David Wonschewski | Musikjournalist & Schriftsteller

Melancholisch-sarkastische Literatur für Schwarzhumoriker, Musikenthusiasten und andere glückliche Menschen.

Friss‘ dein Brot, Mopsgesicht! Soeben ausgelesen: Dag Solstad – „Scham und Würde“ (1994)

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von David Wonschewski

Vorabfazit: 4 von 5 Sternen

Dag Solstad ist, das bemerke ich nach und nach,  der Meister der kleinen Momente mit großem Nachhall. Meister der Schilderung belangloser Situationen, die trotz – oder gerade wegen – ihrer schieren Bedeutungslosigkeit alles in einen Abgrund zu stürzen drohen. Und ein Meister der Minigesten, der Nebensätze und Nebensächlichkeiten, auch das ist Solstad. Und somit auch ein Erforscher der unergründlichen und unausweichlichen Lebensniedergeschlagenheit des Menschen.

Auch Elias Rukla, dem Protagonisten in „Scham und Würde“, durchlebt all das, von der Nebensächlichkeit bis hin zur ultimativen Niedergeschlagenheit, an einem einzigen Vormittag. Als Studienrat nimmt er mit seiner Klasse Ibsen durch, so wie er schon all die 25 Jahre seines Berufslebens Klasse für Klasse gemacht hat. Als er die Schüler auffordert, noch einmal zu einer bestimmten Stelle in Ibsens „Wildente“ zu blättern und die Passage zu lesen, lässt ein Schüler ein halblautes Stöhnen, ein nicht allzu vorwurfsvolles Seufzen hören. Eine kurze Unmutsgeste, nichts Ungewöhnliches in einer Schulklasse, Rukla hat es hunderte Male gehört in all den Jahren. Nur ist diesmal alles anders, diesmal steht der besonnene, der ruhige Lehrer eine knappe Stunde später auf dem Schulhof und trampelt laut fluchend auf einem funktionsunfähigen Regenschirm herum. Doch nicht nur das:

„Er war von allen Seiten von Schülern umgeben, lauernden Schülern, stillen Schülern , die ihn anstarrten. Sie sahen ihn mit offenem Mund an, standen regungslos um ihn herum, aber immer noch in respektvollem Abstand. Einige von ihnen hatten Brotbüchsen in der Hand, denn es war mitten in der großen Pause. Wie durch Nebel konnte er die Gesichter derjenigen erkennen, die vorne standen, seltsam deutlich sogar. Ein großes blondes Mädchen sah ihn verblüfft an, wie er feststellte, desgleichen ein paar Jungen aus der Abiturklasse, ihre Gesichter, die lächerlich verdutzt aussahen, machten ihn nur noch wütender. Er starrte das große blonde Mädchen an. Du blöde Fotze! schrie er. Friß dein Brot, du Mopsgesicht! Zugleich packte er den schwarzen, zertrümmerten Schirm und ging mit krummem Rücken auf sie zu.“

Was ist geschehen? Wie konnte es dazu kommen? Oder um mit einem Filmtitel von Fassbinder zu sprechen: Warum läuft Herr R. Amok?  Nun, Amok läuft Rukla nicht, Solstad-Romane sind von fast schon auffälliger Gewaltlosigkeit. Aber er kreist mental aus, für einen kurzen Moment zwar nur, doch ausreichend, um – da ist er sich sicher – seine Berufslaufbahn mit einem Schlag zu beenden. Wie nur soll er es seiner Frau Eva sagen? Wie nur soll er ihr erklären, was da in ihn gefahren ist?

Eva, die er geheiratet hatte, nachdem ihr erster Mann – Ruklas bester Freund – sie und das gemeinsame Kind verlassen, nach New York getürmt war. Eva, die schönste Frau, die er je gesehen hatte, eine Frau so schön, dass wahrhaftig auch andere Männer, die ihre Wege kreuzten, mit offenen Mündern stehen blieben. Eva, die nach dem unerklärlichen Fortgang ihres ersten Mannes einfach bei Elias geblieben war stattdessen:

„Sie war zu ihm gekommen und geblieben. Sie sagte nie, dass sie ihn liebte, aber als er sie gefragt hatte, ob sie bei ihm einziehen wolle, wenn er die größere Wohnung in der Jacob Alls Gate kaufen würde, hatte sie ja gesagt und war gekommen, und als er ihr zwei Jahre später vorschlug zu heiraten, sah sie zu ihm auf, dachte gründlich nach, lächelte ihn an und sagte ja. Sie setzte jedoch hinzu, dass sie Eva Linde bliebe. In dem Moment hatte Elias Rukla gedacht: Ja, sie ist Eva Linde, und ich werde nie erfahren, warum sie mit mir zusammenleben will. Aber es ist ausreichend, dass sie es will, es ist mehr als ausreichend, dass sie es will, auch wenn ich den Grund dafür nie erfahren werde und nicht sicher ist, dass die Gründe die sind, die ich mir wünsche.“

So wie Rukla nicht mehr zur Schule zurückkehren wird, kehrt auch Solstad in seinem Text nicht mehr zur Schule zurück. Nach über vierzig Seiten „Wildenten“-Seziererei folgen 160 restliche Seiten, auf denen Rukla in Erinnerungen schwelgt, sich an seine Studienzeit erinnert, an Parties und wilde Trinkgelage. Und auf denen er zurückdenkt an die Wochen und Monate als er vom besten Familienfreund, gemacht für eine eigene Existenz als ewiger Junggeselle, zu Evas Partner und Camillas Stiefvater wurde. Nicht weniger. Aber eben auch nicht mehr:

„Die Kleine hatte ihm schrecklich leid getan, als sie im Alter von sechs Jahren mit einem Teddy unterm Arm hinter ihrer Mutter hertrippelte, um sich bei ihm niederzulassen. Er ahnte, dass ihr im Leben etwas genommen worden war und dass sich die Sehnsucht nach dem, was ihr genommen worden war, dem Vater, nicht kurieren liess. Und er selbst wollte sie auch nicht kurieren, nicht einmal, wenn er es könnte. Er war Camillas Stiefvater, war an die Stelle ihres Vaters getreten, aber er konnte ihr den Vater nicht ersetzen, denn er war nicht ihr Vater (…) nicht eine Sekunde lang wünschte er sich, Camilla die Sehnsucht nach ihrem Vater zu nehmen, dazu hatte er kein Recht.“

Solstad ist großartig darin kleine und kleinste Zusammenhänge in allen möglichen Varianten zu durchdenken und großräumig auszubreiten, was mancher Leser – ich gehöre dazu – faszinierend findet, da Romane wie „Scham und Würde“ dadurch zu einer selten absurden Mischung aus Psychologie und Sensibilität werden. Lebensparanoia, durchdrungen von Situationspoesie. Andere Leser hingegen wird Solstad schwer abnerven, wie er immer und immer wieder zu der gleichen belanglosen Ausgangssituation zurückkehrt, um einen anderen (und wieder anderen) Deutungsweg einzuschlagen. Einfach keine Ruhe geben kann, einer ist, der sich selbst stalked.

Wirkliche Lösungen, ja überhaupt Handlungen bietet Solstad auch in „Scham und Würde“ nicht an. Und so beendet man das Buch ohne Quintessenz, ohne Pointe, ausgestattet bestenfalls mit der Frage, was zum Teufel Solstad uns mit seinem Werk eigentlich mitteilen will. Genau das aber ist das unique, sehr Lesenswerte an Solstad: Er lässt uns nicht an seinen Antworten, an seinen Erkenntnissen oder gar Weisheiten teilhaben. Sondern an seinen Rätseln, den vielen unentschlüsselten Zusammenhängen eines Lebens. Warum kreist Elias Rukla ausgerechnet an dem Tag aus, an dem ein Schüler seufzt, er Ibsen bespricht, sein Regenschirm sich nicht öffnen lässt? Warum verließ sein bester Freund nicht nur ihn, sondern auch die schönste aller Frauen mitsamt gemeinsamer Tochter? Warum will er – das Thema hat er auch in „T. Singer“ ähnlich handelt – eine Distanz zu seiner Stieftochter Camilla bestehen lassen, warum drängt er gar nicht einmal darauf von Eva ein einziges Mal ein Liebesbekenntnis zu erhalten?

Warum ist Elias Rukla bereit an diesem an und für sich stinknormalen Tag seine Existenz im wahrsten Sinne des Wortes in die Tonne zutreten? Mysteriös und absurd? Irgendwie ja. Irgendwie aber auch nicht, schafft Solstad es doch, seinen Gedanken eine gemeinsame Klammer zu geben. Von der Solstad selbst vermutlich nicht einmal weiß, wie sie aussieht. Derer er aber noch immer habhaft zu werden hofft.

Dag Solstad_(c) Tom Sandberg

Dag Solstad / Foto: © Tom Sandberg

Ein Kulturjournalist tobt sich aus – „Schwarzer Frost“, der bitterböse Debütroman von David Wonschewski. Mehr Informationen zu diesem Buch entnehmen Sie bitte den Seiten dieses schattigen Blogs. Oder aber tummeln sich direkt HIER.

3 Kommentare zu “Friss‘ dein Brot, Mopsgesicht! Soeben ausgelesen: Dag Solstad – „Scham und Würde“ (1994)

  1. Simone Lucia Birkner
    15. Dezember 2019

    Ja, cool! Ich werd’s dir sagen, sobald ich es gelesen hab…😊
    Die Wildente kenne ich tatsächlich gut; auf der Schauspielschule wurde ich mal für die Hedwig besetzt – das kleine Zwölfjährige Mädchen…
    Liebe Grüße zurück!
    Simone

  2. davidwonschewski
    15. Dezember 2019

    Hallo, Simone,
    besten Dank für diese Rückmeldung. Ich kenne die „Wildente“ selbst nicht, ist aber zum Veständnis des Solstad-Buches auch nicht notwendig. Es sei denn man kennt das Stück richtig gut, dann kann man evtl etwas besser bemessen wie interessant oder eben auch nicht interessant ausgerechnet die Stelle ist, an der er sich aufhängt. Ansonsten schätze ich dich schon so ein, dass Solstad was für dich sein wird.

    Viele Grüße in den Süden,
    David

  3. Simone Lucia Birkner
    14. Dezember 2019

    Hey David!
    Was für eine gelungene, ausführliche Besprechung!
    Werde das Buch jetzt auf jeden Fall lesen…
    „die Wildente“ gehört zu meinen Ibsen-Lieblingsstücken, bin gespannt, wie sich das Buch darauf bezieht.
    Liebe Grüße,
    Simone

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