David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Soeben ausgelesen: Joseph Roth – „Hiob“ / 1930

JRothHiobEntstanden in den Jahren 1928/1929, veröffentlicht dann 1930, gehört „Hiob“ neben „Radetzkymarsch“ zu den am meisten gelesenen Büchern von Joseph Roth. Durch mein Studium der modernen hebräischen Literatur (Oz, Yehoshua, Shalev, Agnon, Tammuz) bin ich bereits vor vielen Jahren immer wieder in Kontakt mit Autoren gekommen, die das Leben osteuropäischer Juden innerhalb ihres „Shtetl“ beleuchteten. Der von jüdischem Glauben und jüdischer Tradition geprägte Lebensraum, der immer wieder Bedrohungen von außen unterworfen ist, spielt nun auch in „Hiob“ eine tragende Rolle, beginnt die Geschichte doch im russischen Zarenreich um 1890 – und endet nach dem Ersten Weltkrieg im Exil in New York. Eine nicht nur für jüdische Gemeinden enorm wechselhafte, konfliktreiche Epoche, in deren Verlauf neben den Vereinigten Staaten bekanntlich auch Palästina zum Sehnsuchtsort gerade in Russland und Polen beheimateter Juden wurde. Im Zentrum des Romans steht der glaubensfeste, am Rande des Existenzminimums lebende Toralehrer Mendele Singer, dessen Glaube – ganz nach dem Vorbild Hiobs – durch diverse Schicksalsschläge auf eine harte Probe gestellt wird. Der Zar nimmt ihm die Söhne, die Kosaken verführen ihm die Tochter, er und seine Frau sind der Willkür von Staatsbeamten und Ärzten ausgeliefert. Und zu allem Überfluss wird ihm auch noch ein körperlich und geistig behinderter Sohn, Menuchim, geboren. Roth erzählt in nüchterner – bisweilen bewusst an den Erzählstil der Bibel angelehnter – Sprache von den Zerwürfnissen eines Mannes, der sich, zerrieben zwischen Selbstanspruch und modernen Herausforderungen, nicht nur von seiner Frau und seinen Kindern, sondern auch von sich selbst zunehmend entfernt, zu einem verängstigten, vergrämten und mitunter gar verwirrten Geist wird. Bis er es zum Schluss schließlich sogar wagt Gott zu lästern, sich ihm zu entsagen.

Was besonders gefällt an Roths Roman und seinem Erzählstil ist ein Ansinnen, das zunehmend aus der Mode gekommen zu sein scheint über die Jahrzehnte: Mendele ist weder Held noch Anti-Held, keiner, der sich beständig aufschwingen will hier oder dorthin. Und auch niemand, der sich selbst beständig niedermacht, kein Jammerer, kein zynischer Zeterer. Mendele ist ein Mann, der gar nicht mehr erstrebt als rechtschaffen zu sein. Durchschnitt. Und somit nicht zuletzt auch: Stütze der Gesellschaft. Wie heißt es so schön im Roman: „Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne aufsehenerregenden Erfolg“.

Wer auf der Suche nach frischen Lebenseinsichten ist, der wird aus der Lektüre von „Hiob“ nicht sonderlich viele neue Eindrücke mitnehmen. Das Leben ist hart, es hagelt Niederschläge – wohl dem, dem es gelingt nicht vollkommen abzudrehen, ein halbwegs vernünftiger Zeitgenosse zu bleiben. Dann gibt es gen Ende vielleicht sogar eine kleine Belohnung, für irgendetwas lohnt die ganze Mühsal eben doch. Sehr empfehlenswert ist „Hiob“ dennoch, um einen Einblick in das bereits benannte Leben osteuropäischer Juden zu erhalten, zu verstehen, warum gerade sie die ersten jüdischen Einwanderungswellen in die USA und natürlich Palästina in Gang setzten.

Textauszug

Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude. Er übte den schlichten Beruf eines Lehrers aus. In seinem Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kindern die Kenntnis der Bibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne aufsehenerregenden Erfolg. Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet.

Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht. Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es ganz. Den Mund verdeckte der Bart. Die Augen waren groß, schwarz, träge und halb verhüllt von schweren Lidern. Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden. Der Körper steckte im halblangen, landesüblichen jüdischen Kaftan, dessen Schöße flatterten, wenn Mendel Singer durch die Gasse eilte, und die mit hartem, regelmäßigem Flügelschlag an die Schäfte der hohen Lederstiefel pochten.

Singer schien wenig Zeit zu haben und lauter dringende Ziele. Gewiss war sein Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage. Eine Frau und drei Kinder musste er kleiden und nähren. (Mit einem vierten ging sie schwanger.) Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. Sie hatten kein Gold zu wägen und keine Banknoten zu zählen. Dennoch rann sein Leben stetig dahin, wie ein kleiner, armer Bach zwischen kärglichen Ufern. Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den anbrechenden Tag. Wenn die Sonne unterging, betete er noch einmal. Wenn die ersten Sterne aufsprühten, betete er zum dritten Mal. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte er ein eiliges Gebet mit müden, aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein. Seine Seele war keusch. Er brauchte nichts zu bereuen, und nichts gab es, was er begehrt hätte. Er liebte sein Weib und ergötzte sich an ihrem Fleische. Mit gesundem Hunger verzehrte er schnell seine Mahlzeiten. Seine zwei kleinen Söhne, Jonas und Schemarjah, prügelte er wegen Ungehorsams. Aber das Jüngste, die Tochter Mirjam, liebkoste er häufig. Sie hatte sein schwarzes Haar und seine schwarzen, trägen und sanften Augen. Ihre Glieder waren zart, ihre Gelenke zerbrechlich. Eine junge Gazelle.

Lesen Sie auch: David Wonschewski – „Schwarzer Frost“. Mehr Informationen: HIER.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 20. März 2015 von in Soeben ausgelesen und getaggt mit , , , , , , , , , .

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