David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Wonschewskis Liedermachertipp: Europa im Aufbruch. Johan Meijers „Zeitenwechsel“.

Zeitenwechsel

von David Wonschewski

Wer einen wahrlich horizonterweiternden Einblick in die holde und nicht selten so zwiespältig betrachtete Kunst des “coverns” erhalten möchte, der ist gut beraten sich ausgiebig mit “Zeitenwechsel” zu beschäftigen. Denn das neue – ja, deutschsprachige – Album des Niederländers Johan Meijer zeigt eindrucksvoll wie schon lange kein Werk mehr auf, dass hinter einem Kopieren und Interpretieren eben auch eine Ehrung stehen kann. Und vermeintliche Einfallslosigkeit dann nicht weniger offenbart als einen frischen,  ganz eigenen Quell der Inspiration. Und sogar noch mehr. Sehr viel mehr.
Denn richtig ist zwar, dass Meijer (der vom 4. bis zum 18. Lebensjahr in Deutschland aufwuchs, hier auch zur Schule gegangen ist und sich daher auch als “Kulturdeutscher” bezeichnet) hergegangen ist und sich seine 17 Stücke von anderen Musikern und aus diversen Regionen und Zeiten Europas geholt hat, um sie zusammen mit seiner Frau Diete Oudesluijs ins Deutsche zu übertragen und schließlich frisch einzuspielen. Richtig ist aber auch, dass es sich dabei fast ausnahmslos um  bewegende bis aufrüttelnde Songs handelt, auf die selbst versierte Liedermacherfreunde ohne Meijer kaum jemals gestoßen wären. Und das obwohl die meisten davon mitsamt ihren eigentlichen Erschaffern zum regionalen Kulturkanon diverser Gebiete unseres Kontinents gehören.

Eine unschätzbare Arbeit also, die das Ehepaar hier auf Albumlänge für uns vorgenommen hat. Und die durch das tiefe Musik-, Sprach- aber auch Menschenverständnis der beiden zu etwas Größerem und Wichtigerem wird als etwa nur der Summe seiner auch schon zuvor glänzenden Einzelteile.
“Skipper Klements Morgengesang” beispielsweise entstammt einem dänischen Original, das sich mit dem 1536 hingerichteten Kaufmann und Kapitän Klement Andersen beschäftigt, seines Zeichens Führer des Bauernaufstandes im dänischen Bürgerkrieg. Bauern, Zimmerleut – Jütlands Knechte / Auf in den Kampf für unsere Rechte, so der schlichtweg unentrinnbare Chor-Refrain dieses Stückes, der sogleich aufzeigt worin das Gesamtkonzept von “Zeitenwechsel” besteht: Denn beim Herumstreunen durch Europas Musikgefilde sind Johan Meijer und Diete Oudesluijs zuletzt vor allem Songs in die Ohren gefallen, die allesamt mit einem solchen Zeitenwechsel zu tun haben. Ein Gestank von herrschaftlicher Niedertracht durchwabert seit einigen Jahren Europa. Und mit diesem Gestank – ein leichter Geruch von Aufbruch, von Revolte. Dass Europa in diesen Monaten und Jahren einer epochalen Veränderung bevorsteht dürfte jedem klar sein, der auch nur sporadisch einen Blick in die Tageszeitungen wirft und die Probleme erblickt, mit denen sich junge und mittellose Menschen vor allem – aber längst nicht mehr nur –  in Südeuropa konfrontiert sehen. Exakt diesen vielleicht durchaus prä-revolutionären Zeitgeist mit dem musikalischen Kulturerbe des gesamten Kontinents zu verbinden ist die große Herausforderung, der sich Meijer und Oudesluijs hier gestellt haben.
“Seltsam, dass ‘wir’ uns so schnell an die Wohlfahrtsgesellschaft gewöhnt haben und dass die harten Zeiten, die viele von uns selbst miterlebt haben, so schnell in Vergessenheit geraten sind”, so geben Meijer und Oudesluijs selbst zu Protokoll und legen damit den Finger exakt auf den Punkt, der ihren “Zeitenwechsel” zu einem derart außergewöhnlichen Klangerlebnis werden lässt: Nicht nur, dass sie sich durch ihre hingebungsvolle Liedsuche und die sensibel-versierte Bearbeitung für eine deutsche Zuhörerschaft weit über das Gebiet der Musik hinausbegeben und eine im Grunde schon sozial- und politikhistorische Arbeit abliefern – sie stellen eine Verbindung zwischen den Völkern und Nationen Europas her. Eine Verbindung, die darin besteht, dass Europa nicht immer der friedliche, ja vielleicht gar im Wohlstand weggeduselte Kontinent gewesen ist. Sondern einer, in dem die Menschen für ihre Rechte zu kämpfen hatten. Und es auch taten.

Ja, Geschichte wiederholt sich. Und nicht weniger als genau diese Binsenweisheit wird einmal mehr zum weisen Sinnspruch, wenn wir zum Beispiel das aus der Zeit des Bosnien-Krieges stammende “Papa erzähl nochmal…” hören, ein beschwingtes Stück aus der Feder von Daniel und Ismael Serrano, das von Meijer und Oudesluijs hier jedoch textlich um ein paar aktuelle Schlachtfelder wie Bagdad, Kabul und Damaskus angereichert worden ist. Keiner singt mehr Al Vent/ Spinner mit Idealen gibt’s nicht mehr./ Ein neuer Regen aber fehlt unseren Dreckplätzen so sehr, heißt es in diesem Lied, welches das langsame Versickern sozialromantischer Träume und Utopien beklagt, dessen an und für sich deprimierende Gesamtbotschaft jedoch nicht nur durch diese so herrlich sommerlich und luftig flirrenden Gitarren aufgefangen wird, sondern auch dadurch, dass Meijer im Anschluss an den Song eben genau das macht, was zuvor noch zu bemängeln war: Er singt es. Er singt Al Vent, zu deutsch nun: Der Wind. 1963 veröffentlichte der katalanische Sänger Raimon mit diesem Lied ein Gegenstück zu Cara al Sol, der Hymne der faschistischen Falange. Er selbst, Raimon, hat den Text dieses Songs unter der Franco Diktatur oft nicht singen dürfen, so dass er es bei Auftritten einfach nur spielte, während sein Publikum sang.
Auf diese Weise geht es weiter auf “Zeitenwechsel”, was bedeutet, dass neben musikalischem Lokalkolorit aus fast allen Regionen Europas zwangsläufig – auch durch das sehr informativ gehaltene Booklet – ein kleiner Crashkurs in europäischer Geschichte mitgeliefert wird. Sei es der dräuende und nur oberflächlich entspannt umhermäandernde “Prager Frühling” des Italieners Francesco Guccini oder aber das fast schon in Punk-Attitüde daherkommende “Kapital” der aus Minsk stammenden Band Lyapis Trubetskoy – Meijer, Oudesluijs und ihren helfenden Musikern (von denen vor allem Loek Schrievers an den diversen Saiteninstrumenten wie Gitarre, Mandoline, Dobro und Bouzouki genannt werden muss) gelingt der bewundernswerte Geniestreich Genres, Stile und – wir können es nicht oft genug sagen – Zeiten zu einem einheitlichen Ganzen, einem in sich faszinierend stimmigen Flickenteppich zu verweben. Einem Flickentteppich, der gerade in dieser Einheitlichkeit Hoffnung macht und Verbrüderung schafft. Seien es bei Brassens, de André, Tavernier oder auch “unserer” Dota Kehr entlehnte Stücke – so weit voneinander entfernt, so die Gesamtbotschaft dieser großartigen Platte, als dass wir nicht doch jedes Leid und jedes Klagen unserer Nachbarn und Ahnen direkt verstehen und als auf Unrecht zurückgehenden Menschenwahnsinn begreifen können, sind wir nicht.
Und somit unterstreicht dieser Zeitenwechsel endlich – endlich! – etwas, woran wir doch so vehement zu zweifeln begonnen haben. Nämlich dass Europa doch eins und einig ist. So eins und einig, dass sich alle Songs auf “Zeitenwechsel”, egal von woher oder wann sie stammen, auch hier und jetzt singen lassen. Oder nein, halt: gesungen werden müssen!

In seiner kunstvollen Gesamtaufmachung ein Musikprodukt, von dem lediglich jene die Finger lassen sollten, die nicht über den eigenen Tellerrand wollen und können. Und die es mit politischen Umstürzen eh nicht so haben.

http://www.nederossi.com

Ein Kommentar zu “Wonschewskis Liedermachertipp: Europa im Aufbruch. Johan Meijers „Zeitenwechsel“.

  1. Das macht neugierig….merci:-)

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 20. Juli 2013 von in Nachrichten und getaggt mit , , , , , , , .

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