von David Wonschewski
Vorabfazit: 3 von 5 Sternen
Nein, leidtun muss einem Robert Menasse mit Sicherheit nicht. Hat er für seinen Roman “Die Hauptstadt” doch immerhin den “Deutschen Buchpreis 2017” eingeheimst. Doch wie es so ist, wenn eine große Ehrung mitsamt sich daran anschließenden Zeitungs- und Fernseh-Portraits der eigentlichen Lektüre vorangehen: die Rezeption des ausgezeichneten Werks fällt ein wenig unfair aus. Derweil ich mich daran gewöhnt habe von mit dem Oscar prämierten Filmen mit schöner Regelmäßigkeit bitter enttäuscht zu werden, erwarte ich bei Literaturpreisen noch immer, dass mich das entsprechende Werk schlichtweg aus den Angeln hebt. Alles unter dem Prädikat “genial” gerät zur Enttäuschung.
Um es vorweg zu sagen: viel mehr als dass “Die Hauptstadt” ein gutes Buch ist, ist es ein wichtiges Buch. Ein sehr wichtiges sogar. Grund genug eine solche Auszeichnung, wie sie der Wiener Menasse nun erhalten hat, zu rechtfertigen, ist ihm doch in der Tat, wie der Suhrkamp Verlag zurecht betont, ein “großer europäischer Roman” gelungen. Mit scharfem Blick unterzieht Menasse die Europäische Kommission in Brüssel einen kritischen Bestandsaufnahme. Seziert sinnlose Bürokratie und Kompetenzgerangel, legt Kleinstaaterei mitsamt hinderlichen nationalistischen Attitüden frei. Es ist das Bild eines großen, zu Phlegma verdammten Behördenungetüms, das Menasse hier zeichnet. Die vielen Schwächen der Europäischen Kommission offenzulegen ohne zugleich nationalistischen Kräften in die Hände zu spielen ist dabei der hochkomplizierte Balanceakt, den Menasse glänzend meistert.
Erzählt wird “Die Hauptstadt” in vielen verschiedenen, parallel ablaufenden Handlungssträngen, die sich immer wieder treffen, um dann wieder auseinander zu driften. Nicht alle werden dabei zu einem konkreten Ende geführt, sondern verlaufen im Sand. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein frei herumlaufendes Schwein, das an unterschiedlichen Orten Brüssels gesichtet wird und das die ganze Stadt über längere Zeit in Atem hält. Dass es sich hierbei um die sprichwörtliche Sau handelt, die durch die Stadt getrieben wird, ist ein naheliegender Schluss, bleibt aber offen. Sämtliche Protagonisten des Romans geraten unfreiwillig in die Nähe des Schweins, ein Thema, dass sich in vielerlei Varianten durch das Buch zieht, beispielsweise in Form des Schweinezüchter-Lobbyisten, der sich am Brüsseler Apparat die Zähne ausbeißt.
Robert Menasse
Soviel Interesse wie für das Thema Schwein wünscht sich die zypriotische Leiterin der Generaldirektion Kultur der EU auch für ihr Ressort, kommt der Kultur doch bei weitem nicht die Beachtung zu wie etwa der Wirtschaft oder der Energie. Eine Jubiläumsfeier zum 50. Jahrestag der Gründung der Europäischen Kommission soll daher nicht nur ihr eigenes Image, sondern auch das ihrer Direktion aufwerten. Nach einer Idee der Festausrichtung wird gesucht und gefunden, doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig durch die Notwendigkeit der Zustimmung auf nationaler Ebene der angeschlossenen Staaten.
Während die EU-Mitarbeiter also an den Planungen feilen, bereitet sich einer der letzten Überlebenden von Auschwitz, der in Brüssel lebt, auf seine letzten Tage vor und ein Kommissar versucht ein vertuschtes Verbrechen aufzudecken, dass in einem zentral gelegenen Hotel Brüssels geschehen ist just an dem Tag, an dem das Schwein durch die Straßen rannte. Robert Menasse greift die losen Fäden der Erzählung auf und führt den Leser unter verschiedenen Berührungspunkten durch den Roman bis hin zu jenem Terroranschlag, der Brüssel im März 2016 erschtterte.
Erzkonservative polnische Untergrundkämpfer, verbitterte alteingesessene Brüsseler, nach dem Prager Frühling nach Wien geflohene Tschechen, britische, immer und überall Sonderrechte einfordernde Upper Class-Schnösel – es sind schon eine Menge Charaktere, die Menasse hier mit einander verbinden will, verbinden muss. Steht die EU als solche doch vor keiner anderen Aufgabe als Menasse, dessen Bemühungen möglichst viele Verknüpfungspunkte herzustellen nur bedingt von Erfolg gekrönt sind. Etwas hilflos vermengt er Anteile von Kriminalgeschichte und Liebesabenteuer, springt zwischen Biografien hin und her, die schlichtweg nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Somit ist die größte Schwäche des Romans vielleicht nicht weniger als das, was auch die größte Schwäche der EU sein dürfte: Weder 450 Seiten, noch 450 Ausschusssitzungen reichen aus all die komplexen Strömungen sinnvoll und kompakt unter einen Hut zu bringen.
Nein, enttäuscht bin ich von “Die Hauptstadt” keinesfalls, der Essayist Menasse versteht es seinen klaren Sprachstil immer wieder mit Geistesblitzen zu versehen und den Brüsseler EU-Wahnsinn mit wenigen Sätzen pointiert zu illustrieren, wie nebenbei auch Geschichtsunterricht zu erteilen. Doch so gut sich der Roman im besten Sinne “wegliest”, so sehr fällt auf, dass eine wirkliche Verbindung zu den vielen Charakteren sich nicht aufbauen will. Da ist eine emotionale Distanz, fast möchte ich von Kälte sprechen, die das Buch selbst in seinen frappierendsten Momenten durchzieht. Ob die von Menasse gewollt ist, bleibt ungewiss.
Über den Autor:
David Wonschewski, Jahrgang 1977, wuchs im Münsterland auf und ist seit 18 Jahren als Musikjournalist für Radio, Print & Online tätig. Als leitender Redakteur gestaltete er viele Jahre das Programm landesweiter Stationen, führte Interviews mit internationalen Künstlern, verfasste knapp 450 Rezensionen sowie PR-Texte für u.a. Reinhard Mey. Er ist Begründer (und nach aktuellem Stand auch Totengräber) des Liedermachermagazins „Ein Achtel Lorbeerblatt“ und saß von 2013 bis 2015 in der Jury der renommierten Liederbestenliste. Sein von der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft empfohlener Debütroman „Schwarzer Frost“ brachte ihm 2013 erste Vergleiche mit Autorengrößen wie David Foster Wallace, Bret Easton Ellis oder eben Thomas Bernhard ein. Der Nachfolger „Geliebter Schmerz“ erschien Anfang 2014, der Roman „Zerteiltes Leid“ wurde im Mai 2015 veröffentlicht.
„Wonschewski zieht alle Register der Vortragskunst bis hin zur schrillen Verzweiflung, die sich in drastischen Stimmlagen widerspiegelt. Ironie, Sarkasmus und Zynismus – der Autor versteht es vortrefflich, diese Stilmittel zu einem höchst amüsanten Cocktail zu mixen.“ (Rainer Nix, „Westfälische Nachrichten“, 10. Juni 2015).
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