas, gerade ist das neue Album von dir und Benedikt Eichhorn erschienen. „Volumen 8“ heißt es. Das ergibt durchaus Sinn, gab es zuvor doch „Volumen 7“, was seinerseits der Nachfolger von „Volumen 6“ war. Hm, man ist fast geneigt mit einem kommenden Album „Volumen 9“ zu rechnen, nicht wahr? Wären wir nicht hintersinnige Kleinkünstler oder Kleinkunst-Connaisseure würde ich verächtlich eine Augenbraue nach oben ziehen, das scharfe Schwert des Einfallslosigkeit-Vorwurfs schwingen. So aber, tja, ordne ich diese latent vorauszuahnende Albenbetitelung als beißende, tiefgründig-vielschichte Gesellschaftskritik am Kommerz der Kuschelrock- und Bravo-Hits-Compilations ein. Ich glaube bei letzterer Reihe ist man inzwischen bei Vol. 86 angelangt…
Thomas Pigor (TP):Ich muss dich enttäuschen: Es ist tatsächlich Einfallslosigkeit und Faulheit, die hinter der Durchnummerierung der Programme stecken. Allerdings auch die Erfahrung, dass mit Titel-Diskussionen oft viel zu viel Zeit und Kreativität durch den Kamin gejagt wird. Ich kenne das vom „College Of Hearts“, der Musiktheatergruppe, mit der ich in den achtziger Jahren durch die Lande gezogen bin. Bis wir zu Titeln wie „King Kurt-Das Campingmusical“, „Blutiger Honig-Das Bienenmusical“ oder „Harry Stark – Das Metzgermusical“ durchgestoßen sind, redeten wir uns monatelang die Köpfe heiss. Mit Eichhorn ist das anders: Ich habe zwar noch keine Ahnung, wie unser nächstes Programm aussehen wird, aber es heisst Volumen 9. Was für ein Glück, dass in der Kleinkunst niemand vor uns auf die Idee mit der Durchnummerierung gekommen ist!
DW: Verdammt, da ist was dran. Würde man mich fragen, welche Stellen in meinen eigenen Büchern die kompliziertesten waren, welche mich am meisten Zeit kosteten, ich würde wohl sagen: Die Titelsuche! Passend finde ich diese „Volumenbetitelung“ bei euch aber dennoch, denn ich mache keinen Hehl aus meiner etwas bornierten Ansicht, dass du und Benedikt Eichhorn zu den wenigen Kleinkünstlern gehören, die noch richtige Hits schreiben können. Zumindest in der Form wie ich als ehemaliger Radiomacher im Pop-Mainstreambereich es definiere. Auch Volumen 8 hat wieder einige solche Titel parat. Bevor ich da nun weiter drauf eingehe, interessiert mich allerdings zunächst einmal dein Verhältnis zu dem Begriff „Hit“. Ich kenne Kleinkünstler, die empfinden den Begriff geradezu als Schimpfwort und klanggewordenes Einknicken vor dem ach so bösen Musikkommerz. Manchen nehme ich eine solche Haltung ab, bei anderen erahne ich auch eine Terz von Neid…
TP: Lass uns in diesem Zusammenhang noch ein paar Begriffe einführen: Ohrwurm, Leuchtturmsong und Netzvolkslied. Zum Ohrwurm kann jeder Song werden, wenn man ihn nur oft genug zu hören kriegt. Auch ganz schlechte. Wenn ich einen Song schreibe, wird er in der Regel für mich einige Tage lang zum Ohrwurm. Als eitler Autor hält man das immer gleich für hitverdächtig. Falsch. „Leuchtturmsong“ ist ein Begriff von uns, der Songs bezeichnet, die in einem Programm über die anderen Songs herausragen. Songs wegen derer die Leute nach der Vorstellung an den Verkaufstresen kommen und fragen: „Auf welcher CD ist,… z.B. ,Nieder mit IT?`“ Es gibt nur wenige Songs, die Leuchtturmqualitäten besitzen, in einem Programm vielleicht einen oder zwei. Und man kann es nicht vorhersehen, ob ein Song dazu taugt. Ich frage bei jedem Programm unsere Inszenierungs-Crew, welcher Song der Knaller des Programms wird. Alle liegen immer mehr oder weniger daneben, inklusive mir. Ein Hit, könnte man sagen, ist ein Leuchtturmsong mit gelungener Vermarktung. Damit ein Song zum Hit wird, spielen viele Faktoren eine Rolle: Der richtige Zeitpunkt, das richtige Gesicht, die richtige Plattenfirma, die richtige Strategie. Das Budget. Glück. Es gibt aber auch den Erfolg, der aus dem Untergrund kommt, ohne Apparat. Der Ort wo so etwas stattfinden kann, ist heute (noch) das Internet. Ich hatte mal so einen Netz-Erfolg, nämlich: „Adolf“ (Ich hock in meinem Bonker) zusammen mit Walter Moers. Wir hatten wahrscheinlich mehr als 30 Millionen Views. Der Clip war, auch wegen seiner genialen Animation, Ende der Nuller Jahre wohl auf den meisten Handies der Teens und Twens zu finden, ein echtes Netzvolkslied. Tolle Sache, aber ich bin froh, dass der Clip nicht mit unserem Namen verbunden wurde, denn was hätten wir mit den Massen von Jugendlichen anfangen sollen, die im falschen Konzert sitzen? Uns ist der „Fluch des Katzenklos“ erspart geblieben. Wenn aber „Heidegger“, „Gastgeber“ oder „Maulende Rentner“ zum Hit würden, hätte ich nichts dagegen.
DW: Sehr interessante Herangehensweise, vor allem die Sache mit dem Leuchtturmsong. Ich erlebe das monatlich als Juror bei der Liederbestenliste. Da kann jeder Juror selbst bestimmen welches Stück einer CD er bepunktet, er also quasi als den „Hit“ der CD beurteilt. Da liegen mitunter Welten in der Wahrnehmung welches Stück einer CD am gelungensten ist. So waren wir uns zum Beispiel fast gesammelt einig, dass deine CD „Mit Pigor durch das Jahr 2013“ der Oberbringer war – nur sah halt jeder ein anderes Stück als das beste Lied der Platte an. Das führte dazu, dass du mit so vielen Liedern in der Liste vertreten warst wie schon lange kein Künstler mehr, aber eben mit keinem weit oben, da sich die vielen Punkte auf viele Lieder verteilt haben. Zugegeben: auch irgendwie doof, du musstest quasi büßen für eine offenbar durchgängig hohe Qualität. Als Radiomacher mache ich einen Hit inzwischen neben den von dir benannten Zutaten auch danach aus, dass er die Fähigkeit besitzt Zielgruppen mitzureißen, die eigentlich gar nicht die Kernzielgruppe des Musikers sind. „Heidegger“ ist da ein tolles Beispiel – oder von „Volumen 8“ jetzt das erste Lied „Hausschweine“. Ein textlich im wahrsten Sinne des Wortes bissiges Stück über unser Konsumentenverhalten, das sich, so vermute ich einfach mal, einer Klientel jenseits der Kleinkunst vermutlich nicht sofort offenbaren wird, da es so einen netten doppelten Boden hat. Ähnlich wie bei Heidegger gelingt es euch aber dennoch die Nummer zu einem „Hit“ werden zu lassen, in dem ihr es musikalisch so „einfach“ strickt, dass das Teil auf jeder Karnevalsfeier und in jedem Fussballstadion funktionieren dürfte, gerne auch im Vollsuff. Also exakt dort, wo man Kleinkunst gemeinhin nicht verortet. Und spätestens wenn in „Hausschweine“ zum 20sten Mal intoniert wird „Sommerreifen runter und die Winterreifen rauf“ fängt nicht nur der verkopfte Hörer das Feiern an, sondern vor allem der feierwütige Hörer wird begreifen was ihm da gerade eigentlich erzählt wird. Ich jedenfalls habe bei dem Stück Lust auf einen Stuhl zu steigen und mit hochgeschobenen Hemdsärmeln kräftig in die Hände zu klatschen. Bei „Heidegger“ funktionierte es seinerzeit ähnlich, selten hatte man so viel Freude sich diesem nicht für jedermann verständlichen Philosophen zu nähern. Das Lehrreiche wurde da fast schon nebenher serviert.
TP: Heidegger und Hausschweine, bei beiden Songs stehen Text und Musik in einem Spannungsfeld zueinander. Bei Heidegger ist da dieser hyperkomplizierte, beim ersten Hören unverständliche Text und die Musik signalisiert Baggersee, Abtanzen und Joints rauchen. Zusammen mit den lautmalerischen Qualitäten des Heidegger-Jargons entsteht ein Gefühl von „Heidegger ist easy“, wobei jeder weiß, dass er es nicht ist. Und jeder weiß, dass wir wissen, dass er es nicht ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob und wie intensiv sich der Zuhörer jemals mit Heidegger beschäftigt hat, wir verstehen uns augenzwinkernd.
Hausschweine ist eigentlich das Klagelied der Familien-Bären, der gutmütigen und unspektakulären „Idioten der Familie“ und die Musik signalisiert: Diese Typen sind cool. Dadurch entsteht dann dieses satirische Spannungsfeld, dieser doppelte Boden, von dem du sprachst. Oft macht das den Reiz eines Songs aus: Vertrackter oder böser Text vs. eingängige Musik, leichter Text vs. vertrackte Musik. Das erste ist das dankbarere Prinzip. Zu letzterem – leichter Text vs. vertrackte Musik -, fallen mir z.B. die Aphorismen von Marco Tschirpke ein: Einen Zweizeiler vertont er mit entwickelten Jazzarrangements. Lapsuslieder 4: Ganz spannende CD.
Ich bin immer wieder überrascht, wie entscheidend die Farbe der Musik für die Rezeption eines Textes ist. Wie sie die emotionale Grundhaltung des Zuhörers, den Zugang zum Text bestimmt und die Fülle von Assoziationen, die sie hervorrufen kann. Damit bewusst umzugehen, ist das Geschäft des Liedermachers.
Wir bedienen uns recht großzügig im Schatzkästlein der Musikstile: Schlager, Hip Hop, Reggae, Rock, Bossa für Anfänger, Chanson, Kabarettchanson, Brecht/Weill/Eisler, Singersongwriter-Stil und natürlich Jazz. Immer mit dem Ziel, den Text richtig in Szene zu setzen. Diese Stile setzen wir aber nicht eins zu eins um, sondern brechen es auf unsere Instrumentierung, unsere Art zu singen herunter, auch damit die Programme stilistisch nicht auseinanderfallen.
Was die „einfache Strickung“ von Songs betrifft, so wehre ich mich gegen eine Sichtweise, die sich zu sehr auf die Aufeinanderfolge von Akkorden beschränkt. Findet man häufig bei Pianisten, die bei der Vertonung von Texten am Klavier sitzen, hippe Chords aneinanderkloppen und den Text dabei im Kopf mitlaufen lassen. Wenn ich mit Eichhorn komponiere, wird laut gesungen, um Phrasierungen gerungen, der Ausdruck mitgedacht. Ein Song entsteht aus dem Zusammenspiel von Textinhalt, Textrhythmisierung, Melodie, Harmonienfolge und Arrangement. „Hausschweine“ ist harmonisch zwar weitgehend modal, also auf einem Akkord mit ein paar Rückungen, aber das Schlagzeug von Emanuel Hauptmann und die Bläserarrangements von Stefan Gocht sind alles andere als einfach gestrickt.
DW:Ich finde es immer interessant zu lesen mit wie vielen strategischen Vorüberlegungen Musiker an ihre Songs rangehen. Ich selbst bin musikalisch im Grunde null bewandert, hatte mir zwar zu meinen musikjournalistischen Anfängen überlegt, dass ich das doch dringend ändern muss, bin aber froh, dass ich es nicht getan habe und mir somit einen gewissen halbwegs naiven Zugang zu Liedern bewahrt habe. Das führt vermutlich dazu, dass ich – wie alle Musikjournalisten – gerne in Schubladen spreche („klingt wie Musiker xy“) oder aber in Assoziationen fabuliere.
TP: Ich muss dich wieder enttäuschen. Wir gehen nicht mit strategischen Vorüberlegungen einen Song an. Was ich oben gesagt habe, sind eher analytische Nachüberlegungen. Ab und zu helfen einem die Konzepte zwar, auf neue Ideen zu kommen, aber die Auswahl, welche Ideen realisiert werden, erfolgt dann meist intuitiv, subjektiv, willkürlich, und radikal geschmäcklerisch. Auch die Schubladen werden im Nachhinein gezimmert, und zwar meist von Außenstehenden. Wenn Leute uns vorwerfen, das was wir da produzieren wäre gar kein Chanson, oder kein Kabarett oder kein Salon Hip Hop, kann ich immer nur sagen, Euer Problem. Ich schreibe doch nicht für Eure Schublade und Eure Erwartungshaltung.
DW: Das vermutlich nicht, fast schon im Gegenteil. Du erwähntest „Baggersee“ und „Joints“, gute Stichworte, findet sich doch auf „Volumen 8“ ein Stück, mit dem man bei mir eigentlich von Grund auf verloren hat. Ihr besingt dort die Posse rund um den neuen, geplanten, sehnsüchtig erhofften Berliner Flughafen. Ich vermute mal die Entstehung des Stücks liegt auch schon einige Monate zurück, ich selbst kann Witze darüber aber schlichtweg nicht mehr hören, das ist für mich so kreativ wie Comedians, die immer noch „Konstantin Wecker hat mal gekokst“-Frotzeleien machen. Bei euch ist das aber, wie fein, dann doch wieder etwas anderes, denn ihr strickt da eine relaxte Sommernummer, die mich vom Grundgefühl fast an „Das ham wa uns verdient“ von Grooveminister erinnert (thematisch in puncto Airport auch recht passend, dieser Songname). „In den Brandenburger Sand setzen wir ganz entspannt den Airport Willy Brandt“ – so heißt es in „Berlin Airport“. Und selten hat scheitern so entspannt nach Batida de Coco und Sonnenmilch geklungen, ach was sage ich denn: geschmeckt. Das Stück ist natürlich Galgenhumor at its best, auch so eine Nummer die doch prädestiniert ist ein Sommerhit zu werden, denn Groove plus Lästern, herrje, das müsste doch ziehen bei der Masse der Schwarzseher und Pessimisten…
TP: Nun, der Flughafen-Song ist vom September 2012 und auf Anregung einer ZDF-Morgenmagazin-Redakteurin entstanden, die an einem Donnerstag angefragt hat, ob ich am darauf folgenden Montag einen Song zu diesem Thema anbieten könnte. Ich habe natürlich abgelehnt, weil viel zu kurzfristig, aber dann hatte ich plötzlich diesen Ansatz im Kopf, der mich nicht losließ. Also musste ich mich übers Wochenende dransetzen und das Ding zu Ende bringen. Klar, das Thema ist nicht mehr ganz so frisch wie damals, aber solange das Publikum den Song so gerne hört wie im Moment, bleibt er im Programm. Über die Publikumsreaktionen, die Lacher, weiß man eigentlich immer sehr gut, was noch geht und was nicht. „Kevins“ geht leider nicht mehr. Die Kevins sind inzwischen 10 Jahre älter, stehen nicht mehr verloren an Bushaltestellen rum und die Kabarettistenkollegen haben das Thema mittlerweile auch durch.
DW: Das Thema „Berlin Airport“, das muss man euch ja nun lassen, ist in der Tat nicht nur weiterhin aktuell, ich fürchte es wird sogar immer aktueller, da ja fast monatlich eine neue Wendung hinzukommt. Das Lied eignet sich aber auch hervorragend, um einmal das Thema „Liedermacher und konstruktive Kritik“ anzureißen. Denn eines ist klar, die Nummer wird auf offene Ohren stoßen bei jenen, die es vorher besser wussten und es natürlich auch besser gemacht hätten als Wowereit und Co. So kunstvoll und pointiert ich euch auch finde, so frage ich mich in einem solchen Zusammenhang aber auch, ob nicht in jedem wachen Künstler nicht auch immer so ein wenig ein eitler selbstgerechter Meckerfritze steckt. Ich glaube wenige Menschen können so unfassbar zutreffende und auf den Punkt gebrachte Lieder schreiben wie ihr hier – aber noch viel weniger Menschen können Probleme wirklich konstruktiv beheben. Tja, wie ist das mit der konstruktiven Kritik des Kleinkünstlers? Hast du das Gefühl ihr könnt mehr bewirken als dass Leute wie ich sich von oben herab über diverse gesellschaftliche Defizite amüsieren, selbst keinen Finger krumm machen, aber da sie ja eure Stücke hören und sie gut finden zu dem frevelhaften Gefühl gelangen aus ihrer lauschigen Hörposition heraus ebenfalls kleine Aufrührer zu sein? Volker Pispers hat das mal sehr schön auf den Punkt gebracht und sein eigenes Publikum nett und pointiert beschimpft, die in Kabaretts schön mit Sekt in gepolsterten Sesseln sitzen, über seine Merkel-Witze lachen, dann nach Hause fahren und sich für Klassenkämpfer halten. Weil – sie haben ja gelacht und Geld für Eintrittskarten gezahlt. Moderner Ablasshandel, so sagt Pispers dazu…
TP: Können wir etwas Konstruktives bewirken? Oder: Können Lieder die Welt verändern? Es gab mal eine Zeit in der die arbeitende Bevölkerung den Künstlern vorwarf, sie würden nicht wirklich arbeiten, sondern sich einen schönen Lenz machen. Diese etwas simple antiintellektuelle Haltung fand man z.B. bei Maoisten oder meiner katholischen Oma. Und die Künstler redeten sich raus, mit der Ausrede, sie sängen für die Weltrevolution oder wenigstens um das Bewusstsein der Massen zu verändern. Die Maoisten schluckten sowas, meine Oma nicht. Die fand meine Berufswahl ungehörig. Diese Zeiten sind lange, lange vorbei, doch noch immer fragt man Liedermacher nach dem höheren Zweck ihrer Kunst. Ist das bei Schauspielern, DJ´s oder Malern eigentlich auch der Fall? Natürlich sind wir Teil eines öffentlichen Diskurses und erreichen unsere Zuhörer auf anderen Kanälen als die anderen. Aber die Verhältnisse verändern… ? Deine Beobachtung ist richtig, dass vielerorts die Kabarettisten die Funktion der Sonntagspredigt übernommen haben. Den Leuten ihre eigene Meinung, ihre Ansprüche nochmal pointiert um die Ohren hauen. Aber haben Myriaden von Predigern über die Jahrhunderte die Menschheit läutern können? Die haben heute doch mehr Sex denn je!
DW: Eine gute Frage, warum man gerade Liedermacher so gerne nach dem höheren, womöglich gar gesellschaftlich relevanten Zweck ihrer Kunst fragt. Ich denke in dieser Frage stecken gleichermaßen Kompliment wie Unverfrorenheit. Kleinkünstler nehmen sich – zumindest im Vergleich zu anderen Genres – ab und an noch sozialpolitischer Themen an. Das sticht halt heraus, macht einen Teil ihres Reizes aus. Aber wenn ich dann in dem Konzert eines bekannten Liedermachers stehe, er singt „Sage nein!“, das ganze Publikum singt mit „Sage nein!“ – und ich komme nach dem Konzert raus auf den Parkplatz und stelle fest, dass rein karosseriemäßig nicht gerade die monetäre Unterschicht da gerade gegen „das System“ gewettert hat, nun, dann ergibt das mitunter ein seltsames Gefühl. Das Gefühl, dass hier irgendwas verdreht und verwickelt ist mit den vermeintlichen Feindbildern und der Wirkungsweise politischer Aufrüttelsongs. Aber vielleicht erwarte ich da in der Tat zu viel von Künstlern wie von den Zuhörern, „Heute hier, morgen dort“ kann man ja auch singen ohne je mit dem Hinterteil aus dem Kaff seiner Jugend gekommen zu sein und ohne sich dabei gleich zu widersprechen. Und selbst bin ich natürlich kein Stück besser, wen ich nicht alles in meinem Regal stehen habe: Degenhardt, Biermann, Mossmann, Wecker – wann ich das letzte Mal bei einer Demo gewesen bin wüsste ich so adhoc aber auch nicht, ich ahne es war zu „Fuck Chirac!“-Zeiten, ich war in der Oberstufe und wer zur Demo ging durfte in Mathe fehlen. Dabei sind hier in Berlin dauernd Demonstrationen, ich müsste nicht einmal weit fahren. Ist mir aber oft zu anstrengend alles in allem. Da liege ich eben lieber auf der Couch und höre mir Liedermachersongs an. Steine werfen und rumbrüllen sollen mal schön die anderen. Wobei es so weit ja vermutlich gar nicht kommt, da – ich deutete es oben an – die Sache mit den vermeintlichen Feindbildern aus meiner Sicht immer komplizierter wird. Ich weiß zum Teil schon gar nicht mehr gegen wen oder für was ich streiten soll, da Feind und Freund sich so hingebungsvoll vermengen. Auf „Volumen 8“ gibt es das Stück „Freihandel“, das diesen Sachverhalt fast schon beängstigend klar auf einen Begriff bringt: Vertrauen. Wem zum Teufel kann man noch vertrauen, wo hört in Brüssel Politik auf und fängt Lobbyarbeit an, ist „der Amerikaner“ nun mit, bei oder doch eher gegen uns? Sind wir ihm voraus oder um Längen hinterher, ist unser ständiges Reden und Debattieren nun unser Trumpf oder doch eher unser Verhängnis? Ein grandioses Stück, das seine wirkliche Vehemenz gerade durch die ermüdete, sich ein wenig dahinschleppende musikalische Umsetzung erhält. Ich höre dieses Lied, denke die ganze Zeit „Recht hat er, der Pigor“ – und bleibe doch mit einem kafkaesk ratlosen Gefühl zurück angesichts eines so komplexen Themas wie „Freihandel“…
DW: Gut, satteln wir mal runter und erwarten nicht, dass du oder sonst ein Musiker Verhältnisse ändern. Aber persönlich umgehen, klar kommen in dieser Welt musst du auch. Das Talent guter Kabarettisten ist aus meiner Sicht Zusammenhänge zu sehen, die nicht jeder sofort sieht, gesellschaftliche Seltsamkeiten zu vermitteln, auf die eigentlich jeder Bürger, der halbwegs klaren Geistes ist, alleine kommen müsste. Machen viele aber nicht, man schaut die Tagesschau und denkt sich „So ist das eben!“ und liest die Zeitung und denkt sich „Na wenn sie es doch schreiben!“. Das Hinterfragen und Nachprüfen angeblich gegebener Dinge scheint bei Kleinkünstlern wesentlich besser trainiert und aktiviert zu sein als bei den meisten anderen Menschen. Wie ist das bei dir mit den Themen? Springen die dir ins Gesicht, schlägst du die Zeitung auf, machst den Fernseher an und kriegst Zustände was da alles verzapft und erzählt wird? Hast du so einen Zusammenhangs-Scanner im Kopf? Ich meine du hast diese Rubrik beim SWR, „Chanson des Monats“. Auf sowas lässt man sich ja nicht ein, wenn man ab und an mal Lieferschwierigkeiten hat…
TP: SWR und Deutschlandfunk. Wenn ich Lieferschwierigkeiten habe, rufe ich beim Deutschlandfunk an und frage Frau Janse, meine Redakteurin, ob ich mal wieder ihr Gehirn benutzen darf. Und dann scrollen wir am Telefon wild assoziativ durch die Themenpalette, lachen viel, ich notiere mir die Stichworte und oft genug finde ich auf diese Weise einen Widerhaken, mit dessen Hilfe ich in das Thema einsteigen kann. Ich habe eine hohe Meinung vom Faktenwissen und der Analysefähigkeit von Journalisten, die über andere Kanäle der Informationsbeschaffung verfügen als wir und die auch ständig untereinander ihre Ansichten über die Lage austauschen. Man sieht das zum Beispiel an Kabarettisten wie Frank-Markus Barwasser, der gelernter Journalist ist. Seine Kabarettnummern sind gut recherchiert, faktenreich, scharf analysiert, pointiert. Herausragend. Nein, nein, gegen gestandene Journalisten ist der durchschnittliche Kleinkünstler informationstechnisch gesehen eher ein Heimwerker. Was uns jedoch auszeichnet, ist die Möglichkeit über die Form, also z.B: die Musik, gedanklichen Ansätzen Gehör zu verschaffen, die ein seriöser Journalist nicht zum Klingen bringen kann. Bei dem Song „Freihandel“ zum Beispiel orientiere ich mich an dem Song der Schlange Kaa aus dem Dschungelbuch. Meine Musik ist zwar eine andere, aber ebenfalls repetitiv und mit einem ähnlich einlullenden und wie du richtig anmerktest, ermüdenden Charakter. Auch die Rolle, die ich als Sänger einnehme, ist der von Kaa nicht unähnlich. Den Topos „Kaa-Song“ zu verwenden und mit Inhalten zum Freihandelsabkommen zu verknüpfen, darin besteht die Idee aber auch eine wichtige Aussage des Songs. Durch die musikalische und die kabarettistische Form erreicht er die Zuhörer auf einem anderen Kanal als eine journalistische Reportage. Ich habe oft genug erlebt, dass Gedankengänge bei meinen Bekannten nur Schulterzucken auslösten, wenn ich sie ihnen in Prosa am Küchentisch vortrug. Sobald ich denselben Gedankengang jedoch, in einem Song verdichtet, in Szene gesetzt und vertont hatte, bekam ich zu hören: „Stimmt. So habe ich das noch nicht gesehen. Dasjamanne originelle Sichtweise.“
DW: Das gefällt mir! Ich trete ja viel mit Liedermachern auf in Programmen, da bieten wir eine Melange aus Chanson und Literatur. Ab und an unterhalten wir uns über die Vor- und Nachteile der Genres und ich war schon öfters an dem Punkt wo ich dem Lied eines Bühnenkollegen lauschte und mir dachte: Wie hättest du das als Kurzgeschichte erzählt? Hätte das funktioniert ohne Gesang und ohne Instrument? Ab und an komme ich zu dem Schluss: Nein, das Ding kriegste nur gesungen rüber. Ich kenne das aber sogar innerhalb meines eigenen Genres. Leute, die mein erstes Buch „Schwarzer Frost“ erst lasen, bevor sie mich live damit sahen, die sagten, das sei ihnen zu düster und existentialistisch und überhaupt recht vertrackt. Bei der Live-Lesung aber, als ich es ihnen vortrug, war es plötzlich leicht konsumierbar und stellenweise sogar ganz lustig. Faszinierend und wohl letzten Endes ein Beleg für die Vielschichtigkeit des Menschen und den wackeligen Begriff der Wahrheit. Zehn Zeugen eines einzigen Tathergangs erzählen dir zehn unterschiedliche Tathergänge. Und fragt man sie zwei Wochen später erneut, hat man wohl nochmal zehn neue Perspektiven. Ein Wahnsinn, im Grunde – und auch der Grund warum mein eigenes Bild von Journalisten, letzten Endes gehöre ich ja auch dazu, nicht so gut ist wie deines. Ich unterstelle wenigen eine Bösartigkeit. Ich glaube ganz einfach, sie haben eine unlösbare Aufgabe mit ihrer „Berichterstattung“. Am Ende weiß man immer sehr viel über den Berichterstatter und nur wenig über das Ereignis, über das berichtet wurde. Das ist nun aber ein sehr hohes Ross, da wollen wir mal gar nicht erst draufbleiben, Empirismus gerade hier im Internet abschließend beleuchten zu wollen ist eine Absurdität für sich, fürchte ich. Sprechen wir also noch ein wenig über deine Art Chansons zu schreiben. Wenn ich beim SWR nach deinem Namen schaue, springt mich sofort ein Satz an: „Thomas Pigor gilt als Erneuerer des Deutschen Chansons“. Ich hatte vor kurzem ein Treffen mit einem wirklich großartigen Duo, das mit einem ähnlichen Emblem unterwegs ist. Ich frag mal ganz platt: Was muss denn da so dringend erneuert werden, dass der SWR es für nötig hält dich den Leuten mit einem solchen Satz schmackhaft zu machen?
TP: Ich könnte mich jetzt wegducken und sagen, keine Ahnung, was die im SWR-Pressetext schreiben, aber ich bin mal ehrlich: Wir verwenden diesen Begriff selber in unseren Ankündigungen.
Die Schwierigkeit ist doch, dass man in den Programm-Ankündigungen Genre-Begriffe verwenden muss, und da muss man wohl oder übel auf die eben geschmähten Schubladenbegriffe zurückgreifen, damit der potentielle Zuschauer kurz und knapp vermittelt bekommt, was ihn im Konzert in etwa erwartet. Ich persönlich kann einen noch so erweiterten Chansonbegriff haben: Der unbefangene Leser eines Programmheftes assoziiert mit Chanson = Frankreich-Brel-Piaf. Für ihn sind Liedermacher = Gitarre-Mey-Wader, vielleicht auch Klavier-Wecker, Kabarett = Hildebrandt-Priol und Jazz = Geht-gar-nicht. Wenn ich jetzt „Chanson“ mit „Neu“ verknüpfe, hat man die Brel-Liebhaber zumindest vorgewarnt und den Chanson-Hassern, die von ihren Lebenspartnern ins Konzert genötigt werden, die Hoffnung gegeben, dass es vielleicht nicht ganz so schlimm kommt. Wir haben es auch schon mit begrifflichen Eigenkreationen versucht: Volumen 7 kündigten wir als „Cool Cabaret“ an und thematisierten das „Cabaret mit ,C`“ im Programm. Am erfolgreichsten ist immer noch unser Begriff „Salon Hip Hop“, der auf der einen Seite etwas Elaboriertes, Kultiviertes und andererseits etwas Scharfzüngiges, Rhythmisches erwarten lässt. Wobei der Begriff Hip Hop inzwischen auch nur noch mit dem triolischen, approximativen Rhythmisierungs-Stil der letzen 10 Jahre assoziiert wird und einige kritische Stimmen unsere Dreivierteltakt-Rapereien, Old-School Duktus und unsere Art von Parlando nicht als Hip Hop gelten lassen wollen. Wir müssen seit acht Programmen immer wieder neue Begriffe finden, um immer wieder dasselbe zu beschreiben, und neu soll es ja auch noch klingen, sonst wird es nicht gedruckt. Dabei liegt die Neuerung bei uns in den Songs selbst. Die Programme selber sind Nummernprogramme mit rotem Faden. Und die Journalisten lassen einen auch im Stich! Früher konnte man aus den Rezensionen die Formulierungen der Meister der Kulturkritik für den Pressetext übernehmen, heute liegt die Veranstaltungskritik am Boden. Vielerorts muss man froh sein, wenn man überhaupt besprochen wird und dann erledigt das oft genug der Volontär, der gerade mal eine Inhaltsangabe zusammenbekommt. Wenn sich aber doch mal ein Formulierungspapst in unsere Show verirrt, eigene Gedanken zur Show entwickelt und dafür Begriffe findet, darf ich ihn aus urheberrechtlichen Gründen nicht mehr zitieren! Weil in den Verlagshäusern kurzsichtige Betriebswirtschaftler und Anwälte anscheinend mehr zu sagen haben, als die, denen an Pflege und Erhalt unseres wohl weltweit einzigartigen kulturellen Biotops gelegen ist! Jawoll! (Durchatmen). Aber, jetzt du: Finde mir doch bitte mal einen Begriff für unsere Art von Musik! Der Pressetext von Volumen 9 ist irgendwann fällig und muss mindestens ein Jahr vor der Premiere geliefert werden. Ein Jahr vorher weiß ich genauso wenig, was im Programm vorkommt, wie du. Wenn dir nichts einfällt, hätte ich noch eine andere Aufgabe: Ich kenne einen Veranstalter, der mir 1000 Euro dafür geboten hat, wenn ich ihm ein knackiges, werbetaugliches Synonym für den unsäglichen Begriff „Kleinkunst“ bringe. Ich würde mit dir teilen.
DW: Verdammt, so schnell gerät man also in Zug- und Bringezwang. Pass auf, wir machen einen Deal, ein Gentleman’s Agreement, sozusagen: Ich schaue mir noch in den nächsten Tagen euer aktuelles Programm live an, ihr seid damit ja derzeit gut unterwegs (Konzertübersicht: HIER entlang) und werde dann versuchen die Ehre des bundesdeutschen Musikjournalismus zu retten und euch Begrifflichkeiten für ein potentielles Volumen 9 zu liefern – und du übernimmst es dann auch! Okay, ich werde scheitern, denn den Journalismus aus der Jauchegrube zu holen dürfte fast so schwierig sein wie mal eben so das ganze Chanson-Genre zu erneuern. Einen ersten Schritt machen wir hier im Grunde aber bereits, denn bei all den Problemen und Verteufelungen, die auch ich dem Internet zuschreibe: Hier hat man als Musikjournalist die Möglichkeit sich auszutoben, ungeachtet davon wie viele Betriebswirtschaftler und Businessoptimierer – sehr richtige Beobachtung deinerseits! – in anderen Medienanstalten ihr Unwesen treiben. Als Musikchef bei landesweiten Radiosendern hatte ich ja diesen seltsamen Auftrag mich nicht so sehr darum zu kümmern was Leute oberklasse finden könnten, sondern stets nach der Kompromisslösung zu fahnden, den größten gemeinsamen Nenner „herauszuresearchen“. So landet man dann bei den immer gleichen Hits der immer gleichen Musiker, denn finde mal einen Song von z.B. Rod Stewart, den auch Hörer dulden, die Rod Stewart an und für sich total Banane finden. Da gibt es im Grunde nur zwei: „Sailing“ und „Baby Jane“. Bei „Do ya think I’m sexy“ kriegste schon Ärger mit 80 Prozent aller Frauen, sagt Onkel „Research-Tool“, darfste nur selten spielen. Eine durchaus faszinierende Angelegenheit, aber unterm Strich eben auch strunzdämlich schon im Vorhinein vor jenen einknicken zu müssen, die sich eventuell beschweren könnten. Die Angst ums liebe Geld lässt Radiosender aber derart abstruse Zustände von Paranoia ausbilden. Da lobe ich mir unser Achtel Lorbeerblatt zumindest insofern, dass ich mich hier an diejenigen wenden kann, die etwas interessiert. Du hast in unserem Vorgespräch vollkommen zu Recht gefragt, ob denn wirklich noch jemand derart lange Interviews liest. Ich behaupte: Diejenigen, die eure Musik mögen, werden sich dumm und dämlich freuen. Diejenigen, die bisher vielleicht nur euren Namen kennen werden endlich die Chance haben über deine Statements hier zu überlegen, ob sie noch mehr von dir wissen und vor allem hören wollen. Gut möglich, dass da viele nach zwei Antworten abbrechen, ihnen das alles zu viel, zu lang, zu verkopft ist. Aber die wirst du vermutlich eh nie in deinen Konzerten sehen, genauso wenig wie die jemals meine Bücher lesen werden. Und allen anderen, die Pigor schon vorher probiert und für nicht genehm empfunden haben, für die spielt es keine Rolle, ob das Interview kurz oder lang ist, für die ist eh jede Zeile eine Zeile zu viel. Nein, ich halte es da so wie auch du es im Grunde weiter oben für eure Musik sagst: Ich schreibe die Art von Büchern, die ich selbst lesen möchte und mache die Art von Musikjournalismus, die ich gerne vorfinden möchte. Mir schon vorab zu überlegen wie ich Kritiker besänftigen könnte fällt aus.
Apropos Musikjournalismus und Kritiker – ich selbst bin seit einiger Zeit in der Jury der Liederbestenliste. Für mich eine tolle Sache und verantwortungsvolle Aufgabe, allerdings auch so ein „Tool“, das derzeit hart um seinen Platz in der modernen Medien- und Künstlerwelt ringen muss. Wenn ich mit Liedermachern über die Liederbestenliste spreche, treffe ich auf drei Gruppen: die erste verbiegt sich vor Lob, die zweite rümpft die Nase, spricht von Vorbehalten – und die dritte fragt: Liederbesten-was? Häh? Zu welcher dieser drei Gruppen gehörst du?
TP: Na zur zweiten natürlich, weil ich nie unter den ersten Zehn auftauche, aber du hast ja eingangs versucht, eine plausible Ausrede dafür zu finden. Nein, im Ernst: Ich finde solche Orte wie das Lorbeerblatt oder die Liederbestenliste allein schon deswegen gut, weil es da Leute gibt, die sich mit Songs wirklich befassen. Das wertvollste Gut für einen Künstler, und er braucht sie wie die Luft zum Atmen, ist doch die Aufmerksamkeit. Und die wird in Zeiten des medialen Überangebotes knapper und knapper. Selbst im privaten Umfeld ist es für mich nicht leicht, Leute zu finden, die drei, vier Minuten konzentriert zuhören und was zum Song sagen. Viele gucken zwischendrin aufs Handy oder brechen bei der kleinsten Störung ab, man macht während des Vorspielens Kommentare, man respektiert die Einmaligkeit der Situation nicht, und zack ist der wertvolle erste Eindruck kapott. Zum Glück habe ich einige Leute im Umfeld, die auch nach Jahren als Testperson noch neugierig auf das sind, was ich wieder verbrochen habe und mir ihr kostbares Feedback zukommen lassen.
Man muss sich auch klarmachen, was ein Bühnenauftritt heute für eine außergewöhnliche Situation darstellt. Ich formuliere es mal pathetisch: Ich bin meinen Zuschauern dankbar für die Aufmerksamkeit, die sie mir schenken. Dass zweihundert Menschen mir fast zwei Stunden lang freiwillig zuhören, sich auf meinen Quatsch einlassen, ohne auf ihre Handys zu kucken, ohne aufzustehen, ohne draufloszuquatschen, wo gibt’s das heute noch? Und sie zahlen sogar dafür! Wer hat heute noch, außer dem Bühnenkünstler, das Privileg, eine solche Fülle an Aufmerksamkeit genießen zu dürfen? Ein Geschenk, das ich ihnen vergelte, indem ich sie weder mit Werbung belästige, noch sie mit Sicherheitsabfragen und Passwörtern schurigele. Diese Übereinkunft ist keineswegs selbstverständlich, sie ist eine kulturelle Errungenschaft. Es gibt Länder ohne Theaterkultur, da muss man das Publikum übertönen. Es gibt auch Milieus, die einem Bühnenkünstler keine 30 Sekunden Kredit geben, einfach weil sie diese Übereinkunft nicht mehr kennen und sowieso keinen Respekt vor dem Bühnenkünstler haben, wenn er kein Promi ist. Zum Beispiel auf einer Veranstaltung zu spielen, wo nur Fernsehleute eingeladen sind, kann ganz schnell zum Alptraum werden. Da bleibt nur der „Ich-bin-eine-Musik-Box-Modus“ und man hat hoffentlich vorher ein hohes Schmerzensgeld ausgehandelt.
Einfach weil ich weiß, irgendwo da draußen sitzen hunderte von hochkompetenten Musikjournalisten und hören aufmerksam jeden Monat CD für CD und weil ich weiß, irgendwann wird auch unsere dabei sein… Allein wegen der Aufmerksamkeit, der Zeit, die Ihr uns widmet, darf die Liederbestenliste nicht verschwinden, oder?
DW: Das hast du – so pathetisch bin ich auch – wundervoll gesagt. Nein, wirklich, vor allem was du über euer Publikum sagst, da würden viele Genres von träumen. Ich glaube Elton John ist sogar einmal ausgerastet auf der Bühne vor ein, zwei Jahren, weil viele Leute nur noch ihre Handys hochhalten und filmen während seines Konzertes. Anstatt beim Konzert zu sein und ihn live zu erleben bereiten sich diese Menschen also schon während des Konzertes darauf vor sich im Nachhinein am Bildschirm anzusehen, was sie live, obwohl sie da waren, irgendwie verpasst haben. Ziemlich verdreht, im Kleinkunstbereich aber noch nicht anzutreffen. Unsere Lorbeerblatt-Jury, bei der wir monatlich die CD des Monats küren, läuft im Übrigen auch so – die meiste Zeit wird geschwiegen, Lieder werden angemacht und komplett durchgehört. Erst danach wird geredet, ganz selten mal während eines Liedes. Ich gebe zu, da musste ich mich zum Teil auch erst dran gewöhnen, man sitzt im Kreis, Grebe oder Wartke oder eben Pigor läuft – und man beginnt plötzlich wieder ein Feingefühl für die kleinen menschlichen Gesten und Regungen zu entwickeln. Da zuckt während einer Melodie die Braue, da werden während des Refrains die Finger geknetet – was das wohl über das Urteil des Jurors aussagen mag? Eine tolle Erfahrung, allein schon dadurch.
Thomas, wie es bei Interviews nun einmal ist bringt selbst ein schier unendlicher Platz wie hier nicht viel – am Ende hat man das Gefühl alles nur kurz angerissen, nicht ausreichend vertieft zu haben. Da sich aber neulich ein Mann in einem asiatischen Land zu Tode gescrollt haben soll – ja wirklich! – leite ich nun das Konversationsende ein. Und mache das auf die betont fieseste aller Arten, nämlich indem ich Dir das Schlusswort überlasse, das Abschlussplädoyer, gerne auch die Moral von der G’schicht…
TP: Was, es ist schon vorbei? Das ging aber schnell, dabei ist noch lange nicht alles gesagt! Und doch habe ich mehr aus der Schule plaudern können als in den mündlichen Interviews wo mir zu den Fragen: „Wie kommt man auf solche Texte?“ und „Wie seid Ihr eigentlich privat?“ langsam keine Variationen mehr einfallen. Doch, doch, diese Form des Interviews liegt mir, auch wenn sie wesentlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als der Fragenkatalog. Und ich halte es für entschieden spannender, wenn der Interviewer auch etwas von sich selbst preisgibt. Eichhorn und ich haben schon öfter mal versucht, bei Interviews eine Gegenfrage zu stellen, aber das mögen die Journalisten in der Regel gar nicht und leiten schnell zur nächsten Frage auf ihrem Zettel über. Muss jetzt los, noch eine halbe Stunde bis zum Auftritt und spätestens zwanzig Minuten vor Showbeginn ziehe ich mich um und pudere mir die Nase. Toi toi toi für das Achtellorbeerblatt, die Liederbestenliste und die Geschmacksverstärker im Zebrano. Als Schlusswort habe ich mir gedacht: Fortsetzung folgt?