von Matthias Binner
Dem Lied als kleiner literarischen Form billigte der mit allen dialektischen Wassern gewaschene Peter Hacks den Verzicht auf eben diese Dialektik zu: Ob seiner formalen Kürze dürfe es einen Standpunkt vertreten, ohne dessen Widerrede mitzudenken , es dürfe eine Geschichte erzählen, ohne deren historische Dimension aufzuzeigen, es dürfe eine Meinung haben, ohne Gegenargumente zu widerlegen. (Anlässlich einer Inszenierung seiner Offenbach-Adaption „Die schöne Helena“, die in den 80ern über die Bühne eines Thüringer Theaters ging -und sich damit dem google-Zugriff entzieht).
Holger Saarmanns CD „Gestern ist auch noch ein Tag“ lässt sich als Versuch hören, das Lied in die große, der Dialektik standhaltene literarische Form zu überführen. Die zwölf Titel verweilen nicht brav an vermeintlichen formalen Grenzen, sie dehnen, erweitern und verlassen sie nach Bedarf. Das braucht dann eher fünf als vier Minuten und eher 96 als zwölf Verse, aber nichts an ihnen ist renundant, alles ist kostbar.
Natürlich darf man eine Platte sperrig nennen, die mit einer zwölfstrophigen „Flusswanderung“ beginnt und mit einer siebenstrophigen Wiedergeburts-Beschwörung („Schon mal“) endet – aber man muss nur den Anfang des Openings zum Ende des Finales fügen, um die gedankliche, dichterische Geschlossenheit des Werks zu spüren: „Folge mir in eine Zeit / als noch Namenlosigkeit / die ungezähmten Landschaften regierte“, wirbt Saarmann zu puren Gitarrenklängen und langt eine knappe Stunde später in „ungeheuren Zeiten, in weit entfernten Breiten, die keiner von uns sah,“ an; „Nach all den Existenzen,/ die wir uns schon ergänzen, / entscheide mit Bedacht: / Du brauchst nicht dieses Leben / aufs neue mir zu geben / – nur schenk mir diese Nacht“. Die Wiedergeburts-Beschwörung ist auch eine beachtlich abgefeimte Anmache, die Flußwanderung ist auch eine Trennungsgeschichte – und alles auf dieser Platte ist mehr, als seine Oberfläche es verrät.
Vieles ist brüllend komisch – etwa der Besserwisser, der in „Poet und Zimmermann“ einem Tischler naseweis erklärt, wie man einen Tisch zu bauen hat. Anderes ist elendig traurig: Die Begegnung mit der dementen Mutter in „Vergessen“, etwa, die leeren Kalender-Seiten im Titelsong. Aber genau diese leeren Kalender-Seiten, und das ist Holger Saarmanns Kunst, werden in „Stadtplan“ zum Hoffnungssymbol!
Für den Hörer sind diese ständigen Kippungen, die unvorhergesehenen Wendungen eine Herausforderung – zumal der Interpret Saarmann es nicht für Humor hält, über seine eigenen Witze zu lachen und die Tränendrüse schon beim Schreiben, nicht mehr beim Singen bemüht hat.
Schwer zu sagen, reizvoll zu fragen, wer denn eigentlich im Duell zur „Geisterstunde“ den entscheidenden Treffer macht: Der Schottland-Tourist, der den ihm dort spukenden Zeitgeist auf „Scheiß meist“ reimt und nach „Hui Buh“ verlangt – oder doch der dann konternde Zeitgeist selbst: „Und wenn du mein Geleit dreist / verweigerst, dich gescheit preist / und meinst, dass du gefeit seist: Auch das bewirkt der Zeitgeist!“ Am Liedende reimt sich „Iphone“ auf „zwei von“, so viel sei verraten.
Und hat der die Glühbirnen-„Kartelle“ anprangernde Verschwörungstheoretiker nicht doch recht mit seiner Vermutung, die für die pünktlich zum Garantie-Ende verreckenden Elektor-Schrott Verantwortlichen hätten auch in den Menschen eine Sollbruchstelle eingeschummelt – soll der nicht laut Buch Genesis grundsätzlich mehrere Jahrhunderte halten?
Acht Jahre sind vergangen seit Holger Saarmanns letzter Platte; „Gestern ist auch noch ein Tag“ ist Musik gewordenes Dry-Aged-Beef. Acht Jahre der Arbeit ließen die Lieder so reifen, dass sie Bob Dylan genauso lässig namechecken wie Andreas Gryphius und dem jungen Tom Waits („Vergessen“) und dem mittleren Jacques Brel („Stadtplan“) nicht minder selbstverständlich zuzwinkern als, ach, dem alten Christof Stählin („Geisterstunde“).
Letzterem war allerdings nie eine so gelungene Produktion vergönnt, wie sie Holger Saarmanns Liederbühnenpartner Andreas Albrecht hinbekommen hat: Gesang und Gitarre haben jederzeit den ihnen gebührenden Platz, eine Rhythmusgruppe aus dem Produzenten am Schlagzeug und Bassistin Maike Hilbig (deren unorthodoxe Beiträge einen eigenen Lobes-Absatz verdient hätten) gibt Halt und Schub – und Chanson-Freunde wie Danny Dziuk und Jan Gaensslen (Klavier), Bernard Pascal (Akkordeon) und Merle (Cello) kommen mit Gastgeschenken vorbei.
Das alles klingt aus einem Guss und ruht so in sich, dass sich auch ein ruppiges Keith-Richard-Riff („Kartelle“) oder ein Howard-Carpendale-Gedenk-Chor („Nur für dich“) als selbverständliche Facette eines nicht zu hinterfragenden Ganzen einfügen.
Ein Werk, das Formen, Genres, Zeiten und Stile zu einem nicht zu hinterfragenden Ganzen vereint, nennt man: klassisch. „Gestern ist auch noch ein Tag“ ist heute schon das. Glückwunsch an den Urheber dieser CD – und an ihre Käufer!