Freunde literarisch-haptischer Blätterware kennen das – uns haftet was borniert Nostalgisches an, wie aus der Zeit gefallen wirkt der Readerverweigerer, der Digitalleugner. Ob die prallvollen und turmhohen Regalreihen meines Lese- und Musikzimmers nicht unfassbare Staubfänger seien wurde ich mal gefragt. Ja, habe ich da gesagt. Und wahres Glück dabei empfunden.
Besser wird das sorgsam aufgebaute “altbackener Typ”-Image im Übrigen auch durch Weihnachten nicht. Ich habe einen gewünschten CD/DVD-Player und einen tattsächlich dringend benötigten schwarzen Bürosesselstuhl mit formidabler Dreh-Kipp-Lift-Funktion bekommen. Ich schätze, ich bin ein bisschen 90er. Das Tamagotchi und die Tic Tac Toe-CD waren nicht dabei, aber ich will nicht gierig sein. Kann ja auch 2021 noch. Bestimmt feiert beides – Spielzeug wie Band – bis dahin ein Comeback, dann wäre ich nicht mehr altbacken, sondern schon wieder retro. Wie funky.
Apropos funky, es ist angerichtet, ich habe gerade mein 75stes und letztes Buch des Jahres 2020 angefangen. Das Beste zum Schluss, das Buch der Bücher zum Finale: den Oblomow. Nun ist übertriebenes Buchgehype ja schon nach einer Lektüre fragwürdig, vor einer solchen erscheint es aber nun vollends Gaga. Das kann ich bedingt erklären, verbindet mich mit dem Oblomow doch eine fast schon tragische Geschichte. Denn das auf dem Foto zu sehende Exemplar ist schon mein drittes, das ich von diesem russischen Wunderwerk aus den späten 1850er-Jahren erworben habe. Zweimal hatte ich es schon,vor Jahren, zweimal habe ich schon über 100 Seiten dieses 750 Seiten-Krachers gelesen – und musste zweimal dann abbrechen, das Buch wo liegen lassen, wo ich in der Folge nicht mehr herankam. Leute, die ein Bein oder einen Arm verlieren kennen dieses Gefühl. Warum ich nicht mehr herankam an meine multiplen Oblomows? Na ja, beim ersten Mal war die Beziehung schneller vorbei als gedacht – und beim zweiten Mal der Job. Ha!
Aus diesen Erfahrungen heraus propagiere ich auch ein Leben, das einen weder gesellschaftsfähig noch berufstätig sein lässt. Gut, den ganzen Tag in der Koje liegen wie der so humorig träg-abeschlaffte Oblomow in diesem Roman, das wäre nun nichts für mich. Dafür bin ich einfach zu energiereich, zu vitamingeladen. Rund um die Uhr abhängen, da würde ich durchdrehen. Ich brauche es einfach einmal die Stunde zur Kaffeemaschine zu schlurfen, meine 4-5 Sender durchzuzappen. Mich ab und an am Rücken zu kratzen, am Ohr zu zuppeln, tiefschürfende philosophische Erkenntnisse wie “Joa, so is’ dat allet!” vor mich hinzubrabbeln.
Ich getriebenes Adrenalinmonster, ich.
Und, mit welchem Buch lasst ihr das Jahr 2020 ausklingen?
Ich beende das Lesejahr mit Esther Kinsky, Hain. Geländeroman. Suhrkamp 2018. Taschenbuchausgabe 2019. Man kann nicht sagen, der Roman “spielt” in Italien. Er kartographiert Italien, und zwar in drei Teilen: Olevano, Chiavenna, Comacheo. Ich halte mich jetzt am Ende von Chiavenna auf: kann ein Ort ein Ende haben? Dead end. Es handelt sich um Erinnerungen einer Tochter an den verstorbenen Vater, der die Familie mit der in den Fünfziger und frühen Sechziger Jahren verbreiteten Sehnsucht nach Italien in die Ferien entführte.
Der erste Teil, Olevano, enthält die Landkarte dazu, oder den Atlas. Also nicht der Proust-Ansatz, unwillkürliche Erinnerung, ausgelöst durch den Duft eines Gebäcks. Die sinnlichen Eindrücke, Vogelrufe, Wolkenbilder, Berge von Orangen werden im Gelände verortet.
Durch die Siedlungen in der Niemandsebene vor Rom fährt die Erzählerin mehr oder weniger achtlos hindurch, um an Orte zu gelangen, die sich über die Ebene erheben. Diese haben aber wenig Erhabenes, sind Nicht-Orte wie Olevano, die gesichtslose Neubausiedlung mit der Fernbusstation hinter dem von einem Tunnel durchstoßenen Bergrücken, das alte Dorf auf einer Anhöhe, auf einer zweiten, noch höher gelegenen, ein einzelnes Haus, in dem die Erzählerin für drei Monate unterkommt, auf der dritten noch höher der Friedhof, akzentuiert von einem Satz Zypressen, dem ein Satz Pinien auf einem Höhenzug in der Ferne zu antworten scheint. Passend das bei Wittgenstein entlehnte Motto: “Hat es Sinn, auf eine Baumgruppe zu zeigen und zu fragen: ‘Verstehst Du, was diese Baumgruppe sagt?’ Im allgemeinen nicht; aber könnte man nicht mit der Anordnung von Bäumen einen Sinn ausdrücken, könnte das nicht eine Geheimsprache sein?”
Nur Kopfgeburten also, mit Kulturhistorischem angereichert? Der Text hat zum Glück nichts Angestrengtes, eher etwas von Sandkastenspielen, auf denen die eigenen Truppenstellungen und die des Gegners umgruppiert werden. Psychomachia. Der Gegner ist der Tod.
Ein Spiel. Auch der Tod hat nichts Erhabenes: Die Wohnblöcke im Neubaugebiet bilden sich auf dem Friedhof in den Fornetti ab, den Fächern aus Betonelementen, in denen die Särge oder Urnen abgestellt werden. An der Stirnwand des Fachs Name und Lebensdaten mit einem Foto des Toten und Halterungen für die Plastikblumen. “Kolumbarien hießen die Wände, erfuhr ich, Taubenschläge für die Seelen, […] in der Alltagssprache ‘fornetti’ […], Backöfen, in die man Sarg oder Urne schiebt.” (22). Die Betonkonstruktion erinnert die Erzählerin an die Andachtsorte in rumänischen Kirchen: links vom Eingang die Nischen, in denen Kerzen für die Lebenden aufgestellt werden können, rechts die Nischen für die Toten. Die Kerze verpflichtet sich zu nichts: Unmittelbar nach dem Sterben kann sie noch brennend von links nach rechts hinübergetragen werden.
Stillstellung der Zeit, Verräumlichung der Geschichte, Stationen der Pandemie: Während des ersten Lockdowns waren die und die Orte gesperrt, während des zweiten wurde der Zugang zu Orten flexibel gehandhabt, dann wieder totale Verbannung ins eigene Heim. In mir wächst die Lust auf eine Schachpartie. Aber woher in diesen Zeiten den Gegenspieler nehmen? Aus dem Internet? Dann lieber kleine Brötchen backen. Und weiterlesen.
…mit Heyse “Menschen und Schicksale”, späte Novellen (around 1905). Meine diesjährige Leseliste wäre eigenartig abwechslungslos: Heyse hoch und Heyse runter, dazwischen Ganghofers “Martinsklause” und Zweitlektüre von Spielhagens spätem kleinen Roman “Herrin”; – und ein bissl Hin-und Herlesen in 2 uralten Westermann-Jahrbüchern. Das war’s.
Aber ich bereue nix. Komplettflucht ins 19.Jh. Hat sich gelohnt.Kann ich empfehlen. Sind viele neue Einblicke entstanden und Querverweise, wer da von wem inspiriert wurde und wen in seinem Werk erwähnt….
Das letzte Mal ging es mir mit dieser Stringenz so Mitte der 70er, als ich im Sofakasten meiner Eltern anderthalb Meter unvollständige Gesamtausgabe Dumas fand.
Guten Rutsch.