David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Misanthropische Platte: Lydia Lunch Retrovirus – Urge To Kill (2015)

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von David Wonschewski

Und so fragen wir uns – welche weiblichen Helden (oder auch Anti-Helden) hat die Punk- und Post Punk-Generation hervorgebracht? Hm? Okay, Blondie. Aber sonst? Okay, okay Siouxsie Sioux. Patti Smith. Aber sonst? Genau: Lydia Lunch. Da es sich bei Urge To Kill um eine Neuinterpretation fast 30 Jahre alter No Wave-Großtaten handelt, erinnern wir uns doch gern: No Wave, das war, lapidar erklärt, das nordamerikanische Pendant zum eher in Großbritannien angesiedelten Post Punk (Joy Division, Magazine, Josef K, Chameleons, Ultravox! u.a.). Das Zentrum dieser musikalischen Bewegung war New York und seine Hochzeit wird allgemein auf den Zeitraum von 1978-1982 taxiert.

Wie der Post Punk entstand also auch No Wave in unmittelbarer Folge zum originären Punk, dessen wüste Methoden und brachiale Botschaften durch vertracktere, mitunter schwer zugängliche Kompositionen ersetzt und mit mehrheitlich destruktiv-beklemmenden Lyrics versehen wurden. Wut, Anspannung und Gereiztheit wurden nicht länger möglichst flegelhaft hinausgepöbelt, sondern möglichst artifiziell hervorgepresst. Bevor es gegen eine etwaige Gesellschaft ging, ging es zunächst einmal gegen sich selbst. Und hatte es beim Punk noch geheißen, dass allzu viel Expertise am Instrument nur hinderlich sei, gelten Post Punk und No Wave bis heute als ein musikalisches Territorium, auf das man sich ohne fundierte Ausbildung kaum wagen kann.

Ja, so war das damals. In etwa. Lydia Lunch darf nun, so viel Form muss sein, nicht nur als größte weibliche Ikone der No Wave-Bewegung angesehen werden, sondern als hervorstechendste Person überhaupt. Speerspitze, gewissermaßen, die maßgeblichen (auch in diversen Kollaborationen Eingang findenden) Einfluss auf Bands wie Sonic Youth, Einstürzende Neubauten oder Nick Cave’s Birthday Party hatte.

Wer kein Lydia Lunch-Album daheim stehen hat, der kennt „Indie“ schlichtweg nicht, so darf an dieser Stelle ein wenig plump behauptet werden. Da überraschend viele Indie-Fans jedoch nicht um diese unumstößliche Feststellung wissen, hat die New Yorkerin für Urge To Kill nun Teile ihrer alten Band reaktiviert. Um, wir erwähnten es, einstige Großtaten in frischem, aber gottlob keineswegs hypermodernen Gewand zu präsentieren. Als Geschmacksanreger und zurück in Erinnerung-Bringer, so ist zu vermuten. Und so gleicht Urge To Kill letzlich einer speziellen Version eines Best Of-Albums, finden sich neben einem Cover des Suicide-Klassikers Frankie Teardrop hier doch Stücke, die man in seinem Besitz haben sollte. Wenn der Elan für die Anschaffung eines ganzen Albums eventuell noch nicht ausreicht. Acht Songs von Queen Of Siam (1980), 13 13 (1982), In Limbo, (1984), Honeymoon In Red und Hysterie (beide 1987).

Ein Sammlerstück für längst überzeugte Genre-Fans. Ein Appetizer für Lunch-Neulinge. Und, tja: Eine unumgängliche Großartigkeit für die Musikhistorie.

So und nicht anders verhält es sich.

Der Text wurde im Original auf der Musikplattform alternativmusik.de veröffentlicht.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 14. Mai 2015 von in Nachrichten und getaggt mit , , , , , , , , .

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