David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Meine Bubble und ich. Oder: Und, was lest ihr gerade so? 11. November 2020

Wie viele andere Menschen bin auch ich bollenstolz auf mein aufgeschlossenes, tolerantes, vernunftgesteuertes und stets über alle Tellerränder hinausblickendes Wesen. Woher ich so genau weiß, dass gerade ich über ein solches verfüge, ist dabei schnell erklärt: Ich bilde es mir ein. Muss doch wohl reichen. Schwierig wird es nur, wenn ich in der Stimmung bin mich selbst argumentativ festzunageln. Ich von mir wissen will, wie ich darauf komme, dass gedanklich total eingefahren, einseitig und blödäugig immer nur die anderen sind, nie aber ich selbst. Puh, finde da mal einer eine Antwort. Ich meine, weltfoffen, tolerant und diskussionsbereit ist ja bekanntlich nicht der, der seine Postings eilig mit den hübschesten „ich bin auch einer von den Guten!“-Hashtags garniert. Sondern der, der regelmäßig dahin geht, wo es wehtut. Wohlwissend, dass es aua machen wird im Hirn. Ich kenne Menschen, die geben in den Sozialen Medien gerne kund, welche anderen Menschen sie aufgrund dieser oder jener Denkart oder ihrer Zugehörigkeit zu diesem oder jenem ab jetzt blockieren, sie entfolgen. Ich entfolge dann meistens direkt die, die da ihr eigenes Entfolgen Andersdenkender als vermeintlich anständige Haltung so pompös öffentlich glorifizieren. Und schaue mir erst recht und ganz konkret an, was die schrieben, die da von dieser entfolgungsfreundlichen Person so like-wirksam blockiert wurden. Schlussendlich aber, ich bin halt ein schwacher Geist, landen beide Seiten auf meiner Watch-List, Entfolger gleichermaßen wie Entfolgte, einfach weil ich versuchen will, naja, siehe oben. Gut, einen Punkt haben wir schonmal. Ich blockiere keine Leute, nur weil sie eine andere Partei wählen oder auf der aus meiner Sicht falschen Demo waren.

Was noch? Hm. Oh, ich lese weiterhin Spiegel Online, gelegentlich auch noch die Zeit. Obschon ich weiß, dass diesen Blättern mit Argwohn zu begegnen ist, ich mich dauernd aufrege. Ist einfach so ein Erfahrungswert. Wenn die boulevardeske Headline nur sehr bedingt bis oftmals auch gar nicht zum gut geschriebenen Hauptartikel passen will, dann macht das nun einmal sehr aua. Ich würde nicht gleich sagen, dass, frei nach Fassbinder, Ideologie hier essen Objektivität auf. Würde es aber jemand anders sagen, ich würde ihn nicht, ehm, entfolgen deswegen.

Prima, ich folge fragwürdigen Leuten und lese fragwürdige Postillen. Sonst noch was, womit ich mich klimmzugmäßig über den eigenen Tellerrand gehievt kriege?

Ich lese jährlich meine 60 bis 80 Bücher. Die meisten davon, klar, weil sie in irgendeiner Form „in meine Richtung“ gehen. Ich zwinge mich allerdings auch jährlich dazu, mindestens ein halbes Dutzend Bücher zu lesen, die ich eigentlich nicht lesen würde oder will. #mistrustyourowntaste. Zwei davon habe ich gerade vor Brust, ihr seht sie im Bild. Und nein, das Hemd ist nicht aus den frühen 90er-Jahren noch übrig, verdammt.

„Friedensweide“ von Florian Langbein ist ein Provinzkrimi, der bei dem eher kleinen Verlag Periplaneta herausgekommen ist. Denn wie man es dreht und wendet, a) mag ich keine Krimis oder Thriller und b) bilde ich mir zwar zurecht ein sehr vielfältig interessiert zu sein, lande aber eben in der Regel doch bei den immer gleichen Großverlagen. Nun also ein Krimi von einem kleinen Verlag. Die ersten hundert Seiten sind tatsächlich sehr spannend und haben auch eine hübsche charakterliche Tiefe. Rezension folgt. Auch das Buch einer jungen Selfpublisherin habe ich mir dieser Tage zukommen lassen. Dass mich das Seelenleben junger Menschen interessiert, wäre mir zwar neu – ach, die sollen, hüstel, erst mal in unser Alter kommen, hüstel – aber ich gebe mich einfach mal aufgeschlossen gespannt.

„Testosteron“ ist ein Sachbuch, geschrieben von zwei Frauen und beinhaltet vermutlich irgendwas, was mich und meinesgleichen verdammt schlecht dastehen lässt. Geprägt von eben Spiegel Online befürchte ich natürlich, dass mir da ähnlich lapidare Empörungszeilen en masse entgegensuppen, die dann ebenfalls mit nicht in die Tiefe und auch nicht in die Breite untersuchten Statistiken schwachgestützt werden. So von wegen Genderpaygap bei über 20% und von Frauen regierte Länder kommen besser durch die Corona-Kris, derlei Quark. Den man nur verzapft, wenn man darauf vertraut, dass die Leute anno 2020 zu faul sind, sich Studien und Auswertungen noch selbst anzusehen.

Womit wir abschließend beim wichtigsten Charakterzug des hingebungsvoll über den eigenen Tellerrand Schauenden wären: Naivität. I have a dream – dass der Provinzkrimi von Herrn Langbein die Lust auf spannende Literatur aus Indieverlagen bei mir weckt! Und I have a dream – dass „Testosteron“ das hinbekommt, woran zuvorderst an der eigenen schnellen Mark interessierte und zu populistischer Sprache neigende Polarisierungsspezialist*en/Innen wie Sibylle Berg oder Margarete Stokowski seit jeher scheitern – nämlich dass ich das Buch lese, es zuschlage und denke: Hm. Da ist echt was dran.

Das wäre schon was.

Kommt gut durch den weiteren November – auch wenn ihr kein Hemd habt, das aussieht als sei es aus den frühen 90er-Jahren, obwohl es das gar nicht ist. Ehrlich nicht!

David

3 Kommentare zu “Meine Bubble und ich. Oder: Und, was lest ihr gerade so? 11. November 2020

  1. davidwonschewski
    25. November 2020

    Na, aus der Retro-Welle von 2019 natürlich! Ich war mir noch nie zu blöde, den ein oder anderen kapitalistischen Konsumquark mitzugehen. Natürlich nur aus dem Grund, aus dem alle sowas mitmachen: Grundlagenforschung. man will ja wissen, worüber man intellktuell ablästert.;-))

  2. tala2019
    24. November 2020

    Die spannendste Frage hast du ja gar nicht beantwortet: Von wann ist das Hemd denn nun?

  3. Sybille Lengauer
    19. November 2020

    Die letzten Wochen fast nur das eigene Zeug gelesen, da ein neues Buch für 2021 auf den Weg kommt. „Nebenher“ Phettbergs Nette Leit Show-Die Interviews und als Testleser einen Roman. Man kommt zu nichts.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 24. November 2020 von in Nachrichten, Und, was lest ihr gerade so? und getaggt mit , , , , , , , , , .

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